Michael Engelbrecht

Nordeuropahistoriker und Skandinavist

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Wie Skandinavien besiedelt wurde

Von Eis zu Eisen
15. August 2023

Rational betrachtet verbinden wir den Norden häufig mit verschiedenen Eigenschaftsmerkmalen wie modern, solidarisch und innovativ. Gefühlt jedoch ist der Norden für viele nass, bewaldet und kalt. Die Menschen des Nordens machen die Region aus, aber die Region – die Landschaft, das Klima – prägt die subjektive Wahrnehmung. Auch wenn es nicht nachzuweisen ist, stammen die noch heute dem Norden zugeschriebenen Eigenschaften vermutlich schon aus der Zeit der ersten Begegnung zwischen Region und Mensch.

Die kalten Anfänge

Bis vor 13.000 Jahren war der Norden von einer durchgehenden Gletscherschicht bedeckt. Im allgemeinen Sprachgebrauch nennt sich das Eiszeit. Fachleute jedoch bezeichnen als Eiszeit die gesamte klimatische Periode der letzten 30 Millionen Jahre. Die letzte Kaltzeit dieses langen Eiszeitalters, die gekennzeichnet war von einer Vergletscherung des nördlichen Europas, heißt im Fachjargon Weichsel-Kaltzeit. Da der Name mit dem Fluss zusammenhängt, der das Eis entweder aus dem Norden oder aus der Alpenregion brachte, werden verschiedene Namen benutzt. Die Weichsel-Kaltzeit wird beispielsweise im alpinen Raum, nach einem Fluss in Bayern, Würm-Kaltzeit genannt. Diese Kaltzeit war vor 12.000 Jahren weitgehend abgeschlossen. Zum Ende hin zogen sich ihre Gletscher in den Norden zurück, um mehrfach noch einmal kurz nach Süden auszugreifen. Wo die Gletscher verschwunden waren, blieb eine baumlose Tundra mit Sümpfen und Schmelzseen zurück. Den zurückweichenden Gletschern folgten die Menschen. Ihr erster Eindruck vom Norden war: nass und kalt. Mit dem Anstieg der Temperaturen kam die Bewaldung hinzu und Flora und Fauna erhielten den Charakter, der noch heute typisch ist – man denke an Elche, Vielfraße, Molte- und Preiselbeeren. Die ersten Menschen in der Region hinterließen zwar nichts Schriftliches, aber ihr Müll spricht Bände. Funde von steinzeitlichen Werkzeugen und Essensabfällen in Nordschweden belegen, dass es sich um Jäger, Sammler und Fischer handelte. Reste von Nussschalen, Fischgräten und Tierknochen zeigen, wie sie gelebt haben. Die ersten Bewohner des Nordens jagten Rentiere, die ebenfalls dem Eis folgten. Das indigene Volk der Samen in den nördlichen Regionen des Nordens domestizierte Rentiere vor rund 3.000 Jahren. Seither wurden die Tiere in Herden gehalten, die sich einen Großteil des Jahres frei bewegten und jahreszeitliche Wanderungen unternahmen. Noch heute sind Rentiere für die Samen ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor. 

Die Felszeichnungen von Alta in Nordnorwegen zeigen die Bedeutung von Elch und Ren für die ersten Nordeuropäer. © Nasjonalbibliothek Oslo, public domain

Die Landschaft, in der diese Menschen lebten, veränderte sich sowohl geologisch als auch biologisch mehrfach. Die vom Eisdruck befreite skandinavische Halbinsel hob sich (und hebt sich in geringem Maße heute noch), das nördliche Mitteleuropa dagegen senkte sich und die große »Pfütze«, die wir heute Ostsee nennen, wurde durch diese geografischen Verschiebungen vorübergehend zu einem Süßwassersee. Durch das Abschmelzen der großen Gletschermassen stieg der Meerwasserspiegel. Teile der heutigen Nordsee waren zu dieser Zeit besiedelt und versanken im Meer. Letztlich fand auch die Ostsee wieder Anschluss an die Ozeane.


