Kind der Finsternis
Ich war ein Kind der Finsternis. Der Frühling mit seinem erbarmungslosen Licht oder der Sommer mit den oft aufgezwungenen Freiluftaktivitäten waren nicht mein Ding. Aber sowie sich die herbstliche Dunkelheit über die Stadt senkte, fühlte ich mich sicher. Mit einem guten Buch im Bett liegen, während draußen vor dem Fenster die Herbststürme das Laub von den Bäumen fegten. Auf den gegen die Fensterscheiben prasselnden Regen lauschen, während man sich über ein Puzzlespiel beugte. Das Unwetter dort draußen. Die Gemütlichkeit im Haus. Mutter, die sich in der Küche irgendeiner sinnlosen Beschäftigung widmete und dabei einen Schlager aus ihrer Jugend summte. Das war das gute Leben. Meine Lieblingsjahreszeit.
Aber auch Herbst und Winter hatten ihre Gespenster. Gefahren, die lauerten und jederzeit Gemütlichkeit und Behaglichkeit bedrohten, ja, die das traute Heim in eine Art Hölle verwandeln konnten.
Der schlimmste dieser Schrecken war der Lutefisk. Ein unberechenbarer Teufel, mit Netz und Angel an die Wasseroberfläche gezogen, zum Trocknen aufgehängt, dann in Wasser eingeweicht und in Lauge eingelegt. Um dann am Ende wie ein böser Hauch aus einer anderen Zeit auf dem eigenen Essteller zu landen, an einem ganz normalen Tag im November oder Dezember. Ein Albtraum von Mahlzeit!
Da ging man vielleicht nach einem beendeten Schultag erleichtert und froh nach Hause. Na gut. Noch eine Niederlage, aber nun ist man unterwegs zur behaglichen Wärme des Heims. Die vielen Prügel haben zudem hungrig gemacht. Man schließt unten die Haustür auf und ist sofort wie erstarrt. Das kann doch nicht wahr sein! Aber es ist wahr. Im Treppenhaus riecht es nach Lauge und Fisch. Vermischt mit dem unverkennbaren Aroma gekochter Kartoffeln. Eine tödliche Mischung, die einen sofort schlucken und schlucken lässt, weil man sich nicht erbrechen will, während die Tränen unbedingt herauswollen. Man reißt sich los und rennt die Treppen zum zweiten Stock hoch. Schließt die Tür zum eigenen Heim auf und fleht dabei Jesus um Gnade an. Und wird in neun von zehn Fällen erhört. Falscher Alarm. Kaum hat man die Tür hinter sich zugezogen, nimmt man den wunderbaren Duft von Bratwurst wahr, vielleicht auch von einem Kotelett mit Schmorkohl. Der Gestank von Lauge und totem Fisch kommt aus einer anderen Wohnung. Ein anderer kleiner Junge oder ein unglückliches kleines Mädchen fällt an diesem Tag dem Lutefisk zum Opfer. Und beim nächsten Mal auch. Und beim übernächsten Mal. Aber dann kommt die Reihe endlich an einen selbst. Es ist wie mit dem Tod. Man weiß, dass es kein Entrinnen gibt. Man freut sich über jeden Tag, an dem man sich drücken kann. Aber am Ende ist man fällig. Der Gestank im Treppenhaus kommt eines Tages aus der eigenen Küche, wo die ansonsten liebende Mutter sich in eine böse Lutefiskköchin verwandelt hat, die einen mit spitzen Zähnen angrinst. Bitte sehr, nimm Platz.
Lauge, Tod und Kinderschweiß
Der Lutefisk meiner Kindheit hat eine helle Urinfarbe und ist durchsichtig. Man kann deutlich das Stück Kartoffel sehen, das hinter dem Fisch auf der Lauer liegt. Wenn man in Tränen ausbricht, zittert der Fisch, alles andere auf dem Tisch jedoch bewahrt die Ruhe. In der ganzen Wohnung stinkt es nach Lauge und Tod und Kinderschweiß. Es gibt kein Entkommen, denn so ist die Zeit. Man muss jedenfalls «probieren», denn Mutter gehört nicht zu den Allerschlimmsten. Nicht wie die Eltern, die verlangen, dass der Teller leergegessen werden muss. Nicht wie die, die daneben sitzen und das Kind mit dem erbarmungslosen Blick der Psychopathen mustern, während der Kleine würgt und weint und sich ausmalt, wie das Linienflugzeug aus Tromsø in den Block stürzt, um dem Albtraum ein Ende zu bereiten.
Familienzwist
Damit unterhalte ich die alte Witwe, während ich mehr als gern eine weitere Kartoffel annehme. Und ja, auch ein Stück Fisch.
«Aber hattet ihr denn gar keine Beilagen?»
«Nein», sagte ich. «Es gab Kartoffeln und zerlassene Butter. Sonst nichts. Wenn es um Lutefisk ging, dann vertrat meine Mutter die nordkoreanische Lösung.»
«Ach, jetzt bist du boshaft. Aber gebratener Speck und Senf sind wohl erst später dazugekommen, nur Erbsenpüree hatten wir immer. Ja. Das hatten wir.»
«Heute gibt es verschiedene Schulen», sage ich. «Süßen oder scharfen Senf. Gelbes oder grünes Erbsenpüree. Da spalten sich die Familien. Brüder reden nicht mehr miteinander. Und stell dir vor – es gibt Lutefiskvereine. Die Snobs sitzen in den teuersten Restaurants der Stadt und verzehren Portionen zu tausend Kronen das Stück. Und wenn sie dann betrunken sind, dann streiten sie sich über Aquavit und verschiedene Biersorten zum Fisch. Das hätte uns mal jemand erzählen sollen, als wir noch Kinder waren. Und wir konnten uns nicht mal betrinken, um dem Gestank zu entkommen.»
«Ja, ja», sagt meine Vermieterin. «Aber das Geheimnis beim Lutefisk von heute ist sicher, dass die Lauge nicht so scharf ist wie früher. Jetzt sieht er doch eigentlich aus wie normaler weißer Fisch. Und ist nicht so eine Qual für die Nase.»
«Da muss ich dir recht geben», sage ich und lasse mir noch ein Stück leichtgesalzenen Kabeljaus aufnötigen. «Aber kannst du begreifen, warum das mit dem Trocknen und der Lauge überhaupt sein muss, wenn der Himmel doch mit zwei Prisen Salz zu erreichen ist? Gibt es denn besseren Fisch als diesen hier?»
«Nein», sagt sie. «Da sind wir wirklich einer Meinung. Aber denk doch nur, dass Jesus dich in neun von zehn Fällen gerettet hat. Bei uns, die in einer Villa aufgewachsen sind, war er nie so barmherzig!»