„Nimm einen Greis, der sanft entschlief, ein junges Ding, das man vom Felsen stieß, einen Geiger, der den letzten Ton nicht traf und einen König, den man der Eisernen Jungfrau gab. Nimm sie und zähl‘ die Jahre, die sie lebten. Zieh sie von heute ab. Und zähle weiter fort, damit die Geschichte beginnt.“
Aus „Anan und das Bild vom Seepferdchen“ von Michael Habel
Wie ein Märchen entsteht
Die Frage ist eigentlich überflüssig, gerade in Deutschland wissen wir das ganz genau. Man fragt alle Bekannten nach den Märchen, die sie irgendwo gehört haben, schreibt dieselben auf, bringt ein Buch heraus, landet damit einen Welterfolg und zerstreitet sich alsbald über die Frage, ob man bei den Märchen glättend eingreifen darf oder ob sie so veröffentlicht werden müssen, wie sie aufgezeichnet wurden. Ob Rapunzel schwanger sein darf, eben. Zerstritten sind wir aber noch nicht, und die Frage, ob die Märchen verändert werden dürfen, wurde im Sinn von Jacob Grimm schon entschieden, ehe wir auch nur drei zusammen hatten. Der Anfang ging so: Erst mal sehen, was sich so bei uns angesammelt hat. Dann überlegen, wen könnten wir fragen. Und danach warten, was kommt.
Es passierten interessante Dinge. A sagte, er würde uns so gern ein Märchen schreiben, habe nur gar keine Idee, ob wir nicht eine hätten. Wir öffneten die Ideenbüchse und schüttelten drei raus, es kam ein wunderbares Märchen. B hatte dann doch keine Zeit, hatte aber C von dem Projekt erzählt und C wollte so gern eins beisteuern. D wurde von einem Coronafall in der Familie vom Schreiben abgehalten, fand aber eine alte Geschichte, die durchaus als Märchen durchgehen konnte. Die Frage ist natürlich: Ab wann ist eine Geschichte ein Märchen? Wie viele der von der Märchenforschung herausgearbeiteten Motive und Textelemente müssen vorhanden sein?
Wissenschaftliche Definitionen klingen wunderbar, sind aber nicht immer ganz leicht zu verstehen: „Das Märchen strebt nicht nach Systematik. Alle seine Handlungselemente sind scharf bestimmt. Die Fäden aber, die zu ihnen hinführen, bleiben unsichtbar, und insofern ist von einer grundsätzlichen Stumpfheit aller Märchenmotive zu sprechen.“ Können wir die von uns ausgesuchten Märchen in dieser Aussage wiederfinden? Keine Ahnung, wir hören gern von Leuten, die das Buch gelesen haben: Wie seht ihr das? Aber wie wäre es hiermit: „Gerade dann, wenn die Märchenhelden ganz isoliert handeln, stehen sie, ohne es zu wissen, im Schnittpunkt vieler Linien und genügen blind den Forderungen, die vom Ganzen aus an sie gestellt werden. Sie denken nur an ihren eigenen Weg – und erlösen dadurch andere. Der Märchenheld gleicht denen, die den Gral finden, gerade, weil sie ihn nicht suchen.“ Ich werde ganz gerührt, wenn ich das lese, und ja, so und nicht anders sind unsere Märchenhelden. Und die Heldinnen erst recht. Und was ist der Sinn des Ganzen? „Das Märchen kann auch nicht einfach Seinsollendichtung genannt werden. Seine Absicht ist es nicht, uns zu zeigen, wie es zugehen sollte in der Welt. Es vermeint vielmehr zu erschauen und Wort werden zu lassen, wie es in Wahrheit zugeht in dieser Welt.“
Genauso ist es, und wenn die Autor*innen in unserem Buch es vielleicht nicht ganz so ausdrücken würden, so zeigen die Geschichten doch: Ja, so ist es. Das hier sind wahre Märchen. Die Grundelemente sind vorhanden, aber immer klingt auch die individuelle Erzähler(innen)stimme durch, ob es nun ein im Juni 2020 frisch verfasstes Werk ist oder eins, das vor fast 200 Jahren von der Norwegerin Olea Crøger aufgezeichnet, aber erst im 21. Jahrhundert gedruckt werden durfte, weil ein gut erzähltes Märchen eben die herrschende Ordnung zwar nicht ins Wanken bringen, aber die Herrschenden über die Ordnung doch arg verärgern kann. Wir haben Märchen aus verschiedenen Ländern ausgesucht – ohne nun gezielt nach einem Märchen aus Land X oder Y zu fahnden, immer war ausschlaggebend, was bei uns ankam und wo wir überhaupt märchendichtende Menschen kennen, die wir fragen können. Beim nächsten Buch (das Märchenherausgeben inspiriert, man will unbedingt sofort weitermachen) machen wir alles genauso und möchten dennoch mehr Länder dabeihaben. Aber ehe es so weit ist, muss das frisch erschienene Buch gelesen werden (genauer gesagt, gekauft!).