Die Entstehung des Nordens von heute

Die ungefähre geografische Situation, wie sie heute noch besteht, trat vor rund 8.000 Jahren ein. In dieser Zeit wurden die Menschen des Nordens zum Teil sesshaft. Sie hinterließen Speiseabfälle, vor allem Muschelhaufen, die zeigen, dass bis vor 6.000 Jahren der Verzehr von Fischen und Meeresgetier ein wichtiger Teil der Nahrung war. In den Abfallhaufen fand man auch erste Keramikreste. In der Fachwelt erhielten diese Funde übrigens international den dänischen Namen køkkenmøddinge, deutsch: »Küchenabfallhaufen«.

Einfaches Hühnengrab bei Lübeck. @ pixabay.com/harriewolters

Vor 6.000 Jahren dann wurden die Bewohner des Nordens endgültig sesshaft. Davon zeugt die zunehmende Zahl an Funden von Keramik, Werkzeugen, Hausgrundrissen und Überresten monumentaler Bauten ab dieser Zeit. Neben Begräbnisstätten, den sogenannten Hünengräbern, wurden auch Anlagen gebaut, die noch heute als Kalender und astronomische Anlagen zu erkennen sind. Das Phänomen des Sesshaftwerdens, der Veränderung der gesamten Lebensweise der Menschen hin zu Vorratshaltung und Viehzucht, wird als neolithische Revolution bezeichnet. Diese Zeit, die nach der typischen Gefäßform der Keramikfunde den Namen »Trichterbecherkultur« trägt, dauerte bis etwa 2.800 vor Christus. 

Was war passiert? Vor der neolithischen Revolution folgten die Menschen den Tieren und jagten sie. Zusätzlich standen auf dem Speisezettel Fische, Beeren und alles, was wild in der Gegend wuchs. Die Gruppen dieser Zeit waren wahrscheinlich anders strukturiert als alle späteren Gesellschaften. Seit Jahrzehnten gibt es die Diskussion, dass die bis zur Emanzipation unserer Tage geltende Vorherrschaft des Mannes, das Patriarchat, erst nach der Steinzeit entstand. Diese Meinung bildete sich durch die Beobachtung noch heute steinzeitlich lebender Völker und durch die Funde steinzeitlicher Frauenfiguren, die in der Forschung teilweise als Abbildungen von Göttinnen angesehen werden. Wahrheit oder typischer Fall der »Archäologenkrankheit«, bei der alles, was nicht anders erklärt werden kann, kultisch oder religiös interpretiert wird? Für die Annahme eines Matriarchats gibt es dennoch gute Gründe. Betrachtet man die damalige Lebenswirklichkeit, stellt man fest, dass die Jäger und Sammler die Zeit nach dem Mond berechneten, der ihnen das Licht für die nächtliche Jagd gab und alle 28 Tage in voller Pracht am Himmel stand. Der Mond hatte als notwendiges Jagdlicht sicherlich derartig große Bedeutung für das Überleben, dass er göttliches Ansehen genoss. Durch die Parallelität von weiblichem Zyklus und Mondphasen lag es für die Menschen damals auf der Hand, dass Frauen den besseren Draht zu dem leuchtenden Gott am nächtlichen Himmel hatten. Mit der Sesshaftigkeit und dem damit verbundenen Ackerbau verlor der Mond an Bedeutung. Plötzlich waren die Vegetationsphasen der Jahreszeiten für das Überleben viel wichtiger als die Mondphasen. Nun stand die Sonne im Mittelpunkt des kalendarischen Interesses und Sommer- und Wintersonnenwende wurden zu den überlebenswichtigen Daten. Nicht nur Stonehenge in Südengland, sondern auch Begräbnisstätten wie das irische Newgrange haben kalendarische Bedeutung. In Newgrange beispielsweise dringt nur zur Zeit der Wintersonnenwende ein Lichtstrahl durch den gesamten Gang bis in die Grabkammer.

