Jetzt blühen sie wieder, die Buschwindröschen, die Frühjahrsboten, zarte weiße Sterne im üppigen grünen Blätterkleid. Nein, man darf diese Anemonen nicht pflücken, man darf sie nicht essen. Sie sind giftig und verblühen sofort – und sie tragen ein sagen-haftes Geheimnis mit sich …
Aber sie sind ein Stück Heimat für mich. Seit Kindertagen, seit ich meiner Mutter ganz begeistert ein Sträußlein aus dem Anemonen-Wald hoch über der Störschleife bei Breitenburg brachte. Sie wurde ganz ernst und sagte: Vorsicht, sie sind giftig, nicht essen, nicht in den Mund nehmen. Und: sie müssen unbedingt stehen bleiben im Wald. Wenn Du groß bist, erzähle ich Dir ihre Geschichte.
Und zum Trost für meine Traurigkeit schmierte sie mir eine dicke Butterstulle mit ganz frischen Kräutern, mit den ersten, die man im Frühjahr im Garten und am Wegesrand so pflücken kann. Die sieben oder neun Kräuter, die auch ins Oster-Essen gehören.
Die Jahre vergingen, in jedem Frühjahr mit endlosen, wunderschönen Buschwindröschen-Wäldern. Und mit dem ersten leckeren Kräuter-Butter-Brot. Und irgendwann wurde ich dann „groß“, las das Gedicht von Gottfried Benn „Erschütterer: Anemone“, ließ mich beeindrucken von der unglaublichen Kraft dieser kleinen Pflanzen, und entdeckte dann auch das etwas traurige Anemonen-Gedicht von Christian Wagner.
Und Mutter berichtete:
Man sagt, die Buschwindröschen fallen am Ende des Winters wie Sterne vom Himmel. Wenn das Frühjahr kommt, sollen uns die sternförmigen kleinen Anemonen ein paar Wochen an unsere Toten erinnern. Einmal im Jahr kehren sie gewissermaßen auf die Erde zurück und sagen uns: wir gehören zu Euch, zu Eurem Leben. Vergesst uns nicht. Deshalb darf man Buschwindröschen nicht schneiden oder pflücken. Und essen ja sowieso nicht.
So durchstreife ich seither jedes Jahr zum Frühlingsbeginn „meine“ Wälder und spreche mit den Buschwindröschen… und esse frisches selbstgebackenes Brot mit Kräuterbutter, selbstgemacht oder allerbest gekauft.
Und weil wir beim Thema sind: Blüten sind ja etwas Wunderbares – nicht nur für Haus und Garten, sondern auch für die Küche. Denn essbare Blüten sind optisch eine Freude und außerdem edle Gewürzbringer. Es gibt ganz viele. Ein ganzes Alphabet schmückt Salate und Desserts – vom Anis-Ysop bis zur Zucchini, von der Basilikumblüte, knopfigen Gänseblümchen und schönen Stiefmütterchen, leuchtender Kapuzinerkresse und vielseitigem Löwenzahn bis zum köstlichen Phlox. Und dann die herrlich aromatischen Rosen! Eine ganze essbare Blütenpracht kann man säen und ernten, getrocknet kaufen und frisch abgepackt. Im frühen Jahr, wenn wir so hungrig auf Frisches sind, aber auch das ganze Jahr hindurch.
Anemone
(Gottfried Benn 1886-1956)
Erschütterer: Anemone, die Erde ist kalt, ist nichts, da murmelt deine Krone ein Wort des Glaubens, des Lichts.
Der Erde ohne Güte, der nur die Macht gerät, ward deine leise Blüte so schweigend hingesät.
Erschütterer: Anemone, du trägst den Glauben, das Licht, den einst der Sommer als Krone aus großen Blüten flicht.
Anemonen
(Christian Wagner 1835-1918)
Sag, woher kommen Die schönen, die frommen, Die tausend und abermillionen Weißgekleideter Anemonen?
„Wir sind die Kindlein, die abgeschieden So frühe hienieden. Nun wohnen wir oben, Im Vaterhause da droben.“
„Was tut ihr nun hier Im Waldesrevier, Ihr lieblichen Kleinen, Beim Frühlingserscheinen?“
„Drum dürfen wir fort, Jedes an seinen Heimatort; Auf Ostern, da wird Vakanz gegeben, Drei Wochen lang, welch ein Freudenleben!
Und drum sind wir hier Im Waldesrevier Alle weiß gekleidet, Mägdlein wie Söhnlein Mit goldenen Krönlein.“