Es ist heiß an diesem Juniabend, die 30 Grad wurden in Hamburg geknackt. Die Hobenköök deckt draußen ein, auf der Speisekarte steht ein Fünfgangmenü mit besonderem Motto und dem Leitgedanken der Nachhaltigkeit.
„Tage wie diese zeigen, dass wir nachhaltige Gastronomie brauchen“, begrüßt Jens Witt die Gäste. Er ist stellvertretener Vorsitzender von Slow Food Deutschland und Leiter der Chef Alliance, einer Organisation aus Köchinnen und Köchen, die sich zu einer Wertegemeinschaft zusammengeschlossen haben. „Es ist auch egal, ob es sich um ein Sternerestaurant oder eine Imbissbude handelt“, sagt Witt – solange die Köchinnen und Köche regional und saisonal arbeiten, direkten Kontakt zu den Produzent*innen haben und auf industriell erzeugte Lebensmittel verzichten.
Verantwortungsvolles Kochen beginnt also nicht erst bei der Zubereitung, sondern schon bei der Auswahl der Produkte. Zum zweiten Mal veranstaltet Slow Food deswegen anlässlich des Internationalen Tags der nachhaltigen Gastronomie zusammen mit Köchinnen und Köchen aus Norddeutschland einen Menüabend in der Wirkungsstätte von Thomas Sampl. Hier wird nicht einfach anonym gegessen was auf den Tisch kommt, denn der Abend wird begleitet von Gesprächen mit den Gastronom*innen und Produzent*innen.
„Das schönste an diesem Abend ist, neben dem Essen natürlich, dass wir alle zusammenkommen können“, freut sich Witt. Sinkende Corona-Zahlen, Schnelltests und Hygienekonzepte machen es möglich.
Die Ziege ganzheitlich denken
Auf den ersten Blick mag das Motto Ziege überraschen, wird doch seit Jahren der hohe Fleischkonsum in den westlichen Ländern angeprangert. Resultat dessen sind Massentierhaltung, Rückgang der Artenvielfalt, katastrophale Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie und viele andere Auswirkungen. Und dann soll gerade die Ziege Star von 5 Gängen sein?
Auf den zweiten Blick hätte es kaum ein besseres und vielfältigeres Produkt geben können, um gesunde, nachhaltige Strukturen präsentieren zu können.
Seit den 1990er Jahren ist Ziegenkäse in Deutschland keine exotische Delikatesse mehr, sondern immer und überall zu haben und voll im Trend. Weil sein Ruf, streng zu riechen, sich verflüchtigt hat, weil viele Menschen Kuhmilch nicht mehr vertragen (oder es zumindest denken) und wegen der romantischen Vorstellung, dass es bei Ziegen keine Massentierhaltung gäbe. Alle wollen Ziegenkäse. Der Denkschritt, dass Käse aus Milch gemacht wird und dass es Milch nur geben kann, wenn ein Muttertier gelammt hat, wird dabei ausgelassen. Wo Milch entsteht, entsteht auch Fleisch – denn die Hälfte der Kitze sind männlich.
Dennoch findet sich kaum Ziegenfleisch auf den Tellern unserer Breitengrade. Zumindest bis jetzt, denn so viel kann vorweggenommen werden: Auch Ziegenfleisch mundet in zahlreichen Facetten, wie an diesem Abend eindrucksvoll präsentiert werden wird. Wer Ziegenmilchprodukte guten Gewissens konsumieren möchte, sollte zukünftig auch das Fleisch verarbeiten.