Der Steintanz von Boitin in Mecklenburg-Vorpommern – ein frühes Kalendarium? © Michael Engelbrecht

Was aber hat das mit dem heutigen Norden zu tun? Die steinzeitlichen Jäger und Sammler und die jungsteinzeitlichen Bauern prägen noch heute viele Nahrungs- und Feiergewohnheiten. In Schweden haben das Jagen von Elchen und die Jagd überhaupt Kultstatus. Fisch und anderes Meeresgetier prägen als Nahrungsmittel in vielerlei Form alle nordischen Speisezettel und bilden den ersten Gang eines jeden skandinavischen Buffets. Das Sammeln von Pilzen und Beeren ist ein weit verbreitetes Hobby. Im Schwedischen ist smultronställe ein Platz, an dem wilde Erdbeeren wachsen, gleichzeitig aber ein Synonym für einen Lieblingsort, ein idyllisches Plätzchen. Sogar ein Film von Ingmar Bergman aus dem Jahr 1957 trägt diesen Titel. Die deutsche Fassung heißt »Wilde Erdbeeren«, was die Bedeutung des Originaltitels nur teilweise wiedergibt. Walderdbeeren, wegen der Farbe Scharlacherdbeeren genannt, sind auf den britischen Inseln vor Weihnachten der begehrte Inhalt sehr teurer Konfitüre. Besonderen Kultstatus trägt die nördlichste zum Verzehr geeignete Beere, die Moltebeere, wegen ihrer Fähigkeit, im subpolaren Gebiet zu existieren. In den verschiedenen Sprachen des Nordens existieren spezifische Namen für diese Beere. Im Deutschen heißt sie Torfbeere oder Sumpfbrombeere, im Schwedischen hjortron, wörtlich übersetzt so viel wie Hirschbeere. Die Engländer nennen sie cloudberry, also Wolkenbeere, und die Finnen lakka, woraus sie einen bekannten Likör herstellen. Große Verbreitung im ganzen Norden hat auch die säuerlich schmeckende Schwarze Krähenbeere, die in vielen nördlichen Regionen mit saurer Milch gegessen wird und besonders viel Vitamin C enthält.

Krähenbeeren sind im ganzen Norden verbreitet und wegen ihres Vitamin-C-Gehalts zwar ein wertvolles, doch kein kulinarisches Kleinod. ©pixabay.com/Efraimstochter

Warum die Menschen ihr Nomadentum aufgaben und zu siedelnden Bauern wurden, haben sie uns nicht unmittelbar verraten. Wie ihre Siedlungen aussahen, wissen wir aber genau. 1850 gab eine wandernde Sanddüne in Skara Brae auf den schottischen Orkney-Inseln eine jungsteinzeitliche Siedlung frei, die in die Zeit 3.100 bis 2.500 vor Christus datiert wird. Hier sind neun Häuser zu finden, die eng aneinandergeschmiegt ein Dorf bilden. Die Enge der Gänge zwischen den Häusern zeigt übrigens, dass die Nahrung auch nach der Sesshaftwerdung nicht allzu üppig gewesen sein kann. Mit Adipositas wären die Bewohner zwischen den Häusern stecken geblieben. Wahrscheinlich wurde diese Anlage wegen der Sanddüne verlassen und ist deshalb so gut erhalten. Auch auf der Hauptinsel der Shetlands ist ein solches Dorf ausgegraben worden, das heute als Jarlshof besichtigt werden kann. Dort gibt es nicht nur steinzeitliche Funde, sondern auch Siedlungsreste bis ins 17. Jahrhundert, so dass von einer Besiedlungskontinuität gesprochen werden kann. Der Grund für das Sesshaftwerden, das in anderen Teilen der Welt schon lange vorher einsetzte, im Nahen Osten 5.000 Jahre früher, bleibt aber ein Rätsel. Das Jäger- und Sammlerdasein bedeutete zwar, ständig wandern zu müssen. So konnte man jedoch winters wie sommers immer irgendwo Nahrung suchen und finden. Siedler hingegen waren auf gute Ernten angewiesen. Wenn die Ernte zum Beispiel durch zu viel Regen buchstäblich ins Wasser fiel oder die gezüchteten Tiere durch eine Krankheit starben, war das Überleben im Winter ungewiss. Eine der neueren Theorien besagt, dass der Anbau von Getreide und damit die Sesshaftigkeit Voraussetzungen dafür waren, in größeren Mengen anständiges Bier zu brauen. Dafür spricht in mehreren nordischen Ländern der geradezu kultische Verbrauch von Bier, das zu bestimmten Jahreszeiten und Festen extra stark produziert wird, vor allem zu Ostern und Weihnachten. Beim Starkbier geht es nicht nur um den Rausch; ebenso wichtig ist die Abtötung von Keimen durch die alkoholische Gärung. Wahrscheinlich wurde in einem kleinen mitgeführten Getreidevorrat, der durch Zufall nass geworden und vergoren war, die angenehme Eigenschaft des Alkohols entdeckt. Mit dem Sesshaftwerden wurden genügend große Mengen Getreide produziert. Die Kunst des häuslichen Bierbrauens wird noch heute in vielen ländlichen Gebieten gepflegt, besonders auf der Insel Gotland. Hier trägt das Selbstgebraute schlicht den Namen drikku, also Getränk.

