Jens Mecklenburg

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Rettet den Bitter-Geschmack

Bitter bringt Wärme, Tiefe und Spannung in unser Essen
19. Januar 2023

Die Hamburger Kochbuchautorin Bettina Matthaei hat ein Buch über Bitter geschrieben. Bitter fasziniert und polarisiert, hat Ecken und Kanten. Es ist ein „erwachsener“ Geschmack der Gegensätze. Ein Gespräch über eine Geschmacksnote, die immer mehr in Vergessenheit gerät.

© Nicole Keller

Wie sind Sie auf das Thema gekommen?

Bettina Matthaei: Tatsächlich kam der Hädecke Verlag mit dem Thema auf mich zu, aber ich habe keine Sekunde gezögert und sofort zugestimmt. Ich liebe Bücher, die ungewöhnlich sind und nicht dem großen Mainstream folgen. Noch lieber schreibe ich solche Bücher, denn ich mag Herausforderungen. ‚Bitter‘ war so gesehen ein sehr ambitioniertes Thema – es hätte tatsächlich von mir sein können.

Die Geschmacksnote „Bitter“ begleitete uns Menschen über Jahrtausende. Warum ist sie heute nicht mehr so gefragt?

BM: Der bittere Geschmack war für unsere Vor-Vor-Vorfahren ein überlebenswichtiges Warnsignal – die entsprechende Pflanze könnte giftig oder zumindest unbekömmlich sein. Nur erfahrene Pflanzenkundler konnten unterscheiden zwischen gesunden Bitterstoffen, z.B. von Kräutern, und wirklich giftigen Pflanzen. Der Geschmack Süß – oft in Verbindung mit der roten Farbe – signalisierte sofort: Reif und Nahrhaft! Sauer – oft verknüpft mit der Farbe Grün – bedeutete entsprechend: Unreif, also noch warten und reifen lassen! Salzig hieß: Wichtig, denn Salz ist essenziell. Und der Geschmack Umami versprach meistens die ebenfalls wichtigen Proteine.

Säuglinge werden durch die süße, proteinreiche und fetthaltige Muttermilch geschmacklich konditioniert. Später kommt noch Salz dazu. Wird dann in der Familie nicht frisch und abwechslungsreich gekocht, bleiben die Kinder und späteren Erwachsenen an diesem Geschmacksprofil hängen. Ein Grund, warum Pizza, Pasta, Pommes, Softdrinks und Süßigkeiten für viele Menschen die Hauptnahrung darstellen.

Warum wird bei Gemüsesorten das Bitter-Aroma herausgezüchtet? Selbst Spargel wird immer lieblicher. Angeblich will die Konsumentin es so. Was sagen Sie dazu, was sind die Gründe?

BM: Weil die meisten Menschen einfach nicht gelernt haben, den bitteren Geschmack zu entdecken. Vermutlich hatten sie als Kind eine unangenehme Erfahrung mit Chicorée oder Grapefruits und machen für den Rest ihres Lebens einen großen Bogen um diese wunderbaren Lebensmittel. Der Geschmack Sauer wird im Lauf der Zeit akzeptiert, besonders wenn man mit viel Zucker dagegen arbeitet, wie bei Eiscreme oder einer Limonade.

© Silvio Knezevic

Was verlieren wir dadurch geschmacklich?

BM: Ganz viel, leider. Nimmt man den bitteren Geschmack aus dem Zusammenspiel an Geschmacksrichtungen heraus, so ist es, als würde Musik nur noch in Dur komponiert werden oder als würde man Bilder ohne die Farbe Blau malen. Bitter bringt Wärme, Tiefe und Spannung an jedes Gericht und lässt sich mit einem Hauch Süße wunderbar ausbalancieren.

Würde man den Geschmack Bitter gänzlich ausschalten, würden die meisten Kräuter und Gewürze automatisch herausfallen, ebenso Sesam, Walnüsse, Oliven, Grünkohl, Rhabarber, Kaffee, Tee und, und, und – der kulinarische Spielraum wäre sehr reduziert.

Dabei kommt es auch darauf an, wie der einzelne Mensch auf den bitteren Geschmack reagiert, denn die Wahrnehmung ist individuell sehr verschieden. Die sogenannten Superschmecker empfinden bereits Brokkoli als unzumutbar bitter, während Normalschmecker lediglich eine fein-herbe Note erkennen.

Ist „Bitter“ als Geschmack noch zu retten oder wird er in Zukunft nur ein paar Gourmets vorbehalten bleiben?

BM: Mittlerweile bedeutet Nahrung nicht nur Sättigung oder Genuss, sondern Lifestyle. Gerichte werden u.a. mit Superfoods angereichert und dienen oft mehr der Gesundheits-Optimierung, als dass sie einem wirklich schmecken. Man postet z.B. den angesagten Powerdrink in den sozialen Medien – und plötzlich tauchen die Bitterstoffe wieder auf. Denn jetzt heißt es: Bitter ist gesund! Bitter regt den Stoffwechsel an! Bitter nimmt den Appetit auf Süßes! Vielleicht ist das die Hintertür, durch die der ungeliebte Geschmack seinen Weg zurück in unsere Ernährung findet.