Fisch vor Fleisch
Die Gäste werden an diesem Abend von Barbara Stadler, Jochen Strehler, Thomas Sampl, Martin Schneider, Luka Lübke, Sebastian Junge, Angela Schulze-Hamann und Bernd Ratjen begöschert. Doch bevor es an die Ziege geht, stellt Thomas Sampl einen seiner Produzenten vor: Austerregion beliefert die Hobenköök mit besten Wattenmeeraustern. Marco Schnackenberg erklärt, passend zu seiner gegrillten Auster mit Forellenbutter und Schnittlauch, dass jeder Mensch Austern essen sollte und damit eine nachhaltige Entscheidung treffe – sofern sie aus der Nordssee kommen, wo es mittlerweile einfach zu viele der Delikatessen gebe. Während die Auster schon immer polarisierte zwischen Ekel und ekstatischer Verzückung, wird an diesem Abend ein Bogen gespannt. Durch das Grillen wird die Auster rauchiger und fleischiger, vermittelt mehr Umami und verliert von dem salzig-glitschigen, was Austernskeptiker zum Schaudern bringt und Fans so lieben. Somit kann dieser kleine Gruß vom Grill als gute Einstiegsauster bezeichnet werden, während wahre Liebhaber der frischen Austern von Austerregion wie der Herausgeber dieses Magazins kritisch bleiben.
Frisch und sommerlich von Barbara Stadler
Für den ersten Gang des Abends sorgte Barbara Stadler, Slow Food Köchin von der „Kastanie“ in Martfeld. In ihrem „Ziegengericht“ verarbeitete sie den Frischkäse zu einer cremigen, aromatischen Praline, die mit Rhabarberconfit und phänomenalen Wildkräutern serviert wurde. Ihre Produzentin, Sophia Traut von der „Ziegerei“ aus dem niedersächsischen Asendorf, hat sie direkt mitgebracht. Stadler arbeitet begeistert mit dem Asendorfer Ziegenkäse und hatte bereits im letzten Jahr einen Gang mit jenem Frischkäse und Spargel in Briqueteig kreiert.
Die „Ziegerei“ liegt zwischen Bremen und Hannover. Hier leben 90 Milchziegen auf einem Bio-Hof in gemischter Herde. Doch nicht nur ihr Ziegenfrischkäse (für einen Kilo benötigt Sophia Traut übrigens 4 bis 5 Liter Ziegenmilch) findet am heutigen Abend den Weg auf die Teller – eine halbe Ziege hat Luka Lübke für den späteren Hauptgang abgenommen. Traut berichtet: „Ich kenne viele Kollegen, die absolut keinen Absatz an Ziegenfleisch haben. Und auch bei uns ist das eher wenig.“
Für die passende Weinbegleitung sorgt an diesem Abend Franz Wehrheim vom biozertifizierten Weingut Dr. Wehrheim in der Pfalz.
„Das muss doch auch von der Ziege schmecken“ – Jochen Strehler
Jochen Strehler vom Gildepark in Kiel traut sich an alle Teile vom Tier, nicht nur Filet oder Lenden werden in seiner Küche verarbeitet. Bei der Planung für seinen Gang schaute er bei seinem Produzenten, dem Bokseer Ziegenhof vorbei. „Ich habe dann gefragt, was ich denn am liebsten abnehmen soll und bekam eine klare Antwort: Herz, Leber, Niere.“ Also beschloss er, ein Parfait zu machen, wie man es von beispielsweise der Ente kennt. Und ja, auch Ziegenleber schmeckt in einem Parfait hervorragend. Begleitet wird es von kleinen Sonnenblumen und einer Herz & Nieren Vinaigrette, die auch dem letzten Zweifler jede Angst vor Innereien nimmt. Jochen Strehlers Philosophie lautet: Für alles geradestehen, was man anrichtet. Das bedeutet auch, dass der Schaden den Nutzen nicht überwiegen darf, wie es in beispielsweise der Massentierhaltung geschieht. „Ein Tier muss in jeder seiner Lebensphase gut behandelt werden“, sagt er „und Konsumenten müssen Fleisch wieder als das ansehen, was es nun mal auch ist – eine Delikatesse.“
Mit viel Eis im ÖPNV
Luka Lübke ist nicht nur Köchin, sondern eine Food-Künstlerin: Sie schreibt, bloggt und kocht. In Bremen findet sich ihre Wirkungsstätte „Apokaluebke – meine Küche gegen den Weltuntergang“, in der sie Menüabende und Workshops anbietet. Einen ihrer Ansätze findet man auch im heutigen Menü: Anregungen aus der ganzen Welt holen, aber kreativ mit regionalen Mitteln umsetzen. Das sorgt für einen guten CO2-Abdruck: In ihrem Gang verarbeitete sie eine halbe Ziege auf „homersche Art“. Inspiriert wurde sie von Gerichten des Baltikums und Südeuropas. Die halbe Ziege von der „Ziegerei“ reiste dafür nach der Schlachtung in Lübkes Reisekoffer mit viel Eis nach Bremen, wo sie geschmort wurde und nun mit Linsen und Brennessel Byrek serviert wird. Ein gutes, bodenständiges Gericht. Als Mittagstischangebot womöglich aber besser geeignet, als es an solchen Abend zu servieren.
