Die bürgerliche Esskultur setzt sich durch – Folge 1

So kochte Kiel 1820 - 1870
18. Januar 2020

Ein Gastbeitrag von Dr. Doris Tillmann, erstveröffentlicht am 19. Januar 2019



Wandel in Bevölkerung, Handel und Ernährungswirtschaft

Der stärkste Wandel von Ernährungsweisen und Esskultur vollzog sich in Deutschland mit dem Wechsel von der agrarisch geprägten vormodernen hin zur städtischen Gesellschaft. Um 1800 lebten erst etwa 25 % der deutschen Bevölkerung in Städten und rund 75 % auf dem Land. Die wenigen kleinen Städte waren in ein größeres landwirtschaftlich geprägtes Umfeld eingebettet, das diese mit Lebensmitteln versorgte. Während bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung hinsichtlich der Nahrung eine weitgehende Selbstversorgung vorherrschte, war die Stadtgesellschaft arbeitsteilig organisiert; hier gab es Handel und Handwerk, und die Bürger bezogen vorwiegend käufliche Nahrungsmittel. Doch die Agrargesellschaft wandelte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Industriegesellschaft, um im weiteren Laufe der Zeit zur Dienstleistungsgesellschaft zu werden. Diese Umwandlung erfolgte unter anderem durch die zunehmende Mechanisierung der Landwirtschaft und die daraus resultierende Freisetzung von Arbeitskräften – nicht zuletzt durch die Aufhebung der Leibeigenschaft. In der Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse wanderten sie in die Städte ab, die sich dadurch schnell vergrößerten.

Der Prozess der Urbanisierung erreichte einen Höhepunkt in Europa vor allem im späten 19. Jahrhundert. Mit der Zunahme von Lohnarbeit ging die Selbstversorgung auf dem Lebensmittelsektor zurück. Die Bedeutung des Lebensmittelhandwerks bzw. -gewerbes und des Lebensmittelhandels stieg entsprechend. Noch lange waren diese Gewerbezweige in den Städten zünftig organisiert und obrigkeitlich streng reglementiert, doch insbesondere der Handel drängte nun zunehmend auf wirtschaftliche und politische Freiheit, die er für seine Weiterentwicklung brauchte.


Außerdem brachten schon seit dem 18. Jahrhundert neue Handelsbeziehungen überseeische Lebensmittel auf den Markt wie Zucker, Reis, Kaffee, Kakao, Südfrüchte etc., die dem Handel lukrative Geschäfte versprachen. Produktionssteigernde Technologien in der Landwirtschaft und auch erste lebensmitteltechnologische Neuerungen bei Verarbeitung und Konservierung der Nahrung – alle zunächst unter dem Vorzeichen der Nahrungssicherheit entwickelt – führten zur Veränderung und speziell zur Diversifizierung in der Ernährungsweise. Genannt sei hier auch die aufstrebende Lebensmittelchemie:

So entwickelte Justus von Liebig seit den 1840er Jahren einen flüssigen Fleischextrakt und vermarktete ihn sehr erfolgreich. Gleichzeitig setzte die Industrialisierung der Ernährungswirtschaft mit verbesserter technischer Verarbeitung der landwirtschaftlichen Rohprodukte etwa in den maschinell betriebenen Mühlen ein. In den wachsenden Städten entstanden Großbetriebe zur Versorgung der Bevölkerung, so wurde die erste Großbäckerei in Berlin 1844 gegründet.

© Doris Tillmann

Zu Beginn dieser Umbruchszeit, also Anfang des 19. Jahrhunderts, war Kiel als Hafenstadt mit ca. 10.000 Einwohnern ein städtischer Mittelpunkt und ein Handelszentrum der gutswirtschaftlich geprägten östlichen Agrarregion Schleswig-Holsteins. Insbesondere zur Probstei, die mit ihren guten Böden und wohlhabenden Bauern als Kornkammer an der Förde galt, pflegten die Kieler gute Handelskontakte. Landwirtschaftliche Waren zur direkten Versorgung der Bevölkerung wie Gemüse oder Eier lieferten auch die an die kleine Stadt angrenzenden Bauerndörfer wie Brunswik, Russee, Meimersdorf oder auch Gaarden, das über eine kleine Fähre mit Kiel verbunden war; Fisch brachten die Ellerbeker Fischerfrauen in die Stadt.


