Michael Engelbrecht

Nordeuropahistoriker und Skandinavist

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Männer ohne Hörnerhelme

Die Geschichte der Wikinger
4. Januar 2022

Stellen Sie sich vor, Sie sind skandinavischer Landwirt und im Sommer fahren Sie gemeinsam mit 20 Nachbarn auf einem Schiff durch Nord- und Ostsee. Sie wollen mitgenommene Handelswaren aus eigener Produktion in anderen Regionen bestmöglich verkaufen, außerdem Dinge, die Sie benötigen, preiswert erwerben und mit nach Hause bringen. Auf der Suche nach einem Handelsplatz legen Sie an einer Küste an, denn an dieser Küste sehen Sie eine Ansammlung von Gebäuden aus Stein. Diese werden ausschließlich von Männern in langen Kleidern bewohnt, die einen Mann anbeten, der auf ein Stück Holz genagelt wurde. Die Siedlung ist voll mit Schätzen aus Silber und Gold, dazu gibt es reichlich Essen, Bier und Wein. Die männlichen Bewohner sind zum Schutz ihrer Siedlung nicht einmal bewaffnet und kommen Ihnen singend und lamentierend entgegen. Was würden Sie tun? Das ist doch eine Einladung zum kostenlosen Einkauf.

So erging es einer Schar von Handelsreisenden aus den heutigen skandinavischen Ländern, die im nordöstlichen England um 793 auf das an der Küste gelegene angelsächsische Kloster Lindisfarne trafen und ihre Chance nutzten – mit fatalen Folgen, die bis heute nachwirken. Mobilität und Seehandel waren im Norden nicht neu. Dank des Wohlstandes während der Vendelzeit nahmen sowohl die Bevölkerung im Norden als auch der Handelsverkehr zu. Der Norden produzierte unternehmungslustige Seefahrer und auswanderungswillige Abenteurer. Die iroschottische Mission war in vollem Gange, doch noch waren nicht alle Bewohner des Nordens christianisiert. Als nun eine Gruppe von nordischen Seefahrern zum Kloster Lindisfarne kam, kannten oder wertschätzten sie als Nichtchristen die Lebensform der Mönche nicht und benahmen sich aus Sicht der Mönche falsch. Was die Seefahrer nicht wussten oder bedachten, war, dass ausgerechnet die Klöster und ihre mönchischen Bewohner diejenigen waren, die als Schriftkundige alle Ereignisse für die Nachwelt aufzeichneten. Mit einem Schlag, im wahrsten Sinne des Wortes, hatten die nordischen Seefahrer (vermutlich altnordisch: vikingr) ihren Ruf verdorben. Seitdem geistern sie unter dem Sammelbegriff Wikinger als räuberische, mordende und plündernde Gesellen durch die Weltgeschichte. Mit der Wirklichkeit hat dieser Ruf nichts zu tun, denn diese sieht ganz anders aus. 

Das Gokstadboot prägte entscheidend die Vorstellung von Wikingerschiffen. Nasjionalbibliotheket Oslo/ Public Domain


Gute Bootsbauer

Die Bewohner des Nordens hatten die Schiffe der Völkerwanderungszeit vom Typ des Nydam-Boots weiterentwickelt. Die Boote waren nach wie vor relativ flach und konnten daher überall fahren, auch in seichten Gewässern, und an allen Küsten – ob mit oder ohne Hafen – anlanden. Neben die Ruder, seemännisch: Riemen, war als Antrieb ein Segel getreten, das bei günstigem Wind die Fahrt erleichterte und beschleunigte. Es gab verschiedene Schiffstypen, lange schmale für den schnellen Menschentransport – Langschiffe oder snekkja genannt –, breite mit dem Namen knorr oder knarr für den Warentransport und unterschiedliche Küstenboote. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wusste man nicht genau, wie diese Schiffe aussahen, denn man kannte sie nur von Beschreibungen schriftlicher Quellen und von Bildsteinen auf der Insel Gotland. Dies änderte sich 1880, als im Oslofjord bei Gokstad und Oseberg zwei mit Langschiffen ausgestattete Gräber entdeckt und ausgegraben wurden. Seit diesen Funden schrieb man den Wikingern vor allem Langschiffe zu und damit Personentransport und kriegerische Tätigkeiten. Das Ganze wurde 1893 durch eine Fahrt von Norwegern in einem Langschiffnachbau zur Weltausstellung nach Chicago publikumswirksam verstärkt. Ob in Hollywood, in Comics oder auf Gemälden: Wikinger durchqueren die Welt auf Langschiffen. Der breite Bootstyp der Handelsschiffe und damit der Handelsaspekt der Wikinger wurden in den Hintergrund gedrängt. Die Geschwindigkeit und die Seetüchtigkeit der Wikingerschiffe waren beträchtlich. Das zeigte sich spätestens im 20. Jahrhundert, als Experimente belegten, dass die Zusammensetzung der Segel durch einzelne miteinander verflochtene Streifen diesen die Eigenschaft verlieh, starke Belastungen durch Böen und Sturm auszuhalten. 


