Jens Mecklenburg

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Warum Reisende „das Echte“ erleben wollen

Ein Gespräch über die Sehnsucht nach dem Authentisch
24. Mai 2022

Früher gab es hier noch keine Touristen! Dieser Ort wird bald verloren sein! Solche Sätze hört man auf Reisen häufig. Viele Urlauberinnen und Urlauber suchen das althergebrachte Authentische – aus einer diffusen Sehnsucht nach früher.

Warum das so ist, erklärt der Historiker Valentin Groebner. Der Schweizer Mittelalter-Experte aus Luzern hat sich ausgiebig mit dem Phänomen Geschichtstourismus befasst. Und weiß, warum wir im Urlaub nur allzu gerne in die Vergangenheit reisen.

© MKdW


Welches Bedürfnis steckt hinter dem Vorhaben, sich einen alten, historisch bedeutsamen Ort anzuschauen?

Groebner: Ich glaube, dass die Leute aus ganz unterschiedlichen Gründen in die Ferien fahren. Der häufigste lautet: Es ist ein Ritual, das den eigenen Jahresablauf strukturiert. Und dabei zeigen wir uns selber, wer wir wirklich sein möchten. Davon machen wir dann Bilder und schicken sie an unsere Liebsten – je nach Gusto und Zielgruppe zeigen die uns entweder an der Strandbar oder vor dem Kunstdenkmal.


Liegt es nicht auch daran, dass uns Reiseführer und andere Institutionen den Eindruck vermitteln: Da muss man mal gewesen sein?

Groebner: Kommt auf den Ort und das Programm an, ich würde das nicht verallgemeinern. Aber grundsätzlich folgen wir in unserem Urlaubsritual bestimmten Drehbüchern, und so schrecklich individuell sind die nicht, jedenfalls nicht bei mir.

Wir fahren alle zur selben Zeit mit sehr ähnlichen Wünschen los, und wir haben dabei nicht viel Zeit. Das heißt, wir müssen uns auf das richtig Wichtige konzentrieren, auf die Highlights, auf die ganz besonders tollen Orte, die man eben gesehen haben muss. Und dort treffen wir dann all die anderen Reisenden. Dieses Auswählen hat eine Vorgeschichte, die in die Wirtschaftswunderjahre, ins 19. Jahrhundert oder manchmal sogar noch weiter zurückreicht – zu Goethe, zur Grand Tour, der Bildungsreise der frühen Neuzeit. Auch damals hieß es schon: Das muss man gesehen haben, wenn man dort ist.


Was braucht es, damit ein Tourist einen historischen Ort angemessen würdigen kann? Welches Vorwissen ist nötig?

Groebner: Es gibt viele historische Orte, die nicht besucht werden, weil sie zu abgelegen sind oder zu kompliziert zu erreichen. Die bleiben sozusagen mit ihrer Authentizität allein. Damit wir einen Ort als historisch erleben können, braucht es eine ganze Menge moderne Infrastruktur, und die muss jetzt, im 21. Jahrhundert, funktionieren, sonst kommt dort keiner hin. Ich meine damit nicht nur Straßen, Parkplätze und Hinweisschilder, sondern auch ein Narrativ, eine Gebrauchsanweisung für den Ort. Denn die Vergangenheit selbst kann man nicht sehen, die ist weg. Was wir sehen, sind Überreste. Und die müssen eben ausgeschildert und erklärt werden.


Gibt es überhaupt noch authentische Orte auf Reisen?

Groebner: Natürlich. An Authentizität herrscht kein Mangel, sie steckt bloß woanders, als wir denken. Das Wort authentis kommt aus dem Griechischen und bedeutet eigenhändig – ursprünglich ging es da um Gewaltverbrechen. Authentisch im Sinne von «echt» wird ab dem 13. Jahrhundert für Reliquien verwendet. «Authentica» waren die von der Kirche vorgeschriebenen Bescheinigungen, dass es sich um den echten Knochen einer echten Heiligen handelte. Aus der Reliquienverehrung ist das Wort im modernen Sprachgebrauch dann zur Chiffre für Echtheit geworden.

