Jens Mecklenburg

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Putins Geist beim Matthiae-Mahl in Hamburg

22. Februar 2024

Blitzlichtgewitter im Hamburger Rathaus: Zum Matthiae-Mahl versammelt sich regelmäßig politische Prominenz aus aller Welt in Hamburg. Als Ehrengäste des ältesten Festmahls der Welt kamen am Dienstagabend Bundeskanzler Olaf Scholz und Estlands Premierministerin Kaja Kallas ins Rathaus. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher empfing die Gäste. Mehr als 400 Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur waren geladen, darunter Vertreter von mehr als 60 Staaten.

Die Einladung von Kaja Kallas sollte auch ein Signal an Russland sein. Russland hatte Estlands Premierministerin und andere hochrangige Politiker aus den baltischen Staaten Anfang vergangener Woche auf eine Fahndungsliste gesetzt. Die russischen Behörden werfen ihnen vor, sowjetische Kriegsdenkmäler demontiert zu haben. Im Sommer 2022 hat Estland die Nachbildung eines Panzers T-34 mit rotem Stern in Narva an der Grenze zu Russland abreißen lassen – gegen vereinzelte Proteste. Kallas sagte damals: „Wir werden Russland nicht die Möglichkeit geben, die Vergangenheit zu benutzen, um den Frieden in Estland zu stören.“

Schon 1994 war ein estnischer Präsident (Lennart Meri) zu Gast beim Matthiae-Mahl und warnte vor russischen Großmachtfantasien. Daraufhin flippte der Vizebürgermeister von Sankt Petersburg im Saal komplett aus. Sein Name: Wladimir Putin.

Es ist so friedlich

Barocke Streichermusik perlt von der Empore hinunter. Gigantische Lüster erleuchten die festlich eingedeckten Tafeln, an denen Männer im Smoking und Frauen im Abendkleid sitzen. Es geht friedlich und zivilisiert auf dem Matthiae-Mahl, dem ältesten Festmahl der Welt zu, veranstaltet seit 1356 im Großen Festsaal des Hamburger Rathauses.

Und meist passiert auch nicht viel. Außer dass die Linke im Vorfeld verlässlich gegen den verschwenderischen Hanseaten-Schmaus wettert.

Nur ein einziges Mal in der bald 700-jährigen Geschichte des Festmahls war wirklich etwas los. Für den Eklat auf dem traditionsreichen Happen-Happening sorgte just der Mann, der derzeit die Welt in Atem hält. Sein Name: Wladimir Wladimirowitsch Putin.

© Roland Magunia

Tobsuchtsanfall

Vor 30 Jahren kannte ihn noch kaum einer. Putin war damals stellvertretender Oberbürgermeister von Sankt Petersburg, der Partnerstadt von Hamburg. Ein aufstrebendes Polit-Talent unter vielen – mit einer sehr, sehr kurzen Zündschnur.

Eine Kostprobe seines schier unbezwingbaren Jähzorns gab Putin an jenem 25. Februar 1994: Zu vorgerückter Stunde flippte der Mann aus Russland einmal plötzlich komplett aus, wie die „Zeit“ damals anschaulich schrieb:

„Die zusammengeknüllte Serviette wird neben den wappengeschmückten Weinpokal gepfeffert, dass die weißen Kerzen flackern. Mit durchgedrückten Knien, einen verächtlichen Blick auf den Gastgeber werfend, so verlässt er den Saal, jeder Schritt begleitet vom Knarzen des Parketts. Raunen folgt ihm. Wer war’s? Was hat denn der?“

Am Ende des Raumes angelangt, riss der russische Vizebürgermeister, so die Wochenzeitung, die schwere Flügeltür auf und donnerte sie hinter sich zu.

Rumms.

Was war passiert? Hatte ihm die Wildententerrine oder der Damwildrücken mit Preiselbeerkruste nicht gemundet? Nein, Putin hatte sich geärgert. Und zwar über den estnischen Präsidenten Lennart Meri, in jenem Jahr Ehrengast des Hamburger Matthiae-Mahls.

Meri, dessen Land sich erst drei Jahre zuvor vom sowjetischen Joch befreit hatte, warnte die rund 400 versammelten Gäste in seiner Festansprache davor, dass die Russen die Vorherrschaft in Osteuropa anstrebten.

Wörtlich sagte der estnische Präsident damals: „Ich möchte Ihnen ganz offen sagen, dass mein Volk und ich mit einer gewissen Sorge beobachten, wie wenig der Westen begreift, was sich derzeit in den Weiten Russlands zusammenbraut.“

Eindringlich wies Lennart Meri auf die Gefahr der russischen Großmachtfantasien hin – und verurteilte die vorherrschende westliche Appeasement-Politik. „Mit diesem Ansatz wird man unwissentlich zum Komplizen der imperialistischen Kräfte in Russland, die glauben, dass sie die immensen Probleme ihres Landes durch Expansion nach außen und durch Bedrohung ihrer Nachbarn lösen können“, so Meri.

Hanseaten löffeln gleichgültig das Dessert

Wie sich 2022 mit der russischen Invasion in die Ukraine auch für den letzten Putinversteher herausgestellt hat, waren die Ängste des estnischen Präsidenten damals vollkommen berechtigt – nur leider hörte ihm kaum einer wirklich zu.

Stattdessen nippte das gehobene Hamburger Bürgertum gleichgültig am Weinglas und verspeiste mit Silberlöffeln das Dessert: Eis-Charlotte an Birnen. Nur einer spitzte die Ohren – und bekam seinen Tobsuchtsanfall, weil er genau wusste, wie zutreffend die Diagnose Meris war.

30 Jahre nach dem legendären Wutausbruch Putins wurde wieder eine estnische Politikerin als Ehrengast zum Matthiae-Mahl eingeladen: Premierministerin Kaja Kallas.

Vehement forderte die Politikerin den Westen auf, die Ukraine weiter zu unterstützen. An die Adresse des ebenfalls anwesenden Bundeskanzlers Olaf Scholz gerichtet, sagte sie: „Lasst uns keine Angst haben vor unserer eigenen Macht.“ Die Menge erstarrt, die blonde Frau lächelt. Auch auf Putins Ausraster 1994 ging sie kurz ein. Just als sie davon erzählte, wie der damalige Sankt Petersburger Vizebürgermeister vor 30 Jahren mit schweren Schritten davongestiefelt sei, polterte im Festsaal mit lautem Krach ein Gegenstand aufs Parkett.

Es war nicht der Geist Putins, sondern nur das Handy eines Journalisten. Dennoch erstarrte die Menge für einen kurzen Augenblick. Die blonde Premierministerin im grünen Kleid lächelte nur – und fuhr fort in ihrer kämpferischen Rede. „Unsere Stärke ist größer als die Russlands.“ Das Festmahl ging friedlich und zivilisiert zu Ende. Das Menü soll Estlands Präsidentin gemundet haben.

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