Bunt und verheißungsvoll
Thomas Sampl kocht in der Hobenköök und ist der Gastgeber des Abends. Auf 600 Quadratmetern bieten er und sein Team in der Hobenköök Lebensmittel von bis zu 200 Produzenten rund um Hamburg an. Gäste und Kunden können sie in der Markthalle kaufen und direkt vor Ort im Restaurant verspeisen. „Unser Herz schlägt für eine einfache, authentische und überraschende Küche. Und lecker ist sie natürlich auch“, erklärte Thomas Sampl. Zusammen mit seinem Küchenchef Martin Schneider bereitet er den vierten Gang des Abends zu: Ziegen Pastrami in BBQ-Marinade, tweemol Erbse und Eingewecktes mit Bio-Apfelessig. Dieses wird, wie viele andere Produkte auch, eigenhändig in der Hobenköök zubereitet. Der servierte Gang besticht durch seine immense Farbenpracht, ein aromatisches Erbsenpüree und ein tadelloses Stück Ziegenkeulte, das nicht wie vermutet aufgeschnitten wird wie jenes Pastrami, das seine Bekanntheit dem Sandwich verdankt. Sophia Traut erzählt: „Leider lastet der Ziege ein schlechter Ruf an, nämlich dass sie sehr streng schmeckt“ – spätestens nach diesem gang wird klar: Ein Irrtum.
Süße Versuchung
Der Abschluss des Abends lässt das Herz von Leckermäulen höherschlagen. Sebastian Junge, der nicht nur als Koch des Uhlenhorster Restaurants Wolfs Junge alle Hände voll zu tun hatte, kam auf eine Stippvisite in die Hobenköök. Vor kurzem eröffnete die Wolfs Junge’s Landpartie auf dem Wilkenshof. Zuvor hat er in seiner Laufbahn schon in Hochkarätern wie „Vier Jahreszeiten“ und „Louis C. Jacob“ gearbeitet und immer großen Wert auf das Erkunden der Quellen gelegt. Er assistierte auf Biohöfen, bei Fleischereien, in Käsereien und Backstuben, er hat die „Slow Food Youth Academie“ besucht und einige Zeit in Australien verbracht. Die Gäste verwöhnt er am internationalen Tag der nachhaltigen Gastronomie mit einer Komposition aus selbstgemachtem Ziegenricotta, Rhabarberkompott, Kuchenstreuseln und Molke. Die Ziege kann eben auch süß.
Nachhaltige Tradition
Der Menüabend zum 18. Juni wurde nun zum zweiten Mal in der Hobenköök ausgerichtet. Beide male bestimmten raffinierte Speisen, der Kontakt zu Köch*innen und Produzent*innen und spannende Gespräche über die Genusskultur den Abend – hieraus scheint sich also schon eine Tradition zu entwickeln, die nach Meinung dieses Magazins keinesfalls aufgegeben werden sollten. Organisationen wie Slow Food und die Chef Alliance sind wichtige Träger bei der Frage, wie Genuss und Nachhaltigkeit zusammenfinden und wie Gastronomie gelebt werden sollte und muss. Die Notwendigkeit dafür dürfte auch ohne überhitzte Junitage jedem klar geworden sein, der einmal reflektiert, was er oder sie isst.