„Der Geschmack der Freiheit“ heißt ihr neues Buch. Was ist Ihnen durch den Kopf geschossen bei diesem Titel, Frau Cohen?
Ha, nicht nur durch den Kopf, auch durch den Magen! (lacht) Für mich war der Titel sofort klar. Eine Geschichte der Kulinarik ist ohne Freiheit nicht vorstellbar. Ich fand es schon immer irritierend, dass bestimmte Begriffe so blutleer verwendet werden, so abstrakt, obwohl sie doch bei uns allen so viele Assoziationen wecken, Erinnerungen, Erlebnisse und natürlich Genüsse, denn sie sind es doch, die uns das Gefühl geben, lebendig zu sein. Freiheit ist so ein Wort. Es genügt nicht, es nur ideengeschichtlich zu betrachten. Da muss mehr einfließen. Freiheit geht eben wie auch die Liebe durch den Magen.
Wie beeinflusste denn die Sehnsucht nach Freiheit auch die Kulinarik?
Neue Ideen rufen auch nach einer neuen Form des Miteinanders, des Austauschs. Bei Tisch kommt man zusammen und wenn die Sinne angeregt werden, setzt das auch Ideen frei. Wie das geschieht, hat auch einen Einfluss auf die Gedanken. Ganz deutlich erkennt man das am Zeitalter der Französischen Revolution. Wenn Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auf die Fahne geschrieben werden, hat das zwangsläufig Konsequenzen für das gemeinsame Speisen. Köche, die vormals in Adelshäusern einem Herrn gedient hatten, machten sich selbständig und eröffneten die ersten Restaurants, wo sie nach eigenem Gutdünken Schalten und Walten konnten – sofern es dem Gast mundete natürlich.
Was war das Besondere an den ersten Restaurants?
Das aufkeimende Bürgertum begnügte sich nicht mehr mit dem, was der Wirt je nach Tageslaune auftischte. Die ersten Restaurants entstanden und damit auch Wahlfreiheit bei Tisch. Speisekarten hielten Einzug, nicht der Stand entschied über den Rang bei Tisch, das erwirtschaftete Geld machte gleich – so die bürgerliche Vorstellunbe. Die Gründer der ersten beiden Restaurants haben übrigens schon den Grundstein gelegt für die die zwei großen Tendenzen, die wir heute beim Essen kennen: Boulanger setzte auf den üppigen Genuss. Er wollte die Geschmacksknospen verwöhnen. Chantoiseau betonte Gesundheitskost. Das ist es ja, was wir auch heute erleben: Schlemmerei oder Diätetik.
Es gibt auch die Qual der Wahl. Im Schlaraffenland fliegen einem die gebratenen Tauben in den Mund. Es fließen Milch und Honig durch die Flussbetten. Größte Tugend ist der Genuss. Ist das ein erstrebenswertes Ziel?
Jetzt bringen Sie mich aber in Versuchung! (schmunzelt). Genuss würde ich nicht unbedingt als ein Ziel beschreiben, sondern als ein inneres Bedürfnis, das allen Menschen gemein ist, universell sozusagen. Es müssen freilich die Rahmenbedingungen stimmen. Wer hungrig ist, für den ist Genuss erstmal nachrangig. Der Magen rebelliert und der Geist macht mit. Ist die Existenzgrundlage gesichert, kann man sich um das Genießen und verfeinerte Genüsse kümmern. Ist Tugend ein Genuss? Ich finde, der Genuss entfaltet sich in einem tugendhaften Rahmen. Weisheit und Mäßigung gehören zum Beispiel dazu. Nichts gegen den Exzess! Da könnt‘ ich schon auch eine Hymne schwingen, aber bitte: Ich hab‘ die Schlaraffenland-Bücher noch vor Augen. So träge möcht‘ ich nicht enden. Allerdings ist das Schlaraffenland ein schönes Gegengift zum Naturcalvinismus und der Selbstkasteiung beim Essen. Fülle und Maß – immer wieder neu austarieren, aber auch ausleben, lautet meine Devise.
Sie sind in Franken geboren und lebten lange in Frankreich. Kann man von kulinarischen Kultur-Clash sprechen, als sie nach Paris kamen?
Clash, das knallt mir zu sehr, das klingt so unversöhnlich und hart. Für mich, die ich in einem kleinen Dorf in Franken aufwuchs, war Paris ein Sehnsuchtsort. Ich war allerdings schon im Alter von zehn Jahren mit meiner Mutter dort. Eine Busfahrt für 99 Mark, zu essen konnten wir uns damals weiß Gott nichts Besonderes leisten, aber wir haben hineingespitzt in die Restaurants, in die Auslagen und ich hab‘ immer fröhlich vor mich hingeträllert „Ganz Paris träumt von der Liebe, denn dort ist sie ja zuhaus“ (lacht). Als ich dann tatsächlich in Paris landete, ging ein Traum für mich in Erfüllung. Ich war verliebt, hatte einen tollen Job, verspürte eine unglaubliche Leichtigkeit. Austern, fabelhafte Croissants, Käsesorten, bei denen mir heute noch das Wasser im Munde zusammenläuft … Ah, quel plaisir! Also für mich war das damals eine Entdeckung, so einfach ist das. Ich hab mich schon immer als Wanderin durch verschiedene Welten und Milieus gesehen.