©Kai Quedens

Denn wie die Reliquie hat auch das Authentische immer mit Vervielfältigung zu tun. Etwas muss kopiert werden können, damit es überhaupt als authentisch bezeichnet werden kann. Niemand bezeichnet den Mont Blanc als authentisch, dafür ist der zu groß. Authentisch sind die Bilder davon und das Erlebnis. Das Authentische handelt immer vom Besucher, von der Betrachterin, nicht von der Sache selbst.


Wann begann denn die Inszenierung des Authentischen für Besucher, Reisende und noch später Touristen heutiger Art?

Groebner: Ich bin Mittelalter-Historiker, das prägt natürlich meinen Blick: Ab dem 13. Jahrhundert wurde mitten in Europa an vielen Stellen zuerst das Grab Jesu nachgebaut und als Angebot für fromme Pilger vermarktet, dann immer größere Schauplätze aus der Bibel – ganz nach dem Motto: Ihr müsst nicht die Reise über das Meer nach Jerusalem machen, ihr könnt das alles auch ganz in der Nähe besuchen. Der Nutzen für euer Seelenheil ist derselbe, es ist alles originalgetreu, und ihr spart Geld und Zeit.

Diese «sacri monti», heiligen Berge, werden gegen Ende des 15. Jahrhunderts zuerst in Norditalien errichtet und waren damals ein riesiger Erfolg, religiöse Erlebnisparks. Dort konnte man biblische Geschichte live und dreidimensional mit lebensgroßen Figuren erleben, zum Anfassen. Dazu gab es auch passende Unterkünfte. Das Ganze war gewisserweise die erste Pauschalreise in die Vergangenheit, und immer mit der Garantie: So gut wie das Original, eben authentisch.


Hat sich an diesem Prinzip etwas geändert?

Groebner: Wir wollen bis heute im Urlaub das Echte erleben, und das soll uns zu entspannteren, gebildeteren, toleranteren Menschen machen. Das Element der Pilgerfahrt – Veränderung durch die Reise an einen bestimmten Ort – ist nie ganz verloren gegangen. Nur wollen wir heute eben auch noch Wellness und WLAN dazu.


Das Versprechen von authentischen Orten durchzieht den gesamten Tourismus. Warum wird damit so sehr geworben?

Groebner: Weil wir gute theatralische Aufführungen einfach gerne mögen. Tourismus ist eine Fiktion; eine, von der alle wissen, dass es eine Fiktion ist, die aber echte Strukturen erzeugt: eine milliardenschwere Dienstleistungsbranche. Es brauchte ja erst einmal die Industrialisierung und die Eisenbahn, damit die Menschen in eine angeblich ursprüngliche Natur zurück wollten. So begann der Tourismus: mit den Grand Hotels in den Alpen und am Meer. Kein Mensch wollte zur Erholung auf eine Alm oder an einen Strand, bevor wir in Fabriken und Büros gearbeitet haben.


Geht es um die Suche nach einem bestimmten Gefühl?

Groebner: Das Blöde an Gefühlen ist, dass sie schnell wieder weg sind. Das heißt, diese Gefühle müssen fixiert werden. Am besten geht das, wenn wir die Gefühle schon von anderen kennen und reproduzieren können. Deswegen findet Urlaub meistens in Wiederholungsschleifen statt. Man kann das an der schönen Stadt Luzern zeigen, in der ich wohne: Hier besichtigen die Menschen genau dasselbe wie bei der Erfindung des Tourismus vor 170 Jahren. Luzern hat sich sehr verändert, aber die Attraktionen – der Blick auf die Alpen über den See, das Löwendenkmal, die Altstadt – sind exakt dieselben. Das sind sozusagen vorgefertigte Erlebnisse: Die Touristen kommen, schauen sich das an, machen Fotos und fahren wieder.