Kiel und Holstein waren Teil des dänischen Gesamtstaates, der Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts eine merkantilistische Wirtschafts- und Handelspolitik verfolgte; ihr unterlag auch die Entwicklung von Handel und Lebensmittelgewerbe. Dabei wurden die produktiven Kräfte im Inland und die Exporte heimischer Waren aktiv gefördert, um Überschüsse im Außenhandel zu erwirtschaften. Starke Zoll- und Einfuhrbeschränkungen sollten die heimische Wirtschaft schützen; sichtbares Zeichen der protektionistischen Wirtschaft war die Zollschranke an der Klinke in Kiel. Die obrigkeitliche Reglementierung des Handels erfolgte durch eine königlich dänische Hökereiordnung, die den Warenverkehr insbesondere von Importen, also den sogenannten Kolonialwaren, in Stadt und Land steuerte.


Zur Förderung des Handels und Stärkung der inländischen Wirtschaft waren große Infrastrukturmaßnahmen in Angriff genommen worden, so der Schleswig-Holsteinische Canal bzw. Eider Canal; Kiel bekam damit eine direkte Anbindung an die Zentren überseeischen Handels. Für kurze Zeit erfuhr der Kieler Handel einen enormen Aufschwung durch die Kontinentalsperre während der Napoleonischen Kriege; doch deren Ende mit der Niederlage Dänemarks und dem Kieler Frieden brachte Kiel im sogenannten Schweden- oder Kosakenwinter eine harte Besatzungszeit mit Hunger und Not. Es folgten Staatsbankrott und Wirtschaftskrise einhergehend mit einem Anstieg der Getreidepreise. Erst Ende der 1820er Jahre kam es wieder zu einem allmählichen Aufschwung mit einem Anstieg der Handelsaktivitäten.


Der wirtschaftliche Höhepunkt jeden Jahres war bis Mitte des Jahrhunderts der Kieler Umschlag als wichtigster Handelstermin mit Geld- und Warenumschlag, zugleich wurde ein Jahrmarkt mit Vergnügung und Volksbelustigung sowie einem üppigen Angebot an Essen und Trinken abgehalten. Aber auch hier gab es bald neue gewerbliche Tendenzen: 1832 fand im Zusammenhang mit dem Umschlag erstmals eine Kunst-, Industrie- und Gewerbeausstellung statt. Seit der Gründung der Börse und damit der Einführung des bargeldlosen Handels verlor der Umschlag seine Bedeutung.


Die Bevölkerung der Stadt wuchs bis Mitte des Jahrhunderts auf ca. 15.000 Menschen an, Ende der 1860er Jahre waren es bereits über 20.000, was vor allem auf eine steigende Abwanderung vom Land in die Stadt zurückzuführen ist. Längst war Kiel über die Grenzen der Stadtmauer hinausgewachsen, nun entstanden die neuen Stadtviertel Exerzierplatz oder Damperhof mit erster, noch recht kleinräumiger innerstädtischer Wohn- und Mietshausbebauung. Auch frühe industrielle Produktionen wurden verzeichnet, und zwar in Form kleiner Manufakturen oder gewerblicher Verarbeitungsbetriebe: 1781 zählte die Berufsstatistik noch 6 »Fabrikanten«, 1864 waren es 543. Die Einrichtung einer Dampfschifffahrtslinie (1819), der Altonaer Chaussee (1832) und der Kiel-Altonaer Eisenbahn (1844) hatten durch schnellere und weitreichende Transportmöglichkeiten einen großen Einfluss auf die Entwicklung von Handel und Gewerbe in Kiel.


Die Kieler Krämerkompagnie wuchs entsprechend: sie hatte 1844 73 Mitglieder. In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich in Kiel bereits eine große Zahl von Gewürz- und Kolonialwarenhändlern angesiedelt, die »fremde Waren« vertrieben. Damals war Kiels Entwicklung wiederum stark politisch geprägt durch die schwierige Loslösung von Dänemark. Sie sollte u. a. ein Ende der protektionistischen Wirtschaftspolitik sowie Einführung der Gewerbefreiheit und damit die Öffnung neuer Märkte bringen.

