Jens Mecklenburg

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Weihnachten am Nordpol

Für die Klimaforschung im Eis eingeschlossen
27. Dezember 2019

Kurz vor Weihnachten begann die zweite Etappe der einjährigen MOSAiC-Expedition. Auf 86 Grad Nord driftet der Eisbrecher Polarstern gerade mit rund hundert Menschen an Bord durch Kälte und Dunkelheit der Arktis. Ihr Schiff ist dort für ein Jahr im Eis eingeschlossen, es ist die aufwendigste Polarexpedition aller Zeiten.

MOSAIC/AWI © Esther Horvath


Die Kraft der Natur

„Die erste Phase der Expedition war nicht leicht“, berichtet MOSAiC-Expeditionsleiter Prof. Markus Rex vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). „Das Eis ist mit unter einem Meter ungewöhnlich dünn, sehr dynamisch und in ständiger Bewegung. Sehr häufig hatten wir neue Risse und Spalten im Eis oder es bildeten sich mehrere Meter hohe Presseisrücken: Gebirge aus Eis, in denen sich die Schollen durch Druck haushoch übereinander türmen. Die Gewalt dieser krachenden Eisfaltungen zeigt eindrucksvoll die Kraft der Natur, in deren Händen wir uns hier befinden. Die Eisrücken haben auch immer wieder Ausrüstung begraben, welche dann geborgen und mit großem Aufwand neu aufgebaut werden musste, und Risse im Eis stellen eine Gefahr für Mensch und Instrumente dar.“


Insbesondere ein heftiger Sturm mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 100 km/h, der die Expedition Mitte November traf, führte dazu, dass sich die Bereiche des Eiscamps um hunderte Meter gegeneinander verschoben. Zerrissene Stromleitungen und Stromversorgung der Instrumente auf dem Eis mit Notgeneratoren waren die Folge – und auch der 30 Meter hoher Messturm knickte um. Inzwischen ist alles wieder aufgebaut. „Wir haben uns an diese Eisdynamik gut angepasst und konnten praktisch durchgehend die so dringend benötigten Daten aus dieser Region messen. Wir verlassen ein flexibel und modular aufgebautes Forschungscamp, in dem alles funktioniert und misst“, so MOSAiC-Expeditionsleiter Rex, der ab Anfang April dann auch vor Ort die Leitung wieder selbst übernehmen wird.

MOSAIC/AWI © Esther Horvath


Arktische Stürme

Wissenschaftlich gehörte eben jener Sturm zu den bisherigen Höhepunkten der Expedition. Unmittelbar konfrontiert mit diesem wichtigen Element des arktischen Klimasystems konnten die MOSAiC-Wissenschaftler den Einfluss dieser arktischen Stürme erforschen: auf die Wassersäule im Ozean, das Eis, den Schnee und die Atmosphäre. „Noch nie sind die Auswirkungen solcher Stürme auf das arktische Klimasystem so umfassend dokumentiert worden“, sagt Rex.

Wenn nun das jüngst eingetroffene Team der zweiten MOSAiC-Etappe den Staffelstab von seinen Vorgängern übernimmt, ist es ebenso auf Herausforderungen wie wissenschaftliche Höhepunkte eingestellt. „Wir werden vermutlich auch weitere Deformationen des Eises erleben“, sagt Prof. Christian Haas, Meereisgeophysiker am Alfred-Wegener-Institut und Leiter des zweiten MOSAiC-Expeditionsabschnitts. „Wie zunehmender Druck auf das Eis die Dicke erhöht und sich massive Presseisrücken bilden, ist eine unserer Fragestellungen. Besonders gespannt bin ich, ob es weiterhin zu Warmlufteinbrüchen in die Zentralarktis kommt, wie wir sie in den vergangenen Jahren im Dezember und Januar beobachtet haben, und ob diese sogar zu Regen am Nordpol im Winter führen können. Auch in diesem Fall wären die direkten Beobachtungen vor Ort wertvoll“, sagt Haas.

