Gin ist heute nicht nur in Großbritannien sprichwörtlich in aller Munde und schwer angesagt. Als sein »Erfinder« gilt der holländische Arzt Franciscus de le Boë, der im 16. Jahrhundert einen Wacholderschnaps namens »Genever« (von holländisch »jeneverbes« für Wacholder) herstellte. Destillate mit Wacholder gab es aber schon im Mittelalter, sie wurden als Medizin unter anderem bei der Bekämpfung von Fieberanfällen eingesetzt. Im 1. Jahrhundert n. Chr. entdeckte Plinius der Ältere die Wirkung von Wacholder. Zur Linderung von Bauchkrämpfen gab er Wacholderzapfen in Weißwein. Im 11. Jahrhundert tüftelten italienische Mönche an ersten Destillationsgeräten für Wacholder und Alkohol herum. Aus der »Medizin« wurde schließlich das Traditionsgetränk der Holländer.
Genever wird zum Gin
Im 16. Jahrhundert war England eng mit Holland verbündet und unterstützte das Land in seinem Krieg gegen Spanien. Aus dieser Zeit stammt auch der Ausdruck »Dutch Courage«. Die holländischen Soldaten stärkten sich vor dem Kampf mit Genever. Auch die in Holland stationierten englischen Soldaten fanden schnell Gefallen am Wacholderbrand und brachten ihn mit nach England. Aus »Genever« wurde »Gin«. Ursprünglich gab es den Schnaps nur in Apotheken als Medizin zu kaufen. Wie damalige Zeitungsberichte schreiben, galt er vor allem als Aphrodisiakum, das »das eheliche Glück wiederbelebt, indem es müde Ehemänner neu entflammen lässt und ältliche, lustlose Frauen in junge, begehrenswerte Wesen verwandelt«. Man entdeckte zunehmend aber auch, dass Gin als Genussmittel taugt. Nachdem der Holländer Wilhelm III. von Oranien-Nassau 1689 den englischen Thron bestiegen hatte, wurden holländische Produkte einschließlich Genever auf einen Schlag sehr beliebt in England. Um Frankreichs Handel zu schädigen, belegte der neue englische Monarch ausländische Alkoholika wie französischen Brandy und Wein mit hohen Steuern und ermunterte seine Untertanen, eigene Destillerien zu gründen. Dafür brauchte es keine Lizenz, und Gin war steuerfrei. Außerdem durfte Gin
nur aus heimischem Getreide gebrannt werden. Das bis dahin beliebte Bier wurde immer stärker besteuert. Auch wollte Wilhelm III. die Nation von ihrer, wie er fand, »schrecklichen Sucht« nach Tee kurieren. Es wurde gebrannt, was das Zeug hielt. Die Qualität war eher fragwürdig, trotzdem stieg der Konsum rapide an. Zur Einschätzung: Der Gin dieser Zeit hatte geschmacklich wenig gemein mit dem milden Gin von heute. Auch ähnelte er kaum dem aus Holland importierten Genever mit seinen rund 30 Vol.-% Alkohol – der raue englische Brand hatte bis zu 80 Vol.-% Alkohol. Was natürlich Folgen hatte. Der Maler William Hogarth brachte sie 1751 in seinem Kupferstich Gin Lane aufs Papier. Zu sehen sind betrunkene Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, kranke und halbtote Menschen sowie Szenen von Streit und Neid. In dem Stich Beer Street stellt Hogarth hingegen eine weitaus gesittetere und menschenfreundlichere Gesellschaft dar. Damit wollte er wohl sagen, dass der Konsum von Bier im Gegensatz zum ruinösen Gin für Ruhe, Ordnung und Anstand sorge. Ruin der Mütter Der Fall von Judith Defour vor dem Krongericht des Londoner Old Bailey schockierte 1734 die Gesellschaft. »Wir brachten das Kind in die Felder, strangulierten es mit einem Leinentuch, damit es nicht mehr schreien konnte, und legten es in einem Graben ab«, so das Geständnis der Frau, die zusammen mit einer Komplizin ihre eigene Tochter ermordet hatte. Den Gerichtsakten zufolge verkaufte sie die Kleidung des Kindes für einen Shilling und vier Pence. Von dem Erlös kaufte sie sich ein Viertel Gin. Ihre Tochter war zwei Jahre alt gewesen, Judith Defour endete am Galgen. Auch wegen dieser Tat hieß das Gebräu bald »Ruin der Mütter«. Schon beim Frühstück tranken Männer und Frauen aller sozialen Schichten Alkohol. Das Königreich versank in einem kollektiven Rausch. Ein Viertel aller Londoner war 1721 in irgendeiner Form an der Produktion von Gin beteiligt, das geht aus offiziellen Steuerdokumenten hervor. 1500 Destillerien gab es allein in London. In einigen Jahren überstieg die Sterberate durch Alkoholmissbrauch die Geburtenrate Londons.
No Gin, no King!