© Ingo Wandmacher


Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war von kulturellen und mentalen Veränderungen geprägt: Der Beginn der Industrialisierung ging einher mit dem seit der französischen Revolution einsetzenden kulturellen und sozialen Wandel, bei dem der Adel nicht nur seine politische, sondern auch seine gesellschaftliche Leitfunktion zu Gunsten des Bürgertums verlor. Das galt auch für Kiel, wo Ende des 17. Jahrhunderts über 70 Adelsfamilien ihre Wohnsitze hatten und entsprechend große Haushaltungen führten. Viele Gutsbesitzer verbrachten hier den Winter und genossen das gesellschaftliche Leben in der Stadt. So trafen in Kiel adelige und bürgerliche Gesellschaft aufeinander, und adeliger Lebensstil war lange Zeit Vorbild für das aufstrebende Bürgertum, etwa bei gesellschaftlichem Umgang und Etikette, bei Wohnkultur und Tischsitten.


Anfang des 19. Jahrhunderts kehrte sich diese Entwicklung um: Der biedermeierliche Stil hielt Einzug in die Adelshäuser. In Kiel hatten die Universität und die Professorenschaft großen gesellschaftlichen Einfluss, so dass sich hier ein aufgeklärter Geist und Lebensstil durchsetzten; zahlreiche bürgerliche Vereine wurden Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet, so 1841 die Liedertafel, 1843 der Kunstverein, 1844 der erste Turnverein. Seit dieser Zeit bestimmten bürgerliche Konventionen auch die Esskultur. Zentrales Moment neuer gesellschaftlicher Werte und Normen war die Familie:


An ihrer Spitze stand der Vater, der mit seinen Geschäften oder anderem außerhäuslichen Erwerb für ihre Versorgung zuständig war, während die Hausmutter im häuslichen Bereich verantwortlich für die Familienarbeit und Kindererziehung war. Gesinde gab es nur verhältnismäßig wenig, bei Handwerkerfamilien zählten auch die Lehrlinge und Gesellen zum Haushalt, so dass die zu versorgende Familiengröße in Kiel durchschnittlich bei etwa fünf bis sechs Personen lag.

Familienbrauchtum rund um die Ernährung und Tischsitten waren Spiegel und zugleich gesellschaftlicher Kitt dieser Strukturen, die auch in nicht- bürgerlichen Schichten zum gesellschaftlichen Ideal wurden. Zunehmende Lohnarbeit und in ihrer Folge das Auseinanderdriften von Erwerbs- und Familienarbeit ließen ein an Küche und Hauswirtschaft gebundenes Frauenideal entstehen und verfestigten es.



Lebensmittelwirtschaft und Versorgung

Für die Lebensmittelproduktion und -versorgung in der Stadt war traditionell das Lebensmittelhandwerk zuständig. Seine Produktion und der Warenvertrieb einschließlich der Preisgestaltung waren seit dem Mittelalter zünftig geordnet. Das wichtigste Lebensmittelhandwerk waren die Bäcker, und zwar die Grobbäcker, die das preiswerte Roggen- oder Schwarzbrot lieferten, sowie die Feinbäcker, die feines Weißbrot aus Weizenmehl herstellten. Das Bäckeramt – also die Bäckerzunft – fand 1472 in Kiel seine erste Erwähnung; seine Mitglieder boten ihre Waren in den »Brotschrangen« feil, die sich bis 1731 am St. Nikolaikirchhof, danach unter den Schwibbögen des Rathauses befanden.4 Seit der Frühen Neuzeit gab es nur noch das Amt der Weißbäcker in Kiel mit dem alleinigen Recht zum Brotverkauf. Noch 1843 bestätigte die Amtsrolle des Weißbäcker-Amtes, dass »weder zu Lande noch zu Wasser fremdes Brodt oder fremdes Mehl zur Stadt zum Verkauf gebracht werden« darf, und zwar bei »Strafe der Confiscation zu Gunsten der Armenhäuser«. Die Grobbäcker durften nur den in den Haushalten vorbereiteten Teig gegen Lohn in ihren Öfen abbacken. Das Backen von Brot in privaten Haushalten war in den Städten nicht üblich, weil es in den Häusern keine geeigneten Backöfen gab.