Mit der Bauernkultur rückte die Kraft der Männer beim landwirtschaftlichen Arbeiten in den Mittelpunkt, gleichzeitig gewann die Sonne als Wärme- und Lichtquelle für den Ackerbau an Bedeutung. Dies bedeutete das Ende der Mondzeitrechnung und wahrscheinlich auch des Matriarchats. Die siedelnden Menschen nutzten das Verweilen an einer Stelle für ausgiebige Bautätigkeiten. Diese umfassten nicht nur Häuser und Ställe, sondern ebenfalls Gräber und Kultstätten. Diese Anlagen wurden häufig mit dem Sonnenkalender verknüpft und zeigen noch heute die besondere Bedeutung unseres Fixsterns in allen bäuerlichen Regionen. Die Sonnenwenden und die Tagundnachtgleichen wurden zu den wichtigsten Daten im Jahresverlauf. Die Sommersonnenwende ist in vielen nordischen Kulturen bis heute ein den gesamten Sommer prägendes Fest, das ausschweifend gefeiert wird. Auf den Speisezetteln zu diesem Fest sind neben Angebautem einige der Speisen aus der Zeit der Jäger und Sammler fester Bestandteil, in Schweden zum Beispiel Erdbeeren und Fisch. Dies zeigt den fließenden Übergang, denn die Bauern nutzten neben ihrer Agrikultur weiterhin die Jagd, den Fischfang sowie das Sammeln von Pilzen und Beeren zur Komplettierung ihrer Mahlzeiten. Zwischen Jägern und Sammlern und den sesshaften Bauern gab es als Zwischenstufe die nomadisierenden Hirten. Sie jagten das Vieh nicht mehr, sondern züchteten es, ließen ihm aber seine natürliche Bewegungsfreiheit. Sowohl die Jäger und Sammler als auch die Hirten beanspruchten für ihre Lebensweise einen großen Radius. Dies führte dazu, dass in einem großen Territorium nur Platz für wenige Menschen war. Mit dem Sesshaftwerden wurde das gleiche Territorium intensiver genutzt und konnte mehr Menschen ernähren. Dieser Bevölkerungszuwachs machte die Arbeitskraft möglich, die neben der Landwirtschaft vor allem für den Bau der großen Steinkultstätten benötigt wurde. Außerdem gewannen die Feste an Bedeutung, da sie zu größeren Veranstaltungen wurden. Die Wurzeln vieler traditioneller Speisen sowie die zentrale Rolle des Alkohols bei Feiern reichen also bis in die Jungsteinzeit zurück, in der die Menschen der nordischen Welt sesshaft wurden.

