Jens Mecklenburg

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Wahnsinn

Billiges, schlechtes, ungesundes Essen – warum tun wir uns das an?
25. Februar 2021

Wir essen billig. Wir essen schlecht. Wir essen ungesund. Wir denken nicht über Essen nach. Sind wir krank?

Eine Freundin war mal wieder zu Besuch. Sie berichtete vom alltäglichen Familienidyll am Esstisch. Am Abend kommt die Familie beim gemeinsamen Essen zusammen. Es wird der Tag besprochen. Die pubertierende Tochter erzählt von Dingen, die ihre Freundinnen dürfen, nur sie nicht. Auch arbeitet sie sich gern an der Mutter ab, die ja so was von peinlich ist. Der junge Mann am Tisch ist meist still, ist er vollauf damit beschäftigt Gemüsestückchen aus dem Essen zu pulen. Sein Gemüse heißt Fleisch.
 

Normal ist das alles nicht

Ich bereichere ihre Schilderungen und erzähle von meiner Arbeit. Von fetttriefenden, zermatschten Bratkartoffeln aus der Mikrowelle im hochgelobten Dorfgasthof und von Glutamat-Attacken in der Edelgastronomie. Halt vom alltäglichen Wahnsinn eines Gastrokritikers. Beim Thema Wahnsinn ist die Freundin sofort im Bilde. Sie arbeitet in der Psychiatrie, mit Kindern. Ihre Klienten kommen gleichermaßen aus sozialen Brennpunkten wie aus dem Villenviertel. Irgendwas lief in ihrer Kindheit schief. Meist sind die Eltern nicht ganz schuldlos am Zustand ihrer Kinder.

Was auffällt: Die meisten Jugendlichen sind essgestört. Sie essen zu viel oder zu wenig, einige wollen überhaupt nicht essen. Aber alle lieben Fast Food. Ihre Geschmackssinne entsprechen den von Kleinkindern. Dass gesundes und genussvolles Essen Glück und Zufriedenheit verheißen kann, ist ihnen unbekannt. Mir tun diese Jugendlichen leid. Ich denke an den viel zitierten Satz des französischen Gastrosophen Brillat-Savarin: „Sage mir, was du isst, und ich will dir sagen, was du bist.“ Der einfache Satz bringt es auf den Punkt. Angewendet auf unser „normales“ Ess- und Konsumverhalten frage ich mich, ob wir nicht alle ein wenig (ess)gestört sind?

Motor- anstatt Speiseöl

Ist es normal für ein 60-Minuten-Konzert eines Popsternchens 100 Euro auszugeben, das gleiche Geld aber für ein leckeres Menü bei einem Spitzenkoch auszugeben für pervers und dekadent zu halten? Ist es normal mehr Geld für das Motor- als für das Speiseöl auszugeben? Dass Katzenfutter teurer als Hackfleisch ist? Und was sagt es über unseren Geisteszustand aus, wenn wir uns von der Industrie ungesunde Zuckerbombenjoghurts als gesunde Verdauungsförderer andrehen lassen?

Gerade einmal zehn Prozent aller Konsumausgaben reservieren wir für das Essen. Bei anderen Europäern sind es 15 Prozent. Dabei ist das Essen in Deutschland so billig wie sonst kaum in Europa. Der Preis ist für die meisten das einzige Kriterium beim Einkauf. Dabei haben die Menschen eine immer größere Sehnsucht nach Natürlichkeit und unverfälschtem Essen; gleichzeitig steigt aber der Anteil an Convenience Food unaufhaltsam.

Sind wir noch ganz bei Trost, so billig und so schlecht zu essen? Wir Deutschen führen ein paradoxes kulinarisches Leben. Die Freundin meint: an der Grenze zu Schizophrenie. Welche Therapie kann uns helfen? Es geht beim guten Essen um Geschmack. Um unsere Gesundheit. Um Geist und Kultur. Um unser Glück. Einfacher als auf unserem Teller bekommen wir das sonst nirgendwo.

Die Freundin kocht jetzt gelegentlich mit den Jugendlichen frische, einfache Mahlzeiten und berichtet von ersten therapeutischen Erfolgen. Ich habe mir vorgenommen, beim nächsten Katastrophenerlebnis in der Gastronomie es nicht persönlich zu nehmen, mich mit Kritik zurückzuhalten. Es muss im Lebens des Kochs schließlich was schiefgelaufen sein. Vielleicht sollte ich ihn in den Arm nehmen und trösten. Normal ist das alles nicht.