Im Kieler Adressbuch von 1862 sind sechs solcher Grobbäcker verzeichnet. Nicht nur das Bevölkerungswachstum, sondern vor allem die Umstellung der Ernährungsweise weg von der traditionellen Grütz- und Breikost, führte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Neugründungen von Bäckereien in Kiel, darunter z. B. auch 1815 die Stadtbäckerei Lange am Markt oder 1833 die Bäckerei Flügge, die sich später zu einer Brotfabrik weiterentwickelte. Die Entwicklung des Bäckerhandwerks verlief weitgehend analog zum Wachstum der Kieler Einwohnerschaft: 1787 waren es 16 Meisterbetriebe, 1835 stieg die Zahl auf 28, und 1864 konnten 51 selbständige Meister registriert werden. Große Nähe zum Bäckerhandwerk hatte auch das nicht in Ämtern organisierte Handwerk der »Kuchenbäcker« und das Konditorgewerbe, das seit 1722 in Kiel belegt ist. Die meist von auswärts zugewanderten Konditoren waren auf vornehme, zunächst adelige Kundschaft ausgerichtet. So führte Diedrich Diedrichsen 1732 den Titel »Hofkonditor«, weil er die herzogliche Hofführung im Kieler Schloss belieferte. Der »Conditor« Eduard Tröglen empfahl sich im Kieler Adressbuch von 1862 mit » sämtlichen Sorten eingemachter Früchte und Fruchtsyrups, Gelees, Torten, Desserts, Eis, feinster Chokoladen, Lübecker Marzipane, nebst einer reichen Auswahl hübscher und billiger Weihnachtsconfitüren«. Es gab in Kiel also schon Mitte des 19. Jahrhunderts ein sehr umfangreiches Angebot an exquisiten Süßwaren. Die Konditoren übernahmen Ende des 18. Jahrhunderts auch den Kaffeeausschank und fanden dabei ein vorwiegend akademisches Publikum wie im Universitätskaffeehaus in der Kehdenstraße oder dem Akademischen Kaffeehaus in der Schuhmacherstraße.

© MMF Stadt Kiel

Als weiteres wichtiges Lebensmittelhandwerk waren die Schlachter im Amt der Knochenhauer organisiert, die ihre Verkaufsbuden in der Küterstraße hatten. Ihren Betrieben oblag die Schlachtung und Verarbeitung von Vieh, insbesondere von Rindern und Schweinen, die sie auf eigene Rechnung auf Märkten oder bei Bauern ankauften. Die zünftig organisierten Schlachter nahmen in der Regel keine Haus- oder Lohnschlachtungen vor. Das Schlachtvieh wurde komplett verarbeitet und verkauft, dem Schlachterhandwerk nachgeordnet waren

Gerbereien oder andere Verarbeiter von tierischen Produkten. Frischfleisch wurde lange bis zur Reife abgehangen. Es war sehr teuer und galt als Festtagsspeise. Konserviertes Fleisch wurde in Form von Wurst- und Räucherwaren angeboten, aber auch gesäuerte Waren wie Schwarzsauer kamen in den Verkauf. Wichtiges Verkaufsgut war das beim Schlachten anfallende tierische Fett wie Speck, Schmalz und Talg für die Verwendung in der Küche zum Braten und Sieden. Die Tierzucht und -haltung war dementsprechend auf einen hohen Fettansatz ausgerichtet. Wie stark der Fleischkonsum bzw. die Nachfrage nach Fleisch während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg, zeigt die Statistik: 1787 gab es 22 Schlachtermeister in Kiel, 1803 waren es 27, 1821 stieg die Zahl auf 36, 1835 auf 43, 1840 auf 48 und 1864 auf 85 Meister, so dass trotz steigender Nachfrage von einer starken Überbesetzung dieses Handwerks in Kiel gesprochen wurde. Eine Sonderstellung unter den Kieler Lebensmittelversorgern hatten die Fischer und Fischhändler. In der Nähe von fast allen norddeutschen Küstenstädten siedelten sich seit dem Mittelalter Fischerfamilien zur Versorgung der städtischen Bevölkerung an, so auch in Ellerbek bei Kiel. Der Fisch wurde täglich frisch im Straßenhandel oder in Buden am Bootshafen an die private Kundschaft verkauft. Die Küstenfischerei an der Förde und der Kieler Bucht erbrachte saisonale Überschüsse insbesondere an Heringen und Sprotten, die von den Fischerfamilien als Räucherfische konserviert und in den Handel gebracht wurden. Hieraus entstand ein lukratives Exportgeschäft ins weitere Umland, so dass sich bald Fischverarbeitung und -handel zu eigenständigen Gewerben entwickelten; Kieler Räuchereien und Fischexporteure verarbeiteten ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Fische aus Skandinavien, weil die kleingewerbliche Fischerei an der Förde den Bedarf an Rohwaren kaum mehr decken konnte.

