Nur einen Steinwurf entfernt von Niedersachsen, in Hamburg-Sinstorf, haben Julia und Oliver Wesseloh mit ihrer Kehrwieder Kreativbrauerei eine Heimat gefunden. Der Name ist Programm: Seit 2014 brauen sie hier innovative Biere. Oliver alias Olli Wesseloh gilt als meinungsstarker Brauer, der sagt, was er denkt. Er kämpft für das Natürlichkeitsgebot, das Reinheitsgebot ist für ihn eine Mogelpackung, am Leben gehalten durch die Industriebrauereien. Deshalb hat er den Verein „Deutsche Kreativbrauer“ mitgegründet. Der studierte Braumeister ist umtriebig – und sammelt Preise wie andere Bierdeckel. Er war Bierpersönlichkeit des Jahres, die Ratebeer.com-Community wählte ihn insgesamt siebenmal zum besten Brauer Hamburgs. 2013 wurde er Weltmeister der Biersommeliers. Doch auch seine Biere sind preisgekrönt. Das hopfengestopfte Lager „Prototyp“, das erste Kehrwieder-Bier aus der Flasche, wurde beispielsweise beim Meininger’s International Craft Beer Award mit Platin und zusätzlich als bestes hopfenaromatisches Lager ausgezeichnet. Aber vergessen wir nicht den Shootingstar: das India Pale Ale (IPA) „ü.NN“, das bei den European Beer Stars 2018 mit Gold prämiert wurde. Das Besondere an diesem Bier: Es ist alkoholfrei. Ein alkoholfreies IPA kriegt die Goldmedaille. Das war neu. Weil es ein solches Bier zuvor noch nie gegeben hatte. Bis heute ist das „ü.NN“ das erfolgreichste Bier im Kehrwieder-Sortiment. „Endlich ein Bier ohne Alkohol, das keine Bestrafung ist“, fasst Chefin Julia zusammen. Das Ganze ist eine kleine Revolution. Oder besser Evolution: Dass eine Brauerei mit einem Alkoholfreien die Craft-Beer-Szene aufmischt, das hätte zuvor wohl niemand gedacht. Die Wesselohs sind eben gut für Überraschungen.
„Was für ein geiler Scheiß“
Das mag auch daran liegen, dass Julia und Olli schon weit über den Hamburger Horizont hinaus gesegelt sind. Mit Sack und Pack zogen sie Anfang der 2000er Jahre in die Karibik, 2009 ging es nach Miami. Julia, inzwischen verantwortlich für das Marketing und die Pressearbeit im Unternehmen, arbeitete dort als Journalistin. Olli besuchte als technischer Vertriebsleiter und Berater für einen großen deutschen Anlagenhersteller unterschiedliche Brauereien. Bei einem dieser Besuche drückte man ihm ein India Pale Ale in die Hand. Er probierte – bäm. Fruchtig, bitter, so ganz anders als die Biere, die man in Deutschland trank. „Was für ein geiler Scheiß“, dachte er sich. Das war der Moment, in dem der Grundstein für die eigene Brauerei gelegt wurde. Denn die Liebe zu kreativen Bierstilen und der Wunsch, diese in die Welt, speziell in seine Heimatstadt Hamburg zu tragen, war geboren. 2012 kehrte die inzwischen vierköpfige Familie an die Elbe zurück, die Gründungserklärung für die Kehrwieder Kreativbrauerei hatten sie bereits im Gepäck. Anfangs mietete sich Olli, damals noch mit Unterstützung vom späteren Wildwuchs-Brauwerk-Inhaber Fiete Matthies, in unterschiedlichen Betrieben in Dänemark und Deutschland ein. Zwar gab es bereits eine eigene Brauanlage – eigenhändig aus alten Milchtanks gebastelt –, aber geeignete Immobilien für den Brauereibetrieb waren rar, so
dass sie anfangs auf andere Produktionsorte ausweichen mussten. In Sinstorf wurden sie dann doch fündig – in einer alten Molkerei. Passt. 2020 hat das mittlerweile siebenköpfige Team hier 2000 Hektoliter Bier gebraut. Das kleine Sudhaus platzt aus allen Nähten. Schon länger stehen Expansionspläne und ein Standortwechsel im Raum. Corona hat dem Ganzen vielleicht einen Dämpfer verpasst, aus der Welt sind die Pläne deshalb nicht. Die Ideen für handwerklich gebraute Spitzenbiere gehen Olli und seinem Team eh nie aus. Bestes Beispiel ist die SHIPA-Serie, eine Reihe von Single-Hop India Pale Ales, in der jedes Bier quasi baugleich gebraut ist – bis auf den Hopfen. Der variiert. Wer also schmecken will, welche Aromenvielfalt einzelne Hopfensorten zu bieten haben, sollte sich durch diese SHIPA-Serie probieren. Das ist lehrreich und ziemlich lecker. Auch mit Alkohol.
Kehrwieder Kreativbrauerei
Sinstorfer Kirchweg 74–92
21077 Hamburg
Bier-Podcast-Tipp
HHopcast, der Craft Beer Podcast von Regine Marxen & Stefan Endrigkeit: www.hhopcast.de