Über Olea Crøger & norwegische Märchen
Die Märchen, die wir in den üblichen norwegischen Märchensammlungen finden, sind eigentlich recht konservativ. Die Märchenhelden, ob Prinz oder dritter Bauernsohn, ziehen auf Abenteuer aus und bekommen das halbe Königreich und die Prinzessin als Zugabe. Die Prinzessin wird nicht gefragt. Wenn eine Frau in einem norwegischen Märchen aktiv werden darf, dann sehr oft als Strafe. In dem in der Märchenforschung „Der Tierbräutigam“ genannten Märchen zum Beispiel (die Fassung der Brüder Grimm heißt „Das singende, klingende Löweneckerchen“) muss sie ein Ungeheuer heiraten, das sich dann aber in dunkler Nacht anfühlt wie ein schöner junger Mann. Er verbietet ihr aber, Licht zu machen, was sie natürlich doch tut, weil sie ihn in seiner wahren Gestalt sehen möchte. Daraufhin verlässt er sie – und sagt ihr noch, wenn sie nur ausgehalten hätte, hätte sie ihn erlösen können, aber sie hat nun mal nicht, und nun muss sie einmal um die Welt irren, um ihn zu finden und von der neuen Braut loszueisen. Aber von selbst auf Abenteuer gehen? Das tut eine norwegische Märchenfrau nicht.
Und das hat seinen Grund. Die Sammler nämlich. Die Sammler, die im 19. Jahrhundert in Norwegen über die Dörfer zogen und Märchen aufzeichneten, waren allesamt seriöse Herren, meistens zudem Pastoren, und die hatten so ihre Vorstellungen davon, dass das Weib in der Gemeinde und am besten auch überall sonst zu schweigen hat. Also ließen sie sich Märchen vor allem von Männern erzählen, und die veröffentlichten sie dann, oft, nachdem sie alles umgeschrieben hatten, was ihren strengen Auffassungen von Sitte und Moral widersprach.
Aaaaaber. „Vom persönlichen Geschmacke eines jeden Erzählers hängt die Wahl der Märchen aus dem Vorrate ab, welcher in der betreffenden Gegend sich erhalten hat.“ Das schreibt Mark Asadowskij, einer der Begründer der modernen Märchenforschung, die den leicht irreführenden Namen Märchenbiologie hält. In seiner wegweisenden Studie über eine sibirische Märchenerzählerin weist er nach, wie die Erzählerpersönlichkeit den Märchenstoff mit eigenen Zutaten anreichert, und dass es große Unterschiede geben kann, abhängig davon, ob wir es eben mit einem Erzähler oder einer Erzählerin zu tun haben. In Norwegen kam diese Art von Märchenforschung mit großer Verspätung an, was sicher viele Gründe hat. Einer war, dass Norwegen noch nicht lange unabhängig war, als Asadowskij und andere ihre Forschungsergebnisse vorstellten, und die Märchen wurden, als „typisch norwegisch“ zur Nationsbildung gebraucht.