Ihre Rezepte sind wirklich außergewöhnlich. Was hat Ihnen dabei am meisten Spaß gemacht? Haben Sie Lieblingskombinationen?

BM: Über meine Liebe zu Gewürzen habe ich mich schon früh gerade mit dem bitteren Geschmack beschäftigt, der ein breites Spektrum vom zart-herb bis extrem bitter aufweist.

Am meisten Spaß hat mir das Kapitel „Flüssig-Bitter“ im Buch gemacht. Dazu habe ich an die 40 Bitterstoffe in hochprozentigen Wodka eingelegt und nach einiger Zeit abgeseiht. Dann habe ich sie pur getestet, nach ihrer Bitter-Intensität sortiert und anschließend tropfenweise zu spannenden Flüssig-Gewürzen komponiert, die nicht nur Cocktails, sondern auch Fruchtsäften, Dressings oder

© Christopher Tech / Hans Gerlach

Desserts zu kulinarischen Höhenflügen verhelfen. Ebenso aufregend war meine erste Begegnung mit einer Bittergurke, die selbst meine Bitter-Toleranz auf die Probe stellte – und am Schluss fand ich sie einfach nur wunderbar.

Wenn jemand neu ins Bitter-Thema einsteigen möchte: Was wären Ihre Tipps?

BM: In kleinen Schritten herantasten. Man kann jemanden, der auf Nougat steht, nicht mit einer 100%-Kakaoanteil-Schokolade schockieren. Lieber mit einer Milchschokolade starten, die einen hohen Kakaoanteil hat, dann zu Zartbitter übergehen und so fort. Ebenso muss es auch nicht gleich ein Magenbitter sein. Ein Campari oder Aperol mit Orangensaft ist ein guter Anfang. Und: Selber kochen! Den puren Geschmack ohne Zusätze entdecken, dann entdeckt man irgendwann auch die Lust an Bitter! Oder man schaut mal in mein Buch BITTER: Zu jedem Rezept gibt es einen Text, der die Art und Intensität der herben oder bitteren Zutaten genau beschreibt. So kann man gut mit den Einsteiger-Rezepten beginnen und wird, wie ich hoffe, vom Bitter-Verweigerer zum Bitter-Lover!

Über das Bitter-Buch

Bitter fasziniert und polarisiert, hat Ecken und Kanten. Es ist ein „erwachsener“ Geschmack der Gegensätze. Bittere Zutaten sind nicht nur gesund, sie bringen Spannung ins Essen, Aroma bekommt eine völlig andere Wendung und die gelungenen Kreationen stecken voller Überraschungen. Bettina Matthaei hat sich dieses Themas mit großartigen, neuen Rezepten angenommen. Sie schreibt fundiert über die Grundlagen der Bitterstoffe, ihre Bedeutung für die Geschmacksempfindungen, gibt Tipps für Bitter-Einsteiger und -Fortgeschrittene und ergänzt den kulinarischen Höhenflug mit Ideen für Getränke und selbst gemachten Bitter. Eingeteilt in die Kapitel „Immerbitter“ für alle Tage und Jahreszeiten, „Winter-“ und „Sommerbitter“ mit saisonalen Zutaten gibt es 160 Rezepte für Vorspeisen, Hauptgerichte und Desserts, aber auch für Beilagen & kleine Gerichte, Sirupe & Würzöle, Gremolata, Pesti & Toppings und kleine bittere Köstlichkeiten. Abwechslungsreich, experimentell und zum Teil auch etwas höherprozentig wird es im Kapitel „Flüssig-Bitter“, für das Bettina Matthaei nicht nur ungewöhnliche Drinks mit und ohne Alkohol, sondern auch Rezepturen für diverse Bitter-Essenzen entwickelt hat. BITTER lädt auf eine spannende Geschmacksreise ein.

Bettina Matthaei: BITTER. Hädecke Verlag, HC, 264, 32 Euro.

Über Bettina Matthaei

Die Hamburger Kochbuchautorin Bettina Matthaei hat eine ausgeprägte Leidenschaft für Gewürze. In ihren z.T. preisgekrönten Büchern spielen Gewürze immer eine besondere Rolle und geben ihren Rezepten ihre ganz persönliche Handschrift. Für das Familienunternehmen, die Hamburger Manufaktur 1001 Gewürze, sowie für andere Kunden, bekannte Köche und die gehobene Gastronomie entwickelt sie ausgefallene

Gewürzmischungen. Ihre zahlreichen Reisen in die Gewürzländer der Welt inspirieren sie zu immer neuen Kreationen.

Bei Hädecke sind von ihr auch erschienen: „Im 7. Curryhimmel“, „Chutneys & Relishes“.

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