Wikinger – die Erfinder des Welthandels

Altisländische Quellen beschreiben mehrfach Seefahrten und das damit verbundene Prozedere. Laut diesen Schriften bildeten mehrere Männer eine Bootsgemeinschaft für die sommerlichen Handelsfahrten. Jedes Mitglied dieser Gemeinschaft trug die altisländische Bezeichnung félagi, zusammengesetzt aus fé (Vieh, Geld) und lag (Gesetz, Vertrag) und der männlichen Endsilbe -i. Die Gemeinschaft oder félag war eine Gruppe von Menschen, die aufgrund eines Vertrages Gewinn durch gemeinsame Seefahrt und Schiffsnutzung beabsichtigte, im modernen Sprachgebrauch nichts anderes als eine Genossenschaft. Diese Art der Schiffsbesatzung war dementsprechend motivierend und äußerst effektiv. Die Aussicht auf gute Erträge machte mutig und entdeckungslustig. Gleichzeitig spielte den Wikingern der Umstand, dass das Mittelmeer als Handelsweg zwischen Orient und Okzident aufgrund der Gegensätze zwischen Christen und Muslimen weitgehend lahmgelegt war, in die Hände. Die Wikinger fuhren im Westen zu den Britischen Inseln und darüber hinaus bis ins arabisch besetzte Spanien. Im Osten gingen ihre Handelswege über die in die Ostsee mündenden Flüsse, wie die durch Riga fließende Düna, bis zu den Waldaihöhen, 300 Kilometer nordwestlich vom heutigen Moskau. Dort setzten sie in andere Flüsse wie den Dnepr und die Wolga um, die ins Schwarze und Kaspische Meer führen. Von hier war es nicht mehr weit bis Konstantinopel und Bagdad, den großen Handelszentren des Ostens mit Anschluss an die Seidenstraße. Da die anderen Handelswege über das Mittelmeer verschlossen waren, wurde der Wikingerweg über die Flüsse für fast drei Jahrhunderte zu einer der wichtigsten Welthandelsrouten. 

Das gigantische Ausmaß dieses Handels lässt sich noch heute an der Vielzahl der Schatzfunde im Norden ablesen. Beim Handel erhaltenes oder geraubtes Geld wurde als Rücklage oder zum Schutz vor Diebstahl vergraben. Vor allem auf Gotland, der Insel in der Mitte der Ostsee, die eine Drehscheibe für den wikingerzeitlichen Schiffsverkehr war, wurden über 170.000 Münzen gefunden, viele davon aus dem arabischen Raum. Schwedische Historiker, allen voran Sture Bolin (1900–1963), wiesen die Bedeutung dieses Handels bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nach. Aber sie konnten das Schreckensbild, welches Mönche vor mehr als 1.000 Jahren von den Wikingern gezeichnet hatten, in der öffentlichen Meinung nicht relativieren. Auf dem Handelsweg der Wikinger nach Osten wurde alles transportiert, was Abend- und Morgenland voneinander gebrauchen konnten. Wegen des begrenzten Laderaums der Schiffe mussten die Waren einen hohen Wert besitzen, Massengüter waren nicht profitabel. Schwerter, edle Stoffe, Gewürze und vor allem Sklaven waren die Güter, die sich lohnten.