MOSAIC/AWI © Esther Horvath


Übergabe

Während der mehrtägigen Übergabe vor Ort erhielt das neue Team intensive Einweisung in die etablieren Arbeits- und Sicherheitskonzepte – auch im Hinblick auf die Eisbären, die dem Forschungscamp wiederholt Besuche abgestattet hatten. „Eine ganz große Herausforderung ist für uns Neue, dass wir zu einer Scholle kommen, die wir nie bei Tageslicht gesehen haben, und deshalb keine Ahnung haben, wo wir eigentlich stecken“, schildert Christian Haas das Ungewöhnliche bei diesem einzigen Abschnitt, der ausschließlich in der Polarnacht stattfindet. Anders als die Vorgänger konnte sich sein Team nie im Hellen einen Überblick über die Umgebung verschaffen. „Also müssen wir lernen, mit anderen Mitteln als den Augen unsere Umgebung wahrzunehmen“, so der Polarforscher. Dazu kann das Team zum Beispiel auf Hilfsmittel wie Helikopter mit Laserscannern und Infrarotkameras zurückgreifen, die engmaschig über das Eis fliegen, um es zu kartieren.

Der Austausch zwischen den Schiffen bedeutete eine komplexe logistische Operation, bei der teilweise Fracht über das Eis, teilweise mit den Kränen direkt von Schiff zu Schiff befördert wurde. Brisant war dabei die Übergabe kälteempfindlicher Frachtstücke, die bei Temperaturen von fast minus 30 Grad Celsius nicht einfrieren durften.


Schön weihnachtlich 

Mit der neuen Gruppe kam auch Chefkoch Sven Schnieder mit neuem Proviant an Bord. „Seeleute sind sentimental – auch wenn sie es nicht so zeigen“, erklärt Kapitän Stefan Schwarze. Schon seit der Adventszeit seien deswegen die Aufenthaltsräume und die Speiseräume der Polarstern, Messen genannt, geschmückt. „Das ist Tradition. Und Traditionen halten sich in der Seefahrt, selbst wenn sie woanders längst ausgestorben sind.“

Natürlich mussten manche Teilnehmer der Expedition auch an den Feiertagen arbeiten. So müssen Routinejobs wie technische Checks und Datensicherungen bei automatischen Geräten auch an Festtagen erledigt werden. Dann galt es, die beiden Speiseräume für Heiligabend besonders zu schmücken, ebenso den sogenannten Blauen Salon, die gute Stube des Schiffes. Es wurden Tannenbäume aus Plastik aufgestellt, Weihnachtskerzen sind nicht erlaubt. „Das Schlimmste was auf See und erst recht jetzt auf der Drift im Eis passieren kann, ist ein Feuer an Bord“, sagt Kapitän Schwarze.

Gefeiert wurde am Abend im Blauen Salon. Fahrtleiter Haas und Kapitän Schwarze hielten kurze Ansprachen auf Englisch (Haas) beziehungsweise deutsch (Schwarze). Dazu gab es Glühwein, Kekse und Weihnachtsmusik von Chor und Kapelle an Bord. „Die Offiziere erschienen in Uniform, alle anderen im besten Zwirn den sie mithatten“, so Kapitän Schwarze.

Markus Rex (l) Expeditionsleiter MOSAiC und Leg 1 und Christian Haas (r), Expeditionsleiter Leg 2 MOSAIC/AWI © Esther Horvath


Bockwurst und Kartoffelsalat

Auf den Weihnachtstisch kam Traditionelles: „Wir haben Heiligabend, wie wir es aus dem Norden kennen, Bockwurst und Kartoffelsalat serviert“, verrät Chefkoch Schnieder. Und dann gab es die Bescherung. Jeder Expeditionsteilnehmer hatte dafür ein kleines Geschenk von zu Hause mitgebracht und anonym in einen Jutesack gesteckt. Ein verkleideter Weihnachtsmann mit Rauschebart verteilte die Präsente. Anschließend, so ist es auf der Polarstern Tradition, stieg im geschmückten Geräteraum noch eine Christmas Party.

Auch am ersten Feiertag wurde soweit möglich die Arbeit nach Möglichkeit reduziert. Das gemeinsame Feiern sollte das Gemeinschaftsgefühl der Expeditionsteilnehmer steigern, die sich in den kommenden Wochen und Monaten bei den widrigen Bedingungen von Kälte, Sturm und Dunkelheit im wahrsten Sinne des Wortes auch blind aufeinander verlassen müssen.