In diese Bauernkultur brach um 2.500 vor Christus eine größere Einwanderungswelle aus dem Osten herein. Dies belegen verschiedene Funde: Zum einen brachten die Einwanderer große Streitäxte mit, deren Form teilweise an Boote erinnert, zum anderen unterschied sich ihre Keramik von derjenigen der bisherigen Nordenbewohner. Die Gefäße wurden mithilfe von Schnüren verziert, die in den Ton eingedrückt wurden und verschiedenste Muster hinterließen. Man spricht deshalb von der »schnurkeramischen Kultur«, die sich am Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit von Mitteleuropa bis nach Zentralrussland erstreckte. Auch die Bestattungskultur änderte sich. Statt in den bisherigen mehrfach genutzten Hünengräbern wurden die Toten jetzt einzeln beerdigt, mit angewinkelten Beinen in Seitenlage. Genetische Untersuchungen und sprachwissenschaftliche Studien zeigten, dass diese Einwanderungswelle wahrscheinlich aus Mitgliedern der indoeuropäischen Sprachengruppe bestand. Die Streitäxte deuten auf das aggressive Einfallen dieser Einwanderer in den Norden hin und auf ihre Dominanz gegenüber den dort lebenden Bauern. Die Streitaxt war ihnen als Machtsymbol sehr wichtig, denn die männlichen Toten erhielten diese Waffe als Grabbeigabe. Wie sich die Besiedlung durch die Einwanderer im Einzelnen vollzog, ist nirgendwo festgehalten. Durch Funde in ganz Nordeuropa ist sie aber sicher belegt. Der Nachhall dieser Einwanderungswelle ist schwarz auf weiß als Sage in den Eddas, den beiden auf Island im 13. Jahrhundert niedergeschriebenen Werken zur nordischen Mythologie, zu finden. Sie berichten beide, wenn auch unterschiedlich, von einem Krieg zwischen zwei Göttergeschlechtern. Die Vanen, die ältere der beiden Sippen, sind typische Bauerngötter, zuständig für Fruchtbarkeit, Reifung und Ernte. Die Asen, eher dem »Rockermilieu« zugehörig, sind aggressiv und kriegslüstern. Sie gewinnen den Krieg, aber alles endet positiv. Nach dem Austausch von Geiseln leben Asen und Vanen arbeitsteilig zusammen. Die Asen übernehmen als Gewinner allerdings die Führung im nordischen Götterhimmel. Ein Deutungsansatz der Eddas sieht im Krieg zwischen Vanen und Asen die Auseinandersetzung zwischen zwei Kulturen: der alt eingesessenen Bauernkultur einerseits und einem neu eindringendenKriegervolk andererseits. Das Beachtliche dabei: Die Krieger schlachteten die Bauern nicht einfach ab. Vielmehr erkannten die Einwanderer wahrscheinlich, dass die Anpassung an das Vorhandene ein gutes Lebensmilieu ermöglichte. Im Fachjargon heißt das »Assimilierung«. Neben Heirat und Arbeitsgemeinschaft darf aber die Kehrseite nicht vergessen werden. Die Bauernkultur musste sich trotz allem den Kriegern unterwerfen, um sich Vorteile zu sichern, denn die Axt im eigenen Hause verhindert die nächste Invasion. Genetische und sprachwissenschaftliche Untersuchungen ergaben inzwischen, dass die Schnurkeramiker, im Norden aufgrund ihrer Streitäxte »Bootaxtleute« genannt, wohl die ersten Indoeuropäer waren, die in den Norden einwanderten. Hier wurde also der Grundstein für den Genpool der modernen Nordeuropäer gelegt. Spätestens vor 4.000 Jahren war dieser Einwanderungsprozess abgeschlossen und die Menschen lebten friedlich zusammen. Allerdings war diese Immigration nicht die letzte. Vor 3.000 bis 4.000 Jahren kamen uralische Völker in den Norden, brachten ihre Sprachen aus der finno-ugrischen Sprachfamilie mit und bescherten Linguisten vieler Generationen Arbeit durch Rätsel über Herkunft und Verwandtschaften, für die inzwischen, sogar mit genetischen Untersuchungen, immer neue und umstrittene Antworten gefunden werden.


