Erinnern Sie sich noch an den Käse-Igel? An Toast Hawaii? An die mit Fleischsalat gefüllten Tomaten? An das erste Gyros, das Sie gegessen haben? Das erste Sushi? Man ist, was man isst! Was auf unseren Tisch kommt, ist nicht einfach nur das, was uns schmeckt. Vielmehr offenbart es unsere Überzeugungen und unsere Lebenseinstellungen. Die Geschichte der kulinarischen Vorlieben eines Landes ist immer auch seine Mentalitäts- und Sozialgeschichte. Die geistige Verfassung eines Volkes manifestiert sich in der Lebensmittelabteilung, am eigenen Herd und in der Gastronomie. Sage mir, was Du isst und ich sage dir, wer Du bist.
Gleichberechtigung durch Dosenravioli
Gesellschaften ändern sich. Sich verändernde Esssitten ist die unmittelbarste Ausdrucksform jedes Wandels. Es ist kein Zufall, dass mit dem Gleichberechtigungsgesetz 1958 auch die ersten Fertiggerichte wie Ravioli oder Konservengemüse auftauchten. Und mit der aufkommenden Freizeitgesellschaft Häppchen wie Salzstangen und Käsewürfel, natürlich plus Weintraube. In den fünfziger Jahren träumten die Deutschen beim Italiener vom „dolce vita“. Der beginnende Massentourismus nach Italien hatte die Liebe zu Pizza und Spaghetti entfacht. In den Achtzigern bei Döner, Baklava und Gyros zeigte man sich weltoffen und träumte von der glücklichen Multikulti-Gesellschaft. Die Öko-Bewegung hat uns das Müsli beschert (80er Jahre) und die joggende und schlankheitsbesessene Dot-com-Generation läutete in den 90er Jahren die Sushi-Ära ein.

Nichts ist Zufall
Die Verknüpfung von Kulinarik und Zeitgeist kann man gut bei Sushi erkennen. Etwa wenn die Popularisierung von Sushi als Konsequenz aus der rauschhaften Zeit des Neuen Marktes interpretiert. Alles war damals hip und chic und global, Joggen statt Stammtisch, Workout statt Wohlstandswampe lautete die Devise, und Sushi-Platten wurden bei jeder Gründungsfeier eines Start-up aufgetischt. Die Firmen sind mittlerweile fast alle pleite, geblieben ist Sushi, heute in jedem Supermarktregal zu finden. In den 2000er Jahren werden biologische und regionale Produkte zum Mainstream. In den 2010er Jahren ist der Fleischkonsum rückläufig, gelten vegetarische und vegane Küche als angesagt. Die Avocado wird zum Superfood stilisiert und besonders wichtig: Essen muss fotogen und repräsentativ sein.
Woran mag es nur liegen? Kaum ein anderes Volk in Europa reagiert mit solch großen Pendelschlägen seiner Küche auf gesellschaftliche Veränderungen wie wir. In Frankreich, Spanien oder Italien wird viel konservativer gegessen, Coq au vin oder Paella gab es schon vor hundert Jahren und wird es auch in hundert Jahren noch geben. Fast alle deutschen Klassiker der Nachkriegszeit dagegen sind von der Speisekarte verschwunden und wurden durch Adaptionen der Nationalküchen befreundeter Mittelmeerländer ersetzt. Tomate-Mozzarella lässt grüßen.
Einige Klassiker haben überlebt
Doch einige wenige Klassiker haben bis heute dem Zeitgeist getrotzt. Dazu gehören Kartoffel- und Nudelsalat und die Frikadelle als ultimative Partyhäppchen. Die Erfolgsgeschichte des Fleischklops beginnt im 17. Jahrhundert, als angeblich die Hugenotten das Fleischbällchen nach Berlin brachten. Sie nannten es „Boulette“, für „Kügelchen“. Andere Quellen behaupten, die Truppen Napoleons hätten die Bulette erst Anfang des 19. Jahrhunderts an die Spree gebracht. Dabei kannten schon die Römer ähnliche Gerichte aus Innereien. Trotzen wir gelegentlich dem Zeitgeist und halten die zeitlosen Klassiker in Ehren.