Allmählich blühte auch das als Manufaktur oder Fabrik konzessionierte Lebensmittelgewerbe in Kiel auf, also nicht unter Zunftzwang stehende Betriebe, die unter Einsatz von Maschinen und Lohnarbeit Nahrungs- und Genussmittel herstellten. Sie arbeiteten meist nicht nur für die Versorgung der Stadt, sondern auch für den weiterreichenden Vertrieb: An Fabriken und Manufakturen der Lebens- und Genussmittelbranche gab es in Kiel Mitte des 19. Jahrhunderts z. B. eine Zichorienfabrik von Kelmm zur Herstellung von Kaffeesurrogaten, die den in Mode gekommenen Kaffeegenuss auch für weniger begüterte Familien möglich machte, und die Schokoladenfabrik von Bünning sowie zwei Zuckerraffinaden von Jaspersen und Petersen, es waren jedoch für heutige Begriffe eher Kleinbetriebe mit sehr wenigen Arbeitskräften.

Die fabrikmäßige Produktion aus Rübenzucker war erstmals 1801 erprobt worden und löste sehr schnell die teure Herstellung aus überseeischem Zuckerrohr ab. Bis zur Mitte des Jahrhunderts entwickelte sich Zucker zu einem preiswerten Massenprodukt, das vor allem bei der Konservierung von Lebensmitteln Verwendung fand. Auch die Verarbeitungs- bzw. Veredlungsbetriebe heimischer Agrarerzeugnisse wie des Brotgetreides veränderten sich. Das Korn wurde in den konzessionierten Mühlen im Kieler Umland gemahlen, die ihre Produkte an den Lebensmittelhandel vor Ort weitergaben. In der Eckernförder Chaussee (heute Eckernförder Straße 69) gab es seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine städtisch konzessionierte Graupenmühle. Gegen Zahlung eines entsprechenden »Windgeldes« durch den Müller verpflichtete sich die Stadt, keine weiteren Graupen- und Grützmüller auf dem Stadtfeld zuzulassen. Die aus dieser Zeit stammende alte Bockwindmühle wurde später durch eine »Dampf-Brennerei und Destillation« ergänzt, auch der Mühlenbetrieb wurde auf Dampfantrieb umgestellt. Im Kieler Adressbuch von 1848 sind dann insgesamt sechs Grützmacher aufgeführt. Lebensmittel waren schon früh lukrative Handelsgüter, das gilt insbesondere für Genussmittel und Luxuswaren, etwa Wein oder Gewürze.

© Kieler Stad Archiv

Die Kaufleute waren in Ämtern organisiert, auch in Kiel gab es die traditionsreiche Krämerkompagnie. Wie bei anderen Handelsgütern war der Lebensmittelhandel in Groß- und Klein- bzw. Einzelhandel gegliedert. Der Fern- und Großhandel sorgte für den Gütertransport und die Einlagerung zum Weiterverkauf, während der Einzelhandel – auch als Direkt-, Detail- oder Kleinhandel bezeichnet – den Verkauf von Handelsgütern an Privatkunden als Endabnehmer übernahm. Er war in der Regel nur den ortsansässigen städtischen Kaufleuten erlaubt, die ihre Waren in Buden (Läden) oder Marktständen feilhielten. Der ebenfalls gebräuchliche Begriff der Hökerei geht auf den Kleinhandel eines mit seinen Waren auf der Erde sitzenden oder hockenden unzünftigen Händlers zurück. Daneben gab es noch den mobilen oder fahrenden Handel, der nur mit Ausnahmekonzessionen in die Stadt kam. Das Kieler Adressbuch von 1862 zählt bereits fünfzig als »Gewürz- und Colonialwarenhandlungen« bezeichnete Lebensmittelhändler aller Kategorien auf, darunter teilweise recht kleine Geschäfte und Hökereien.

