Ingvar Ambjörnsen

norwegischer Schriftsteller

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Tiefgefrorene Schollen

Mit Elling zu Tisch
3. Juni 2022

Kaufte mir im Supermarkt eine Packung mit zwei Schollenfilets, die waren heruntergesetzt, vielleicht näherte sich irgendein magisches Datum, vielleicht auch nicht, vielleicht sollte nur für neue Ware Platz gemacht werden, ich wusste es nicht, und aus irgendeinem Grund gefiel mir das. Mit lauverpacktem tiefgefrorenen Fisch in der Hand dazustehen und nicht zu wissen, wie die Filialleitung überlegt und argumentiert hatte, als sie, vermutlich mit Unterstützung durch tüchtige Mitarbeiter, beschlossen, diese Zwei-Schollen-Packung um ganze drei Kronen billiger zu machen.

Doch, es war schön, nichts darüber zu wissen, so dass sich sofort die Spekulationen zu Wort meldeten, das geht mir ja häufiger so, und mein erster Gedanke war, dass die Stelle ganz rechts im Tiefkühltresen nun geräumt werden sollte, um zum Beispiel einer ganz neuen Ware Platz zu machen, vielleicht einem Fisch, von dem niemand hier oben in Grefsen bisher jemals gehört hatte, oder vielleicht Schnecken aus der Provence. Eine andere Möglichkeit war natürlich, dass es irgendwo auf der Packung einen belanglosen Druckfehler gab, vielleicht ein absolut solides Wort, das auf einmal zu etwas Obszönem geworden war. Die Möglichkeiten waren viele, oder Legio, wie man ja auch sagt. Vor der Kasse hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Das hing vermutlich damit zusammen, dass gerade nur diese eine Kasse geöffnet war, und zwar just die, hinter der meine liebe Freundin Pikdame ihrem Tagewerk nachgeht. Zufrieden beobachtete ich, dass Pikdame in genau demselben Tempo arbeitete wie sonst auch, dass sie sich durchaus nicht beeinflussen ließ von der nun aufgekommenen leicht gereizten Stimmung, die ich nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. Es war zwar eine Schlange, aber die zusätzliche Wartezeit war so geringfügig, dass es lächerlich wirkte, dieses Phänomen überhaupt als Hindernis irgendeiner Art zu betrachten.


Ich heftete deshalb meinen Blick an Pikdames emsig gesenkten Kopf, für den Fall, dass sie aufschaute und mich bemerkte, wie ich da ganz hinten am Laufband stand, mit der linken Hand auf der Packung mit den beiden tiefgefrorenen Schollen. Ich hatte beschlossen, falls es passierte, falls ihr und mein Blick auf diese Weise miteinander verschmölzen, würde ich ihr zuzwinkern, wie um zu sagen: In diesem Herrn hier hast du jedenfalls einen Kunden von der geduldigen Sorte, einen, der deine Arbeit zu schätzen weiß, einen, der sich nicht von der Hetze der Zeit ablenken lässt, einen, der durchaus nicht hysterisch wird, auch wenn er vier Minuten Schlange stehen muss, ehe er den Heimweg antreten kann, und ich erinnere mich ja. Was das für ein Gefühl war. Ihr blassblauer Blick wurde mir jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht gegönnt (das sollte erst ein wenig später der Fall sein), sie saß noch immer versteckt hinter einer Schwinge rabenschwarzen Haares, dem Haar, das ich in meinen Phantasien und nächtlichen Gedanken so oft zerzaust hatte, es waren dieselben Hände, die … naja. Die kalte Fläche der Packung reizte mich auf. Der Schmerz, der aus der Berührung mit einem gefrorenen Block dieser Art erwächst, hat etwas ganz eigenes; ich zwang meine Hand, so liegenzubleiben, wie ich sie hingelegt hatte, ich sagte mir, das hast du nun davon, jetzt kannst du hier mit der an den beiden toten Fischen klebenden Handfläche stehen, den armen kleinen Schollen, die mit etwas zerlassener Butter und zwei Kartoffeln dir bald weiter durch das Leben helfen werden; außerdem hast du eine kleine Strafe verdient, Gründe gibt es genug, und merkst du, wie weh es tut, merkst du, wie eiskalt der Block ist, sogar unter einer schützenden Pappschicht, jetzt kannst du bald aufhören, über die Hände der Pikdame und ihre wunderschönen langen Finger zu phantasieren … und gerade in diesem Augenblick hörte ich Möwensang und Schärenklang in nicht allzu weiter Ferne.


