Gabriele Haefs

Autorin

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Lebensideal hygge

Wie ein Wort die Welt erobert
19. Februar 2024

Es ist noch gar nicht lange her, da sagte hin und wieder jemand, gemütlich sei doch so ein schönes Wort, so was hätten sie in anderen Sprachen nicht. Und wenn man dann widersprach, andere Sprachen hätten eben etwas anderes, gezellig auf Niederländisch, acolhedor auf Portugiesisch, die Liste ließe sich noch ziemlich lange fortsetzen, erntete man höchstens einen verächtlichen Blick, weil man ja nun gar keinen Sinn für echte Gemütlichkeit habe. Fast wirken diese alten Zeiten jetzt paradiesisch, seitdem das Wort hygge überall herumgebrüllt wird und als neues Lebensideal gilt. 

Macht es euch gemütlich 

Hygge, das ist Dänisch, immerhin, das hat sich herumgesprochen, obwohl von Deutschland aus gesehen ja so gern alles im Norden unter dem Sammelbegriff „skandinavisch“ zusammengefasst wird. Aber schwedisch und hygge, das geht irgendwie nicht. Schweden ist Ikea, und Ikea ist unbegreifliche Bauanleitungen und endloses Anstehen an der Ausgabe für Kanelbullar, nein, hygge geht anders. Auf Norwegisch gibt es das Wort hygge auch, aber das dringt nicht so recht ins allgemeine Bewusstsein durch, Norwegen sind die Wikinger, die hyggen sich nicht. Sie hyggen sich nicht, ganz richtig, es gibt nämlich auf Dänisch und Norwegisch allerlei schöne Ableitungen dieses Wortes. Hygge, als Substantiv, ist eben so ungefähr die Gemütlichkeit, die Angewohnheit, die Seele baumeln zu lassen, fünf gerade sein zu lassen. Hyggelig ist das Adjektiv dazu, und hygge sig, das bedeutet, sich hyggen eben, es sich gemütlich machen. Im Norwegischen gibt es übrigens das Synonym kose seg, mit kos als Substantiv und koselig als Adjektiv, Norwegen wäre dann gleichsam doppelt hyggelig, aber die Dänen haben die Marktlücke zuerst gefunden und sind nun die Weltmeister im hyggen.


Hygge-Boom

Der neue Hygge-Boom ist zu verdanken dem dänischen Volkskundler Jeppe Linnet, der angeblich nur seinen Landsleuten auf die Finger schauen wollte, weil die seiner Ansicht nach das Hyggen bisweilen übertreiben. Übertrieben sei es, auf jeden Fall verbindlich und friedlich zu bleiben, lieber nicht über Politik zu sprechen, und wenn die Dansk Folkeparti dafür sorgt, dass die Grenzen dicht gemacht werden, lieber noch ein Smørrebrød und einen Gammel Dansk bestellen, man kann ja doch nichts ändern, und dann ist es immerhin besser, es hyggelig zu haben. Dass sein Buch zum Thema nun ein internationaler Erfolg wurde und in der englischsprachigen Welt als Aufruf aufgefasst wird, sich jetzt gefälligst auch mal so richtig zu hyggen, das sei nicht sein Plan gewesen, sagt Forscher Linnet. Dabei lächelt es so schelmisch, wie nur ein hyggeliger Däne das kann. Die Frage zu stellen, ob er vorher gar nicht überlegt hat, wie er einen Beststeller schreiben könnte, wäre nun wahrlich überaus unhyggelig.

© Niclas Jessen / VisitDenmark

Aber im Großen Etymologischen Wörterbuch der dänischen Sprache zu schmökern, kann überaus hyggelig sein, und da erfahren wir allerlei über unser neues Lieblingswort. Hygge bedeutete ursprünglich trösten, Mut geben. Es kommt vom Altnordischen hyggja, denken, ist verwandt mit dem Gotischen hugja, und dem Althochdeutschen huggen, die ebenfalls denken bedeuten, aber auch mit dem Altnordischen hugr, Mut. Und das sind nur einige der hier aufgeführten Verwandten. Das norwegische koselig wird im Etymologischen Wörterbuch auch erwähnt, und so erfahren wir, daß es eine wirklich charmante Herkunft hat. Es ist verwandt mit dem Deutschen liebkosen, nicht aber mit „Kost“ oder dem Althochdeutschen kósa, Streit (vom Lateinischen causa). Eine Verwandtschaft mit dem Sanskritwort guspitá ist nachweisbar, und guspitá bedeutet verwirrt. Bei so viel Verwandtschaft, die das Wörterbuch anführt, kein Wunder.