Ansässige Lebensmittelhändler verkauften vor allem Produkte aus der Landwirtschaft und den ihr nachgeordneten Gewerben, etwa Mühlenprodukte, getrocknete Hülsenfrüchte, Honig, konservierte Butter, Speck etc., die die Kaufleute bei Zwischenhändlern oder direkt von den Mühlen und anderen Herstellern erwarben und an ihre Kunden weitergaben. So inserierte die »Gewürz- und Colonialwarenhandlung« Herrmann Werner in der Fleethörn im Kieler Adressbuch von 1862 etwa den Verkauf von »Kaltenhöfer Dampfmühlenfabrikaten«, also Mehl und Grütze aus Kaltenhof. Im Einzelhandel an die Verbraucher abgegeben wurden auch einheimische Fabrikwaren, also Lebensmittel oder Zu taten, die entsprechend dem Hökerreglement im Inland hergestellt bzw. veredelt waren, dazu zählten etwa der vor Ort raffinierte Zucker sowie Sirup als sein Nebenprodukt, ferner Salz, Essig oder Senf und gelegentlich auch Fisch in konservierter Form: Stockfisch, eingesalzene oder geräucherte Heringe.

Neben den »Fabrikwaren« stieg auch der Handel mit Importwaren, den sogenannten Kolonial waren, zu denen nicht nur Kaffee, Tee oder Kakao zählten. So war zum Beispiel die Nachfrage nach Reis gewachsen, der in der bürgerlichen Küche immer beliebter wurde. Gern wurde er mit Rosinen oder Trockenfrüchten als Süßspeise gegessen, entsprechend wurden diese Produkte zunehmend angeboten. Frische Zitrusfrüchte kamen vor allem im Herbst und Winter über den Hamburger Hafen nach Kiel und galten als saisonale Delikatesse. In getrockneter Form kamen sie als kandierte Früchte in den Handel. Traditionelle Handelswaren waren auch Salz und viel fältige Gewürze, die in den Haushalten vor allem für die Lebensmittelkonservierung gebraucht wurden.

Neben den allgemeinen Lebensmittelhändlern gab es zunehmend spezialisierte Handlungen, die Waren von besonderer Qualität anboten, etwa die Butterhandlung Seibel seit 1845, die sich auch auf die Konservierung der Fettwaren konzentrierte. Der direkte Lebensmittelverkauf an die Kunden erfolgte zumeist in sehr kleinen Mengen. In den Läden gab es keine Auslage oder Schaufenster, die Waren wurden »lose« an die Kunden verkauft, also direkt aus Säcken oder Fässern für die Kunden abgefüllt. Neben dem gewerblichen Handel gab es auch den Direktvertrieb landwirtschaftlicher Produkte, also Gemüse und andere bäuerliche Waren wie Eier oder Geflügel auf den Wochenmärkten. Die Marktordnung von 1867 gab vor, dass hier folgende Waren angeboten wurden: »rohe Naturerzeugnisse mit Ausnahme größeren Viehs« sowie »Fabrikate, deren Erzeugung mit der Land- und Forstwirtschaft, dem Garten- und Obstbau oder der Fischerei in unmittelbarer Verbindung steht, oder zu den Nebenbeschäftigungen der Landleute der Gegend gehört, oder durch Tagelöhner-Arbeit bewirkt wird…« und »frische Lebens mittel aller Art.«

Es wird deutlich, dass hier zwischen dem mobilen Markthandel und dem stationären gewerblichen Handel in Geschäften mit ihrem überregionalen Warenangebot streng getrennt wurde. Nicht auf dem Markt gehandelt wurden Erzeugnisse des zünftigen städtischen Handwerks mit Ausnahmeregelungen für Schlachter. Der Markt wurde an allen Wochentagen vom frühen Morgen bis um 12.30 Uhr mittags abgehalten, Hauptmarkttermine waren jedoch Mittwoch und Donnerstag, und zwar auf dem Marktplatz (heute Alter Markt), auf dem Neumarkt (heute Rathausplatz) und am Fischerleger (heute Wall), wo vor allem Fisch verkauft wurde. Die Kieler Hausfrauen konnten also täglich – mit Ausnahme des Sonntags – frische Lebensmittel der Saison aus der Region einkaufen. Neben dem steigenden Angebot käuflicher Lebensmittel gab es in vielen Kieler Haushalten noch immer einen hohen Grad an selbstversorgerischer Ernährung zumindest mit Gartenfrüchten: Auch in Kiel gehörten zu vielen Häusern Höfe oder kleine Grundstücke, die für den Gartenbau genutzt wurden.

