Ein Beitrag von Anne-Katrin Wehrmann
In ihrer Hauptwerkstatt in der Bremer Neustadt schaltet Irene Borgardt den Gasbrenner an. Für ihre Arbeit benötigt sie eine Flamme, die knapp 2000 Grad heiß ist – im Sommer kann das schon mal ganz schön anstrengend werden. „Wenn die Temperaturen draußen über 30 Grad sind, kann ich hier keine großen Sachen machen“, sagt sie. „Eher kleinere, wo die Flamme nicht so groß ist.“
An diesem Tag sind die Temperaturen erträglich. Auf dem Programm steht das Anfertigen von Stielen für ihre exklusiv kreierte Glasreihe „Step by Step“: Der Name ist Programm, denn die Stiele entstehen Schritt für Schritt und brauchen viel Zeit und Geduld. Dafür teilt die 54-Jährige unter der Flamme unterschiedlich farbige Stäbe aus Borosilikatglas, das besonders bruchsicher und spülmaschinengeeignet ist, in kleine Stücke, die sie anschließend Schicht für Schicht miteinander verschmilzt. „Von der Konsistenz fühlt sich das in dem Moment ein bisschen an wie Kaugummi“, erzählt sie. Das Endergebnis sind individuelle Wein-, Sekt- oder Grappagläser mit bunten Stielen, von denen keins dem anderen gleicht.
„Ich sehe das als meditativen Prozess“
Für die Glasbläserin ist das eine der Arbeiten, die sie besonders gerne mag. „Ich sehe das als meditativen Prozess“, berichtet sie. „Dabei kann ich ausgesprochen gut abschalten.“ Oft beschäftigt sie sich dann mehrere Stunden am Stück damit, Stiele zu fertigen. Dabei wählt sie die Farben der einzelnen Schichten je nach Lust und Laune aus: „Genau das lieben die Kunden, dass jedes Glas anders aussieht.“ Seit 1994 betreibt die gebürtige Darmstädterin, die der Liebe wegen nach Bremen kam, nun schon ihre eigene Glasmanufaktur. Zunächst im touristisch geprägten Schnoor, seit 1999 auf der anderen Weserseite. Dort lassen sich Familie und Beruf besser unter einen Hut bringen, denn die Werkstatt befindet sich nun im Erdgeschoss ihres Wohnhauses. „In den ersten Jahren saß ich hier oft abends mit Babyfon“, erinnert sie sich. Und auch jetzt kommt sie manchmal noch zu später Stunde nach unten, um ein paar Arbeiten zu erledigen.
Von der Technik zur Kunst gekommen
Ursprünglich hatte Borgardt eine Ausbildung zur Glasapparatebauerin gemacht, die sie 1987 als Bundessiegerin des Zentralverbands des Deutschen Handwerks abschloss. Ein paar Jahre arbeitete sie als technische Glasbläserin und stellte Apparaturen für Forschungsbetriebe her. Dann kam sie nach Bremen und fand zunächst eine Anstellung in einer kleinen Glasbläserei – für sie ein Sprung ins kalte Wasser, wie sie rückblickend sagt. „Am Anfang brauchte ich zwölf Versuche für vier Gläser, bis alles passte“, erzählt sie. „Aber Übung macht die Meisterin.“ Mit der Zeit kam nicht nur die Routine, sondern auch der Mut, Neues auszuprobieren. In ihrer eigenen Glasmanufaktur fertigt sie nicht nur Gläser, Krüge und Karaffen, sondern auch Schmuck, kunstvolle Figuren und individuelle Auftragsarbeiten. Die Frage, ob sie sich als Handwerkerin oder als Künstlerin sieht, stellt sich für sie nicht. „Ich bin beides“, macht sie deutlich. „Die Mischung macht es.“
Faszinierendes und störrisches Material
Zu ihren Lieblingsstücken gehört die Skulptur „Frau mit Hut“, an deren erster Version sie ein halbes Jahr gearbeitet hat. „Wenn ich etwas Neues mache, ist die spannende Frage immer, ob es mir auch gelingt“, erzählt Irene Borgardt. „Das ist oft ein Prozess, der lange dauert. Und dann kommt irgendwann der Moment, wo es flutscht und das Stück komplett ist.“ Der Wechsel aus kreativen und meditativen Elementen ist es, der den Beruf für sie so faszinierend macht. „Zusammen mit dem Material selbst. Diese Transparenz, die gibt es bei keinem anderen Werkstoff.“
Wobei das Glas durchaus auch seine störrischen Seiten hat, wie die 54-Jährige an manchen Tagen erleben muss. Je nach Endprodukt arbeitet sie mit Hart- oder Weichglas, wobei Letzteres sehr empfindlich ist und unter der Flamme schnell schon einmal kaputtgeht. Es darf daher nur sehr sanft geblasen werden, während Hartglas mehr Druck erfordert. „Für Weichglas braucht man viel Ruhe und eine ganz ruhige Hand“, berichtet sie. „Wenn ich mit Weichglas anfange und es läuft gut, blase ich eine Kugel nach der anderen. Aber wenn ich selbst nicht so geduldig bin, zerspringt jede Röhre – dann wechsele ich zu Arbeiten, für die ich Hartglas brauche.“
Zweiter Standort in der Bremer Böttcherstraße
Neben ihrer Hauptwerkstatt hat die Glasbläserin vor drei Jahren noch einen zweiten Standort in der besonders bei Touristen beliebten Böttcherstraße eröffnet. Zusammen mit der Glasgraveurin Angela Dödtmann betreibt sie dort im Handwerkerhof einen kleinen Laden, in dem die beiden Frauen sich gegenseitig vertreten und auch gemeinsame Produkte anbieten. Schon bei der Fertigstellung der Straße 1931 gehörte es zu den Grundgedanken der Initiatoren, dass Handwerker ihre Arbeit zeigen sollen und die Verbindung von Kunst und Handwerk erlebbar wird. Und so verkauft Irene Borgardt nicht nur ihre Produkte, sondern erledigt auch kleinere Arbeiten und lässt sich dabei gerne über die Schulter schauen. „Es kommt häufig vor, dass Gäste sich zeigen lassen wollen, was ich hier mache. Gerade auch mit Kindern. Das freut mich dann immer, wenn ich das Interesse sehe.“
„Dieser Beruf wird nicht aussterben“
Insgesamt ist die Zahl von Glasbläserinnen und Glasbläsern, die ihren Beruf als traditionelles Handwerk ausüben, mittlerweile überschaubar. In ganz Deutschland gebe es noch knapp 500 „Träger dieses impliziten Wissens“, heißt es in einer Veröffentlichung der Unesco, die die manuelle Fertigung von mundgeblasenem Hohl- und Flachglas 2015 in das bundesweite Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe aufgenommen hat. Die Arbeit setze ständige Übung und Erprobung voraus, steht dort weiter – Perfektion bilde sich im günstigen Fall nach zehn Jahren aus. „Das kommt hin“, meint Irene Borgardt. Bei ihr habe es acht Jahre gebraucht, bis sie sich mit allem sicher gefühlt habe. Zugleich bedeutet das aber auch, dass bestimmte Prozesse, die besondere Fingerfertigkeit erfordern, nie von Maschinen übernommen werden können. „Dieser Beruf wird nicht aussterben“, ist die 54-Jährige überzeugt. „Es werden sich immer Bereiche finden lassen, in denen wir der Industrie voraus sind. Man muss nur sehen, dass man besonders bleibt.“