Handelsplätze

Der Handel mit Menschen war zu dieser Zeit auch im christlichen Abendland durchaus üblich. Für den Warenverkehr gab es in Nord- und Ostsee mehrere Umschlagsplätze: Birka in der Nähe des heutigen Stockholm, Kaupang in Südnorwegen, Uppåkra in Südschweden und vor allem Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein. Haithabu lag ideal im Kulturdreieck, das nach dem Weggang der Angeln durch die eingewanderten Dänen, Sachsen und Abodriten entstanden war. Haithabus Bedeutung wird durch die unterschiedlichen Namen, die verschiedene Völker dem Ort gaben, nachvollziehbar. Im Deutschen hieß die Siedlung Slitstorp, im Angelsächsischen At Haethum, in Skandinavien Hedeby und im Dänischen Haithabu. Der deutsche Name, der später zum Teil auf Schleswig überging, bedeutet nichts anderes als »Dorf an der Schlei«. Die Stadt war so bekannt, dass Menschen aus aller Welt sie besuchten. Einer von ihnen, Ibrahim ibn Ahmed al-Tartuschi (10. Jahrhundert), ein arabischer Kaufmann und Gesandter des Kalifen von Córdoba, hinterließ einen Reisebericht. Seine Beschreibungen waren nicht nur positiv, den Gesang der Einwohner beispielsweise bezeichnete er als eine Art Hundegebell. Ein weiterer Araber, Ahmad ibn Fadlan ibn al-Abbas ibn Rachid (ebenfalls 10. Jahrhundert), besuchte die Region an der Wolga und berichtete von Wikingern, denen er dort begegnete. Wie für al-Tartuschi war auch für ihn die Kultur der Wikinger fremd. Seine Beschreibungen widmen sich vor allem dem Sklavenhandel, daneben aber auch der Bestattung eines Wikingerhäuptlings, der mit seinem Schiff verbrannt wurde. Die Aufzeichnungen Ahmad ibn Fadlans sind mit ein Grund dafür, dass in nahezu jedem Wikingerfilm mindestens ein Boot mit seinem verstorbenen Besitzer angezündet wird.

Es ist erstaunlich, dass die Aufzeichnungen der Mönche unser Wikingerbild maßgeblich bestimmten, obwohl einige weitere schriftliche Überlieferungen existieren: die bereits erwähnten Reiseberichte der zwei Araber, daneben zahlreiche Schriftstücke aus den Klöstern in Europa, vor allem aber eine große Sammlung im Norden selbst. Zuerst mündlich überliefert und dann vom 12. bis ins 14. Jahrhundert niedergeschrieben, entstand eine reiche Erzählliteratur – Sagas, Dichtungen und mythologische Erzählungen, gesammelt in den beiden Eddas, der Snorra-Edda von Snorri Sturlusson (1179–1241) und der Lieder-Edda. Beide beinhalten Dichtungen über die Heldensagen und Götterwelten des Nordens. Zu den literarischen Schriften kommen historische und juristische Texte, wie das altisländische Gesetzbuch Grágás (deutsch: Graugans), das die Rechtsprechung aus der Wikingerzeit, das Thing, beinhaltet, und die Heimskringla, das norwegische Königsbuch, das von der Urgeschichte bis ins 12. Jahrhundert reicht. Schließlich Sammlungswerke wie die Gutasaga aus dem 13. Jahrhundert, die über die frühzeitliche Entwicklung Gotlands berichtet. Dieser große Quellenschatz wurde zunächst sehr ernst und wörtlich genommen, dann lange Zeit für nicht authentisch gehalten. Heute dient er durch einen differenzierten Umgang als Wissensgrundlage. Alle diese verschiedenartigen Quellen zusammen ermöglichen eine realistischere Vorstellung der Wikingerzeit. Sie zerstören den weitverbreiteten Mythos vom axtschwingenden Gewalttäter, der auf einem Langschiff daherkommt und einen Helm mit Hörnern trägt.

©Ribe Vikinger Center

Dieses typische Bild eines Wikingerhelms haben wir vermutlich Ausgrabungen einzelner Kulthelme aus der Eisenzeit und vor allem Richard Wagner zu verdanken. Seine Opern trugen inhaltlich zur Vermischung der Begriffe germanisch und nordisch bei, wie an früherer Stelle erwähnt wurde. Seine Bühnen- und Kostümbilder mit übertriebenem Kopfschmuck prägten die Vorstellung vom Aussehen der Wikinger. Diese Vorstellung wurde vielfach aufgegriffen, nicht zuletzt in der Kinderbuchserie »Wickie und die starken Männer« (Runer Jonsson, 1964 auf Deutsch erschienen) und der Adaption fürs Fernsehen (ab 1974 als Zeichentrickserie, seit 2014 computeranimiert), die bis heute jedes Kind kennt. 

Dass Wikinger und Germanen nicht dasselbe sind, wurde bereits erläutert. Dennoch wurden und werden sie immer wieder in einen Topf geworfen, so auch von dem deutschen Archäologen Herbert Jankuhn (1905–1990), dem Ausgräber von Haithabu, im Titel seines Buches: »Haithabu – Eine germanische Stadt der Frühzeit«. In späteren Auflagen wurde der Titel in »Haithabu – Ein Handelsplatz der Wikingerzeit« geändert. Jankuhn konnte seine Ausgrabungen in den 30er Jahren erfolgreich durchführen, weil sie unter der Schirmherrschaft des Reichsführers Heinrich Himmler (1900–1945) standen. Ab 1936 war Jankuhn Mitglied der SS, wo er bis zum Sturmbannführer aufstieg. Als führendes Mitglied im SS-Ahnenerbe ab 1938 tat er sich im Krieg durch den Raub osteuropäischer Bibliotheks- und Museumsbestände hervor. Nach nur drei Jahren Haft wurde er entnazifiziert und konnte ab 1949 die Grabungen in Haithabu wieder aufnehmen. 