Für den Warleberger Hof und seine Nachbargebäude sind Küchengärten mit Gemüsebau belegt.13 Und der Name Gartenstraße weist noch heute darauf hin, dass es hier im Norden der Stadt Gärten gab. 1847 waren 1.347 Tonnen städtische Ländereien und 25 Tonnen Stadtgärten verpachtet. Henning Oldekop berichtet in seinen topografischen Betrachtungen von 12,5 ha städtischen Pachtgärten im Jahr 1868 und gut 3.500 Gärten auf 175 ha Fläche. In den Küchengärten war vor allem der Anbau von Bohnen und anderen Hülsenfrüchten verbreitet, etwa von großen Bohnen oder gelben Erbsen, die sich in getrocknetem Zustand gut aufbewahren ließen. Auch Kohlgärten wurden angelegt, denn dieser ließ sich ebenfalls gut konservieren.

© Stadtarchiv Kiel

Frisches Feingemüse zum sofortigen Verzehr gab es nur in professionell geführten Gärtnereien oder auf den Gütern, der private städtische Gartenbau zielte eher auf eine einfache Selbstversorgung mit Dauergemüse ab. Erwähnenswert ist, dass bis Mitte des Jahrhunderts in den Hausgärten nur selten Kartoffeln angebaut wurden. Die zunächst sehr exotische Pflanze fand ihre weitere Verbreitung durch staatliche Propaganda und Förderung im 18. Jahrhundert in der Landwirtschaft und setzte sich erst später in den Hausgärten durch. Neben Gartenprodukten wurde auch Kleinvieh in den Städten gehalten. Eine Darstellung der Kieler Innenstadt von Adolf Lohse von 1865 zeigt die ehemaligen Universitätsgebäude am Heiligengeistkloster:

Ein Mann führt eine Kuh aus einem offenbar als Stall genutzten Fachwerkbau, und aus dem daran angrenzenden Schweinekoben versuchen zwei Schweine auszubrechen. Das kleine Ölgemälde romantisiert die »alte Zeit«, mag aber in Bezug auf eine gewisse Viehhaltung in der Stadt durchaus realistisch sein. Neben privater selbstversorgerischer Kleinvieh- und Geflügelhaltung gab es auch »von der Landwirtschaft lebende ‚Hauptpersonen‘«, 1864 wurden 17 Landwirtschaften bzw. Gartenbaubetriebe in der Stadt gezählt. Das wichtigste Lebensmittel ist das Wasser, und auch wenn die Getränke in dieser Abhandlung weitgehend unberücksichtigt bleiben, soll die Wasserversorgung kurz gestreift werden, weil sie für die Speisezubereitung unerlässlich ist. Während das Kieler Schloss sowie einige privilegierte Haushaltungen durch ein hölzernes Rohrsystem mit Wasser guter Qualität aus dem Schreventeich versorgt wurden, erhielten andere Zapfstellen Wasser aus dem Galgenteich, der 1847 zum Hauptreservoir ausgebaut wurde.

In den 1860er Jahren wurde dann ein eisernes Rohrnetz vom Schreventeich ausgehend angelegt, das zahlreiche Pumpen in den Kieler Straßen versorgte. Leitungen bis in die Haushaltungen gab es nur selten, und so mussten die Hausfrauen oder ihre Dienstmädchen das Wasser mit Eimern von draußen aus den Brunnen holen. In der Küche standen sie dann auf der Wasserbank zum Gebrauch bereit.

(Auszug aus dem Buch: „Kiel kocht. Lebensmittelversorgung, Ernährung und Esskultur im 19. Und 20. Jahrhundert.)

Doris Tillmann ist Museumsdirektorin (Kieler Stadtmuseum, Schifffahrtsmuseum) und Leiterin des Kieler Stadtarchivs.

© Dr. Doris Tillmann

 

 

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