Seit einigen Jahren aber ist das ganz anders, es wird untersucht, wer damals Märchen erzählt hat, und welche Fassungen die Sammler notiert haben. Oder die Sammlerinnen. Plötzlich wird Olea Crøger (1801 – 1855) entdeckt, die erste Person, die in Norwegen überhaupt Märchen sammelte, eine Auswahl ihrer Märchen erschien aber erst an die 150 Jahre nach ihrem Tod. Oder Gerhard August Schneider (1842-1873), der eher als Märchenillustrator bekannt ist, nicht als Sammler. Beide haben, anders als die erwähnten Pastoren, vor allem mit Erzählerinnen gesprochen. Und Märchen notiert, die absolut von dem abweichen, was dann als typisch norwegische Märchen bekannt wurde. Zum Beispiel dieses hier. Wobei noch gesagt werden muss, dass es wie immer auch von diesem Märchen allerlei Varianten gibt, und auch der Schluss kann je nach dem „Geschmacke des Erzählers“ unterschiedlich ausfallen. Mal taucht doch noch der Prinz auf, und die Heldin muss mit ihm gehen, weil er die älteren Rechte hat, wird aber ihres Lebens nicht mehr froh, mal arrangieren sie sich zu dritt, aber meistens endet es so wie hier erzählt. Es war also einmal eine Königstochter, um die warb ein Königssohn aus einem anderen Land, und sie wollte ihn auch. Ihre Eltern aber meinten, sie sei noch zu jung, die jungen Leute sollten noch sieben Jahre mit der Hochzeit warten. Um sich die Zeit zu vertreiben, fuhr der Königssohn zur See, doch nach den sieben Jahren kehrte er nicht zurück. Alle hielten ihn für tot, nur die Königstochter wollte das nicht glauben, sie ließ sich ein Schiff ausstatten und machte sich auf die Suche. Sie fand ihn auch auf einer einsamen Insel, wo er Schiffbruch erlitten hatte, und nun hätten sie heimkehren und glücklich miteinander leben können bis ans Ende ihrer Tage, doch nein! Auf der Rückreise machten sie Station auf einer weiteren kleinen Insel, sie brauchten Wasser und Früchte, und sie gingen an Land, um beides zu holen. Sie das Wasser, er das Obst. Dabei verirrte sich der Königssohn, und außerdem war er müde und legte sich erst mal zum Schlafen nieder, und da lag er dann und sah so schön aus, dass eine Meerfrau, die gerade vorüberschwamm, sich nicht beherrschen konnte und ihn mitnahm.
Als er nicht zurückkehrte, war die Königstochter natürlich verzweifelt, und sie da sie ihn nicht finden konnte, glaubte sie nicht an einen Unfall, sondern meinte, er habe sich die Sache anders überlegt und sie verlassen. Als verschmähte Braut wollte sie aber nicht nach Hause zurückkehren, deshalb bestieg sie ihr Schiff und fuhr erst einmal weiter. Um sich weiteren Ärger mit den Männern zu ersparen, verkleidete sie sich nun aber als Mann. Und sie kam in ein Königreich, wo der König von einem bösen Feind belagert wurde. Der König war total beeindruckt, als da ein junger Fremder ankam und seine Dienste anbot, übertrug dem jungen Fremden das Oberkommando über das Heer, und der böse Feind wurde vernichtend geschlagen. Nach alter Sitte sollte der siegreiche Held die Prinzessin und das halbe Königreich bekommen. Nun war guter Rat teuer. „Was soll ich mit einem halben Königreich“, sprach der Kriegsheld, „lasst mich meiner Wege ziehen und anderswo neue Heldentaten verbringen!“ Doch der alte König sagte: „Die andere Hälfte bekommst du ja nach meinem Tod, und mit einem ganzen Königreich kann man schon eine Menge anfangen.“ Dagegen ließ sich nichts einwenden, und der gute Rat wurde immer teurer. Der Kriegsheld begab sich nun zu der Prinzessin und bat um ein Wort unter vier Augen. Und dort gestand er ihr die Wahrheit: „Ich bin gar kein Kriegsheld, ich bin nämlich eine Frau.“ Doch die Prinzessin sagte: „Dann nehme ich dich noch einmal so gern.“ Und die Hochzeit wurde mit großem Prunk gefeiert, und die beiden lebten glücklich miteinander, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.