Später habe ich gedacht, dass es nur zwei Möglichkeiten gab. Die eine war, dass sich wirklich eine oder mehrere Möwen bei und über dem Parkplatz vor dem Supermarkt aufhielten, es wäre nicht das erste Mal gewesen, ich hatte sie schon oft beobachtet, das hier war ein Ort, den sie sich eingeprägt hatten, ein Ort, wo sich ab und zu, nicht jeden Tag, aber in unregelmäßigen Abständen, etwas Essbares auftun konnte, vor allem für Allesfresser wie Möwen und Krähen, eine zerquetschte Pizza, eine verlorene Kartoffel etc. Die andere Möglichkeit war, dass der Möwenschrei aus meinem Inneren stammte, dass er sozusagen aus meinem Unterbewusstsein hochgestiegen war, eine Art Erinnerung an die Sommer meiner Kindheit bei Sandefjord, wo meine Großeltern, die Eltern meiner Mutter, eine Hütte hatten, und wo es einen großen weißen Badestrand gab, kinderfreundlich und mit seichtem Wasser, und also mit dem Geschrei der Möwen als immerwährender Geräuschkulisse, von lange vor Sonnenaufgang bis lange nach Sonnenuntergang. Dort im seichten Wasser machte ich jeden Tag meinen Spaziergang, ich ging festen Schrittes über den Meeresboden, der hier aus feingemustertem Sand bestand, einer Art stilisierten Ausgabe der glucksenden Wellen, und ich konnte mich noch an die Spannung von damals erinnern, an die kontrollierte Erregung, denn immer wieder schreckte ich winzige Schollen auf. Einige waren nicht größer als ein Fünförestück, andere so groß wie eine Kinderhand, sie flohen nach vorn oder zur Seite, ihre flachen Körper schossen wie Torpedos über den Meeresboden, mit einem Schleier aus feinem Sand im Kielwasser, und dann versteckten sie sich rasch, vergruben sich im Sand, mit routinierten, fast blasierten Bewegungen, die Natur selbst ruhte in ihnen, das, was später dann DNS genannt werden sollte. Ihr Spiel mit der Umgebung war nicht erlernt, sie hatten es ererbt.


Und was war mit meinem eigenen Jagdinstinkt? War der auch in mir abgelagert, mir direkt gegeben, durch die Begegnung meines Vaters und meiner Mutter? Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nur, dass ich mir das Vorgehen selbst beigebracht hatte, nämlich, mir genau zu merken, wo die Scholle Zuflucht gesucht hatte, und den Blick auf diese Stelle zu richten. Wenn man nahe genug kam, würde das geübte Auge die Umrisse des Tieres sehen, das da im Sand lag und sich in Sicherheit wähnte, aber was war mit dem Trick an sich? So weit ich wusste, hatte ich mir auch den selbst beigebracht, aber später habe ich also gedacht, dass er vielleicht als Erbe der Neandertaler oder anderer in mir gelegen hatte. Mit dem linken Zeigefinger lenkte man das Auge der Scholle ab, man bewegte ihn vorsichtig hin und her, es konnte etwas zu essen sein, es konnte eine mögliche Gefahr sein, das eine Auge der Scholle, das aus dem Sand lugte, war schwer beschäftigt, ebenso das kleine Gehirn, das jetzt vermutlich auf Hochtouren lief; und wenn man die rechte Hand dann einen langsamen Kreis um die Scholle beschreiben ließ, konnte man manchmal, im Durchschnitt in einem von vier Fällen, den rechten Zeigefinger auf den Schwanz der Scholle drücken und sie auf diese Weise fangen. Worauf man Sekunden später im seichten Wasser in einer Bucht bei Sandefjord stand und merkte, wie der kleine Fisch in dem geschlossenen Raum zwischen den beiden Handflächen zappelte. Während die Möwen schrien. Während die anderen Kinder schrien. Während die Mütter schrien: Nicht weiter raus, jetzt kommst du her, jetzt gehen wir nach Hause, nicht ins tiefe Wasser gehen! Karsten, jetzt nicht mehr ins Wasser gehen! Guri, jetzt kommst du sofort her, sonst werde ich richtig böse, und dann gibt es kein Eis und es geht gleich ins Bett. Da stehen und diese Kakophonie von Geräuschen und kodierten Mitteilungen unterschiedlichster Art hören, die ganze Zeit mit diesem kleinen kämpfenden Leben in der Hand, verwundert über die Kraft in diesem glatten, nassen Muskel, den man dann, mit göttlicher Selbstverständlichkeit, in das Meer fallen lässt, aus dem man es eine Minute zuvor geholt hat. Als ich an die Reihe kam, bezahlte ich mit einem Fünfziger, ich hielt ihr den Geldschein gewissermaßen neckend vor das Gesicht, während ich freundlich lächelte und irgendetwas Beruhigendes sagte oder andeutete, während ich mich ihr mit einer imaginären Hand von hinten näherte, so dass ich ihr schwarzes Haar in liebevollem, aber energischen Griff halten und zugleich den warmen, wohlgeformten Kopf darunter spüren konnte. Als ich ging, machte sie mir die Scholle.  Ein kurzer Moment von zappelnder Seezunge hinter den rotgemalten Lippen. Ein kaum hörbarer Pfeifton.


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Ingvar Ambjørnsen:

ECHO EINES FREUNDES. Ein Elling-Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Gebunden, 320 Seiten, 24 Euro.
Erschienen bei Nautilus.