Michale Ancher: Fischer am Meer an einem Sommerabend © MKdW


Warum haben schon die Reisenden vor 100 Jahren geglaubt, dass die Welt eigentlich früher viel schöner war?

Groebner: Weil es das Erlebnis verstärkt. Wenn ich glaube, dass ich (fast) der Letzte bin, der etwas sieht, dann ist der Eindruck auf mich besonders stark. Der Untergang von Venedig zum Beispiel wird seit der Mitte des 19. Jahrhunderts angekündigt, als John Ruskin sein großes Buch «The Stones of Venice» herausbrachte. Bei Ruskin war es noch die drohende Besetzung durch die habsburgische Armee, die Venedig untergehen lassen würde. Heute sind es der Klimawandel, die Kreuzfahrtschiffe und die Touristenströme. «Besichtigen Sie Venedig, solange es noch da ist»: Dieser Slogan ist tatsächlich sehr alt. Er funktioniert aber nach wie vor. Mich als Historiker macht das auf ironische Weise durchaus optimistisch.


Passt dazu der häufig artikulierte Eindruck, dass auch im eigenen Leben früher das meiste besser war?

Groebner: Was ist denn Urlaub anderes als ein Versprechen auf wiedergegebene Zeit? Ich bekomme etwas wieder, was mir abhandengekommen ist, nicht nur angeblich ursprüngliche Alpen und unberührte Strände, sondern meine eigene Lebenszeit, die ich mit Unlust im Büro verbracht habe. Urlaub ist Reparatur. Vor dem Ersten Weltkrieg war das ein Privileg der reichen Leute – nur die konnten sich das leisten. Dann machten erst die italienischen und dann die deutschen Faschisten Ferien für alle zum politischen Slogan. Seitdem ist der Urlaub eine Art nationales Vorrecht.

Nur ist die Vorstellung, dass Urlaub einem etwas zurückbringt, das man früher gehabt hat, ein Fantasma, ein Wunschbild. Man kriegt nichts zurück, weil die Vergangenheit ja einfach vergangen ist und vergangen bleibt. Wenn es gut läuft, begegnet man etwas Neuem – aber geschieht das wirklich nur im Urlaub?


Warum suchen wir das Authentische in der Regel in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart?

Groebner: Weil wir Kulturpessimisten sind – das schöne Echte ist im Zweifelsfall eben das von früher, das immer weniger wird. Das ist aber ein Klischee, und die Wirklichkeit ist komplizierter. Schon im 19. Jahrhundert besichtigten Touristen auch moderne Gebäude, wenn die nur außergewöhnlich genug waren. Und heute lässt sich ein Ort durch einen spektakulären Neubau sehr wohl zum Touristenziel machen.


Sollten wir aufhören, nach dem Authentischen zu suchen?

Groebner: Wer das möchte, kann das gerne weiter tun. Nur beruht diese Suche auf einer Art Kontrollfantasie durch Planung – wenn ich mich perfekt vorbereite, wird es klappen. Blöderweise beruht jeder solche Plan immer auf der Vergangenheit, also auf dem, was anderen Leuten früher geglückt ist. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, wirft das dieses Drehbuch sofort über den Haufen. Planung kann ja von nichts anderem handeln als von früher, und das verspricht Sicherheit.


Ist das nicht ein Plädoyer für das Reisen der Backpacker, die sich nur ein Flugticket kaufen und sonst nichts planen?

Groebner: Tun die das wirklich – ohne Reiseführer? Um so unterwegs zu sein, braucht man ziemlich viel Geld und vor allem sehr viel Zeit, und Reisen an Orte ganz ohne Touristen können sehr ungemütlich sein. Deswegen machen das auch nur vergleichsweise wenige Menschen, in besonderen biografischen Situationen. – Und keine gestressten Fünfzigjährigen wie ich.

Literatur: Valentin Groebner: «Retroland – Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen», S. Fischer, 224 Seiten, 20,00 Euro.