Häuser der Wikinger waren durchaus stattlich und potenter Familie und dem Vieh platz © Kjell Ole Storvik.


Die Wikinger als Phänomen

Die Wikinger als historisches Phänomen bleiben trotz der Auswertung unterschiedlichster Quellen komplex und entziehen sich einer vollständigen Betrachtung. Bereits das altnordische Wort vikingr, auf das die Bezeichnung der Wikinger zurückgehen soll, wurde verschieden übersetzt: Menschen, die an einer Bucht wohnen, Kaufleute, die zur See fahren, oder auch Seeräuber. Schritt für Schritt sind in den letzten 50 Jahren immer neue Facetten der Wikinger sichtbar geworden. Beispielsweise darüber, dass sich die anfänglichen Handelskontakte ausweiteten und es zu Siedlungsbewegungen kam. Im Osten übernahmen die Wikinger, dort Waräger genannt, die Rolle einer herrschenden Oberschicht und bildeten in Kiew das erste größere Reich auf russischem Boden. Folgen wir der ostslawischen Nestorchronik aus dem 12. Jahrhundert, dann wurde ein Mann mit Namen Rurik (ca. 830–879) gebeten, im Osten für Ruhe und Ordnung zu sorgen, und seine Nachfolger gründeten das Großreich von Kiew mit dem Zusatz Rus, Ursprung des Landesnamens Russland. Woher das Wort Rus kommt, ist nicht vollständig geklärt. Entweder steht es im Zusammenhang mit Ruderern oder stammt vom finnischen Wort für Schweden: ruotsi. Im Westen zogen Wikinger in der Nachfolge der Handelsfahrten als Siedler nach Irland und auch nach England, besiedelten dann die Färöer, Island und Grönland. Die zwei bekannten Vinland-Sagas von Erich dem Roten und der Grönländer aus dem 13./14. Jahrhundert erzählen sogar von Fahrten bis Nordamerika und einer Besiedlung. Jedoch wurden sie lange als Fantasieprodukt abgetan. Erst der norwegische Experimentalarchäologe Helge Ingstad (1899–2001) konnte durch abenteuerliche Paddelbootfahrten und die anschließende Entdeckung einer Wikingersiedlung auf Neufundland mit dem heutigem Namen L’Anse aux Meadows die Richtigkeit der Saga nachweisen. Inzwischen sind sogar weitere Siedlungsplätze gefunden worden. Lange rätselte man über den Namen Vinland für Nordamerika, weil Wein beziehungsweise Weintrauben in den nördlichen Breitengraden nicht wachsen. Vermutlich liegt hier ein Übersetzungsproblem vor und es geht nicht um Wein im engeren Sinne, sondern um Beeren. Noch heute heißen Johannisbeeren auf Schwedisch vinbär. Eine weitere interessante Episode in den Vinland-Sagas erzählt vom Zusammentreffen mit amerikanischen Ureinwohnern, das wohl anfänglich positiv, dann aber eher feindselig verlief. Sollten die beiden Gruppen Waren getauscht und die Wikinger dabei Milchprodukte übergeben haben, ist die anschließende Feindseligkeit der Indianer vor dem Hintergrund ihrer weitgehenden Laktoseintoleranz gut nachvollziehbar. Die grönländischen Siedlungen, das zeigen Ausgrabungen und Berichte, existierten bis ins 15. Jahrhundert. Nach einer Blütezeit mit eigenem Bischofsitz liegt das Ende im geschichtlichen Dunkel. 

 

Michael Engelbrecht:

Eine kurze Geschichte der nordischen Welt

300 Seiten, Hardcover, Gmeiner Verlag, 22 Euro.

 

Stimmen zum Buch:

Marion Holtkamp, Finnland-Institut: „Eine historisch-kulinarische Fundgrube! So kann man Geschichte genießen: In spannende Kapitel portioniert, mit viel Humor erzählt und vorzüglich zu lesen. Und mit einer besonderen Rezeptauswahl. Da bleiben keine Wünsche offen.“

Jens Mecklenburg, Autor: So schreibt man zeitgemäße Kulturgeschichte: Informativ, geistreich, witzig. Wer Skandinavien abseits der Klischees verstehen will, sollte es unbedingt lesen.“

 

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