Die Oberschicht machte sich nun ernste Sorgen. Die Insel drohte völlig im Suff unterzugehen. Gin sei die erste moderne Droge gewesen, analysiert Jessica Warner in ihrem Buch Craze über die Gin-Krise. In London, der mit 750.000 Einwohnern damals größten Stadt der Welt, kam es immer häufiger zu Unruhen, die man dem Gin zuschrieb. Der Sozialreformer Henry Fielding schrieb 1751: Eine neue Art von Trunkenheit, die unseren Vorfahren noch unbekannt war, hat uns seit Neuestem befallen, und wenn wir sie nicht aufhalten, wird sie zweifellos einen Großteil der Unterschicht zerstören. Die Trunkenheit, die ich meine, kommt von dem Gift namens Gin.
Es musste also gehandelt werden. Das britische Parlament unternahm acht Anläufe, um die Bevölkerung vom Gin-Trinken wieder abzubringen. Ende der 1720er Jahre wurde die Jahreslizenz im Rahmen des ersten »Gin Act« für den Alkoholverkauf auf 20 Pfund angehoben. Das war das Jahreseinkommen eines Arbeiters. Da der gewünschte Erfolg ausblieb, erließ das Parlament 1733 den
zweiten »Gin Act«. Gin durfte nur noch in Kneipen verkauft werden. Es wurden unzählige Häuser in sogenannte Gin-Shops umgewandelt. Die Orte waren beliebt, die Zahl der Todesopfer infolge übermäßigen Alkoholkonsums stieg weiter an. So versuchte es das Parlament 1736 mit dem dritten »Gin Act«. Die Ginverkaufslizenz wurde auf 50 Pfund angehoben (heutiger Gegenwert: 8000 Pfund). Wer jemanden anzeigte, der Alkohol illegal verkaufte, erhielt eine Belohnung von 5 Pfund. Die »Gin-Spitzel« erfreuten sich aber keiner großen Beliebtheit und wurden häufig angegriffen. Das gesellschaftliche Klima verschlechterte sich zusehends, Gin wurde zwischenzeitlich verboten und in den Untergrund gedrängt. Es nützte nur nichts, die Gin-Abhängigen wurden kreativ: Das Verbot wurde zur Geburtsstunde der »Old Tom Cat«. Der Legende nach wurden in Pubs spezielle KatzenSchilder verbaut. Hinter der erhobenen Pfote war ein Bleirohr versteckt, aus dem eine Portion Gin floss, wenn man zuvor ein Geldstück in einen Schlitz warf. Erst der achte »Gin Act« von 1751 brachte dann den gewünschten Erfolg: Ab sofort brauchte man zum Gin-Brennen Lizenzen, und den Gin-Herstellern wurde untersagt, an nicht lizenzierte Verkäufer zu verkaufen. Es kam zu Unruhen auf den Straßen. »No Gin, no King!«, drohte das aufgebrachte Volk seinem Monarchen. Zum Glück ging die Gin-Epidemie so schnell, wie sie aufgekommen war, auch wieder zu Ende. Die Ernten wurden schlechter, die Steuern auf Gin stiegen, Bier wurde im Verhältnis zu Gin billiger. So besann man sich wieder seiner Bier- und Tee-Kultur.
Ende des 18. Jahrhunderts nahmen die ersten offiziellen Destillerien ihren Betrieb auf. Im Südwesten Englands, in Plymouth, von wo aus die Schiffe der Marine in See stachen, wurde 1697 die Plymouth Distillery gegründet. 1769 startete mit Gordon’s der Hersteller des bis heute meistverkauften Gins in London. 1820 wurde die Chelsea Distillery in Betrieb genommen, heute bekannt als »Beefeater«. Gin gewann wieder an Renommee, auch weil er qualitativ deutlich besser wurde. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Cocktailbücher veröffentlicht. Den ersten schriftlich veröffentlichten Gin-Cocktail findet man im Jahre 1876, die Geburtsstunde des »Tom Collins«. Viele weitere bis heute beliebte Klassiker entstanden. Der Martini-Cocktail, durch James Bond weltberühmt geworden (»gerührt, nicht geschüttelt«), erblickte 1896 erstmalig die Cocktail-Welt. Mit der Cocktail-Kultur fand der Gin Einzug in die gehobene Gastronomie. Vergessen waren die dunklen Zeiten des 18. Jahrhunderts.
Gin & Tonic
Indien war lange Zeit eine englische Kolonie. Die dort stationierten Soldaten wurden reichlich mit Gin aus der Heimat versorgt. Im Gegensatz zum Bier der damaligen Zeit wurde Gin wegen seines hohen Alkoholgehalts während der langen Seefahrt nach Indien nicht schlecht. In dieser Zeit entstand auch die bis heute bekannte englische Biersorte India Pale Ale, die stärker gehopft wurde und einen höheren Alkoholgehalt hatte, damit das Bier während des Transports nicht verdarb. In diese Zeit fiel aber auch die Geburtsstunde des Gin Tonic. Zur
Vorbeugung gegen die Malaria mischten die englischen Besatzungssoldaten den Gin mit chininhaltigen Getränken. Damit das Ganze trinkbarer wurde, gaben sie Soda und Zucker dazu. Der Gin mit Tonic kam gut an und startete seinen Siegeszug durch die Cocktailbars der Welt.