Gans & Wild 

Nach Bockwurst mit Kartoffelsalat tafelte Küchenchef Schnieder am 1. Weihnachtstag so richtig auf. Es gab als Vorsuppe eine Kürbiscreme Brûlée, dann eine Gänsekeule mit Rotkohl und Klößen und ganz klassisch, ein schönes Sößchen dazu. Als Dessert stand wurde Bratapfelragout mit Vanillesoße aufgetischt. Der zweite Weihnachtsfeiertag wurde dann mit einem Wildgericht genussvoll zelebriert. Zusammensitzen, gut essen, miteinander ins Gespräch kommen. Das war das Polarstern-Programm für die Weihnachtstage. Auf Fernsehen musste allerdings verzichtet werden. Weil sich das Schiff so weit im Norden befindet, gibt es bei der Verbindung mit Kommunikationssatelliten immer wieder Schwierigkeiten. Telefonate brechen nach kurzer Zeit ab, die Übertragungskapazität für Daten ist sehr begrenzt. „Die sozialen Medien lenken hier kaum ab, da außer WhatsApp nichts funktioniert und das auch nur hin und wieder mal“, sagt der bisherige Expeditionsleiter Markus Rex. „Ich glaube wir können uns zu Hause viel von der Weihnachtsfeier auf Expeditionen abgucken.“

MOSAIC/AWI © Esther Horvath


Fakten zur Expedition

Die MOSAiC-Expedition unter Leitung des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) ist verbunden mit noch nie dagewesenen Herausforderungen. Das Budget von MOSAiC beträgt rund 140 Millionen Euro. Im Laufe des Jahres werden etwa 300 Wissenschaftler aus 16 Ländern an Bord sein, 20 Länder beteiligen sich insgesamt an der Mission. Zusammen wollen sie zum ersten Mal das gesamte Klimasystem in der Zentralarktis erforschen. Sie erheben Daten in den fünf Teilbereichen Atmosphäre, Meereis, Ozean, Ökosystem und Biogeochemie, um die Wechselwirkungen zu verstehen, die das arktische Klima und das Leben im Nordpolarmeer prägen.

200 Kilometer ist die Polarstern bislang vorangekommen. Durch den Zick-Zack-Kurs der Drift beträgt die tatsächlich zurückgelegte Strecke 720 Kilometer.

Der Geschwindigkeitsrekord war am 16. November 2019 mit 1,4 Kilometern/Stunde. Die gesamte Driftstrecke an diesem Tag betrug gut 20 Kilometer.

Um bis zu 600 Meter haben sich die einzelnen Forschungsstationen auf dem Eis gegeneinander verschoben.

An 8 Tagen gab es Starkwind von mehr als 15 Meter/Sekunde (54 Kilometer/Stunde). Der stärkste Sturm war mit bis zu 100 Kilometern/Stunde am 16. November 2019.

An 9 Expeditionstagen kam es zu Eisbärsichtungen, darunter einzelne Bären sowie Bärenmütter mit ein oder zwei Jungtieren.

Etwa ein halbes Dutzend Mal musste die Scholle aufgrund von Eisbärsichtungen oder einsetzenden Stürmen kurzfristig evakuiert werden. An weiteren Tagen war ein Zugang zum Eis wegen Eisbären oder Sturm von vornherein nicht möglich.

Rund 500 Stunden wurden mit Arbeiten auf dem Eis bislang verbracht.

Die Temperaturen fielen bis auf minus 32 Grad Celsius, der Ozean hat aktuell noch -1,5 °C an der Oberfläche.

Über 5 Kilometer Wege wurden auf dem Eis angelegt.

Knapp 100 Tonnen Ausrüstung bilden das Forschungscamp auf dem Eis.

Es wurden ca. 20 Terabyte Daten gesammelt.

12,7 Tonnen Lebensmittel wurden verbraucht.

125 Bojen, die als autonome Messsysteme Daten direkt per Satellit verschicken, wurden ausgebracht.

Eisbär auf dem Meereis des Arktischen Ozeans. © Mario Hoppmann