Regine Marxen

Journalistin & Bierexpertin

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Die Bierreporterin: Es geht um lebendige Tradition und nicht ums Saufen

18. Februar 2022

Biertraditionen und -feste können Teil einer regionalen Identität sein. Sie können Menschen, das Gestern und Heute zusammenbringen. Im Norden wird das ganz zaghaft wiederentdeckt.  Eine neue monatliche Kolumne unser „Bierreporterin“ Regine Marxen. 


Stärk‘ antrinken, das ist nichts für Schwache. Am Vorabend des 6. Januars trifft man sich in Brauereien und Gaststätten und bechert fleißig Festbier. Für jeden Monat des beginnenden neuen Jahres einen Seidla, so will es die Tradition. Das ist immerhin ein halber Liter – das langfristige Ziel ist Kraft und Gesundheit für die kommenden Monate. Gewagte These, eventuell zu gewagt, deshalb nimmt man es mit der Anzahl der verkosteten Biere heute nicht mehr allzu genau. In Oberfranken liebt man seine Traditionen und sein Bier – aber sich selbst eben auch. Im Idealfall.

Um die 200 Jahre alt soll die Tradition des Stärk antrinken sein, und trotz ungewissen Ursprungs ist sie noch putzmunter. Nun können Sie sich fragen: Was bringt es mir, mir am 5. Januar abends 6 Liter Bier reinzupfeifen? Klingt eher nach Kopfschmerz als nach Kraftspender. Und Sie haben Recht. Bis Sie einmal selbst Stärk angetrunken haben. Dann könnten Sie feststellen, dass das Laune macht. Nicht ob der konsumierten Alkoholmenge, das darf jede:r für sich entscheiden, sondern weil die Veranstaltung Menschen zusammenbringt, ganz selbstverständlich. Sie ist ein Beispiel dafür, wie das Bier Teil der regionalen Identität sein kann. Genauso wie das Oktoberfest oder die feierlichen Bockbieranstiche im November in Franken. Das Bockbier wurde eigentlich von Mönchen zur Fastenzeit eingebraut, weil es so schön nahrhaft war, aber es schmeckt auch ohne Fasten und Religion ganz wunderbar. Kommunikation trifft auf Genuss. Der artet manchmal aus, unschöne Nebenwirkungen können auftreten, da muss man ehrlich sein. Dennoch: Diese Bräuche sind historisch gewachsen, schaffen eine Verbindung zwischen gestern und heute, zwischen Menschen. Sie sind Raum für Innovation und gutes, handwerklich gebrautes Bier. Das ist toll. Das macht Spaß – und funktioniert im Süden Deutschlands besser als im Norden.

Denn hier oben haben wir unsere Biertraditionen schlecht gepflegt. Dabei können wir Norddeutsche auf eine pralle Biervergangenheit zurückschauen. In Hamburg beispielsweise braute man bereits im Mittelalter bestes Weizenbier. Die Bayern tranken damals noch Wein. Das Brauhaus der Hanse wurde die Stadt genannt, sie wurde durch Bier reich. Aber was hilft’s, wenn niemand die Historie am Leben erhält? 

Tatsächlich musste erst die Craft Beer-Welle Hamburg und den Norden erfassen, um das zu ändern. Craft Beer, das klingt so hipp, aber im Grunde geht’s bei dieser Bewegung ja um ganz Bodenständiges. Um handwerklich gebraute Biere, um traditionelle, neu interpretierte Bierstile, auch um Biergeschichte. Mit ihr kamen neue Brauereien, die mit Bierstilen spielten und Verlorenes aus der Kiste der Erinnerungen hervor gruben. Den Senatsbock zum Beispiel. In den 50er Jahren trafen sich gen Ende jeden Jahres fünf Hamburger Brauereien, um gemeinsam ein Bockbier, den Senatsbock, zu brauen. Der dunkle Doppelbock wurde im darauffolgenden Januar bei einem Fassanstich verkostet, es war der Beginn der fünften Jahreszeit und der wurde kräftig gefeiert. Bilder dieser Feiereien zeigen Männer in Anzügen mit schwarzen Zylindern, die an langen Tafeln sitzend sich fröhlich zuprosten. Bis in die 70er Jahre hinein war der Event Teil des Hamburger Kulturlebens. Dann war Pause, bis die bockigen Fünf 2.0 auf der Bildfläche erschienen.

2015 entschlossen sich Block Bräu, das Brauhaus Joh. Albrecht, die Gröninger Privatbrauerei, die Kehrwieder Kreativbrauerei und Ratsherrn, die rund 70 Jahre alte Hamburger Biertradition vom Staub des Vergessens zu befreien. Sogar einen Verein haben sie dafür gegründet. In den letzten sieben Jahren verpassten sie dem Senatsbock einige Upgrades. Das muss so sein. Tradition lebt, sie entwickelt sich. Weniger Zylinder, dafür mehr Frauen. Das ist gut so, das darf noch besser werden! Gebraut wird zudem nicht mehr nur ein Bier. Jede Brauerei kocht ihr eigenes Hopfensüppchen – auf Basis eines gemeinsamen Rezepts, das beispielsweise die Verwendung von fünf bestimmten Braumalzen vorschreibt. Was für ein schicker Twist. Die Macher:innen bringen die Idee der Craft Beer-Bewegung – den Ruf nach Vielfalt – und die Hamburger Biertradition in ein Bierglas. Diese Mischung schmeckt hervorragend und birgt immer wieder Überraschungen.

Die Grenzen des Bierstils werden beim Senatsbock kräftig ausgereizt. Das ÜberQuell serviert in diesem Jahr zum Beispiel einen „SenatsMonk“, der sich an die historischen Trappistenbiere anlehnen will. Auch die Gemeinschaft der bockigen Brauer wächst: 2022 nehmen neun Brauereien teil. 
Ist das nicht begeisterungswürdig? Biertraditionen zu leben ist das eine, sie zu modernisieren und emotional neu aufzuladen, das ist das andere. Der Senatsbock ist auf einem guten Weg, auch Corona hat ihm nicht das Wasser abgraben können. Es steckt viel Mühe und Leidenschaft in diesem Projekt, ihm könnten weitere folgen. Das, finde ich, verdient Applaus.  

Mehr Infos zu den aktuellen Senatsböcken finden Sie unter www.senatsbock.de und hier.

Regine Marxen ist International Beer Sommelière, freie Autorin und Podcasterin aus Hamburg. Zusammen mit Stefan Endrigkeit produziert sie seit 2017 den Craft Beer Podcast „HHopcast“, in dem sie die B(ier)-Promis der Szene vorstellen. 

www.hhopcast.de

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© Ingo Wandmacher