Schweden, wie gesagt, war durch Ikea schon aus dem Wetthyggen ausgeschieden, ehe das überhaupt richtig angefangen hatte. Finnland ist erst recht eine Enttäuschung. Für das Adjektiv hyggelig gibt es nur dürftige Entsprechungen wie „hauska“ oder „mukava“, die aber, sagen finnische Gewährsleute, eigentlich nicht so richtig mithalten können und höchsten „angenehm“ oder „spaßig“ bedeuten. Meillä oli hyvin hauskaa – es war sehr nett/gemütlich; wir haben viel Spaß gehabt. Ansonsten kann man auf Finnisch nur sagen, dass man sich wohlfühlt oder sich amüsiert. Trinken schließlich ist niemals hyggelig, wird uns finnischerseits auseinandergesetzt. Der Satz „jetzt hyggen wir uns mit einem Glas Wein“ könnte auf Finnisch nicht so übertragen werden. Man muss das irgendwie umschreiben. Und Island? Wir fragen den Übersetzer Einar Olafsson, der schon seit Jahren darüber klagt, dass er immer auf dieses verdammte Wort stößt, wenn er dänische und norwegische Bücher übersetzt. Immer hyggen sich die Leute. Und immer muss er sich dann irgendwas aus den Fingern saugen, weil es so ein Wort im Isländischen nicht gibt. „Aber was macht ihr denn, wenn ihr abends aus dem kalten Wind ins Haus kommt, nach getaner Arbeit, und es euch dann schön mit einem Glas Wein am Kamin gemütlich macht?“ – „Dann setzen wir uns schön mit einem Glas Wein an den Kamin. Das ist ja wohl ganz normal! Mit hygge hat das nichts zu tun.“

Wenn das, was in Dänemark hygge heißt und in aller Welt derzeit als neues Lebensideal vermarktet wird, in Island ganz normal und nicht der Rede wert ist, müsste Island doch das hygge-Paradies sein? Müsste, aber Dänemarks Position als Hyggenation scheint derzeit durch nichts zu erschüttern zu sein. Im Grunde jedoch läuft alles auf eins hinaus: Wir kennen es alle, haben es früher gemütlich genannt, jetzt muss es also hygge sein. Ein neuer Name – und schon ist der alte Kram wieder hochaktuell. Was wir daraus lernen? Keine Ahnung, das wird der Kollege Jeppe Linnet hoffentlich in einer neuen Untersuchung ermitteln. 

© Raisfoto

Hippe Dänen stehen auf das Wort gemütlich 

Vollends verwirrend wird die Sache, wenn wir nun  zum großen Etymologischen Wörterbuch des Dänischen zurückkehren, denn am Ende des langen Eintrags zum Wort „hygge“ teilt es mit, das dänische Wort sei abgeleitet vom mittelhochdeutschen hügelich, was „angenehm, erfreulich“ bedeutet habe. Ist es nicht typisch? Wir hatten das Wort und sicher auch die hygge, haben beides leichtfertig den Dänen überlassen und dann vergessen. Oder eigentlich nicht vergessen, sondern einfach nur noch für Gegenden mit vielen Hügeln reserviert, egal, wie gemütlich es dort zugeht. Sagt das nun etwas über die deutsche Unfähigkeit zum Hyggen? Vermutlich eher nicht, sprachgeschichtlich gibt es viele Beispiele dafür, dass von zwei Wörtern mit gleicher Bedeutung eins verschwindet, nämlich das, für das noch ein Synonym existiert. Dann überlebt das Synonym. Aus hügelich wurde hügelig, in der Bedeutung, die das Wort heute hat. Und wir wurden gemütlich, denn dieses Wort gab es auch schon im Mittelhochdeutschen. Das Große Etymologische Wörterbuch der dänischen Sprache teilt übrigens mit, Jahrhunderte lang sei im Dänischen das Wort gemytlig üblich gewesen, als Synonym für hyggelig, mit der Erklärung: übernommen aus dem Deutschen. Und in Dänemark finden wir neuerdings hippe Cafés, die sich Café Gemytlig nennen. Wieso nicht Café Hyggelig, fragen wir eine Betreiberin. Und die entzückende Antwort: „Hyggelig klingt so spießig. Aber gemytlig, da geht man doch gern rein!“

© Thomas Rousing