Sie tauchen auch ein in Kindheitserinnerungen. Inwiefern prägt der Geschmack der Kindheit uns noch heute?
Nichts ist ja so intensiv wie die ersten Genüsse. Das kennen wir alle aus unserem eigenen Erleben, aber auch aus der Literatur. Marcel Prousts berühmte Madeleine aus seinem Epos „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ fällt uns da ein. Die Landschaften der Kindheit entfalten sich beim Genuss dieses Gebäcks. In meinem Fall ist das der herzhafte Biss in einen Apfel von der fränkischen Streuobstwiese. Nicht umsonst habe ich ein ganzes Kapitel dem Apfelmädchen gewidmet. Amüsant auch kürzlich bei einer Lesung in Franken: Eine Kindergartenfreundin war unter den Gästen und beide dachten wir spontan beim Geschmack der Kindheit auch an Taubnesseln. Den süßen Nektar, mit dem wir belohnt wurden, sobald wir die Taubnesseln zwischen den weniger angenehmen Brennnessel ausfindig gemacht hatten. Ein schönes Symbol für Freiheit finde ich.
In Deutschland stehen im Vergleich zu Frankreich lukullische Speisen unter dem Verdacht der Dekadenz. Pflastersteine fliegen schon mal auf Sternerestaurants …
Tja, den richtigen Feind zu wählen, ist so eine Sache! Verzeihung! (atmet tief durch) Nein, ich finde das ziemlich verlogen, wenn man Menschen attackiert, die hart schuften, die oftmals aus Milieus stammen, wo Mangel herrschte, Menschen, die sich einen Traum erfüllen und gemeinsam im Team daran arbeiten. In der Serie „The Bear“ kann man sehen, was es bedeutet, wenn Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft an einem Strang ziehen und sich den Traum vom Sternerestaurant mit Fantasie und Fleiß erfüllen. Die Pflastersteinwerfer würde ich auf die Couch verdonnern und die Serie bingewatchen lassen … oder aber in Paris die Pflasterstein-Trüffelchen – delikate mit feinstem Kako bestäubte Pralinen in Erinnerung an die 68er – von Michel Chaudun verzehren lassen. Das besänftigt vielleicht ein wenig das Gemüt.
Kulinarische Utopien und Dystopien – Sind das Hirngespinste oder haben kulinarische Zukunftsszenarien auch eine gesellschaftliche Funktion?
Oh, ich liebe den Traum, ich liebe es auch, mich mit Utopien und Dystopien zu befassen. Je verrückter, desto besser. Das Leben zimmert einem doch ohnehin das meiste zurecht. Wer sich von Anfang an selbstbeschränkt und immer nur nach dem Fühlen und Meinen der anderen schielt, hat schon verloren. Es braucht den Mut und die Lust am Experiment, um die Kulinarik lebendig zu halten. Wie langweilig wäre unser Essen heute, hätte es nicht Molekularköche gegeben, die Poeten und Wissenschaftler zugleich waren oder so närrische Utopisten wie den Franzosen Charles Fourier oder den Italiener Filippo Tommaso Marinetti. Frühsozialisten oder Futuristen – beides kann in furchtbaren Sackgassen, im Faschismus, im Totalitarismus enden. Aber – das wusste schon August Bebel – in jeder zunächst absonderlich scheinenden Idee steckt auch ein Körnchen Wahrheit, ein Funke, der nicht nur kulinarisch zu zünden vermag. Und das erhoffe ich mir natürlich auch von meinem Buch.
Über die Autorin
Dr. Ute Cohen lebt als Schriftstellerin, Journalistin und Moderatorin in Berlin. Ihre Interviews erscheinen in renommierten Zeitungen und Zeitschriften. Die promovierte Linguistin und Historikerin war viele Jahre in Paris für führende Unternehmensberatungen und eine internationale Organisation tätig. Ihre Romane Satans Spielfeld(2017/2021), Poor Dogs (2020) und Falscher Garten (2022) erschienen im Septime Verlag. Im November 2021 erschien der Gesprächsband Chaos? Hinhören singen mit Ingrid Caven im Kampa Verlag.
Im Juli 2024 erschien „Der Geschmack der Freiheit. Eine Geschichte der Kulinarik“ (Reclam Verlag). Cohen‘s Club ist ihre Veranstaltungsreihe in Berlin.
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