Bernstein und Bronze – die Basis für Wohlstand

Während sich die Nordeuropäer noch zusammenrauften, hatte man in anderen Teilen der Welt rund 2.000 Jahre vor Christus angefangen, aus 90 Prozent Kupfer und 10 Prozent Zinn Bronze herzustellen. Die Menschen im Norden lernten diese Fähigkeit erst rund 500 Jahre nach den Südeuropäern kennen und zwar über den Handelsweg. Spätestens mit der Bronzezeit war der Norden an den Rest Europas angeschlossen.

Dadurch wurde bald eine besondere Kostbarkeit des Nordens in ganz Europa und darüber hinaus bekannt und brachte neuen Wohlstand: der baltische Bernstein aus dem Ost- und Nordseeraum, der auch als Succinit bezeichnet wird und als Schmuck noch heute begehrt ist. Für lange Handelswege war er prädestiniert, da mit wenig Gepäck hoher Gewinn erzielt werden konnte und Bernstein keine Haltbarkeitsbegrenzung besaß. Seither ist Bernstein das nordische Gegengewicht zu Gold, Silber und Jade. Dank vieler Geschichten, wie beispielsweise zum Bernsteinzimmer oder zur angeblichen genetischen Verwertbarkeit von eingeschlossenen Urinsekten, hat er einen eigenen Mythos bekommen. 

Ein weiteres Indiz für die enge Vernetzung des Nordens mit dem Rest Europas ist die Leiche einer jungen Frau, die in der Nähe von Egtved auf Jütland um 1.400 vor Christus starb und beerdigt wurde. Anhand ihrer Haare, Zähne und Nägel konnte aufgrund bestimmter Strontiumablagerungen nachgewiesen werden, dass sie wahrscheinlich in der Region des Schwarzwaldes geboren worden war und im Laufe ihres maximal 18 Jahre dauernden Lebens weite Reisen unternommen hatte. Die Analysen ergaben auch, dass sie erst kurz vor ihrem Tod ins heutige Dänemark kam. Unklar ist allerdings, warum sie so weit reiste. Zahlreiche Theorien entstanden, von einer reisenden Priesterin oder in die Fremde vermählten Prinzessin. Was die junge Frau aber beweist, ist die Vernetzung und Mobilität in dieser Zeit.

Bronze wurde im Norden für Werkzeuge, Waffen sowie für Schmuck verwendet und war Stein und auch Kupfer weit überlegen. Bronze splittert nicht, lässt sich besser reparieren und umschmelzen sowie in verschiedene Formen gießen. Außerdem ist sie leichter und nicht so empfindlich wie Stein. Nicht zu unterschätzen ist der metallische Glanz, besonders herausgearbeitet bei Schmuck, der Reichtum anzeigt und dem Besitzer ein Dagobert-Duck-Gefühl vermittelt. Da die benötigten Metalle im Norden fast gar nicht vorkamen, wurde der überregionale Handel viel wichtiger als in der Jungsteinzeit. Bronze hatte ihren Preis und musste bezahlt werden, weshalb nun auch der Handel mit Bernstein intensiviert wurde. Die Bernsteinfunde im Süden aus dieser Zeit gelten als Beleg dafür. 

Mit der Bronzezeit veränderte sich die gesamte Gesellschaft. Es entstanden soziale Schichten und besondere Berufe. Wahrscheinlich wurden größere soziale Verbände und regionale Gemeinschaften gebildet. Wie das Leben in der Bronzezeit aussah, können wir am Beispiel von Griechenland sehen und nachlesen: zum einen an den Funden von der minoischen bis zur mykenischen Kultur, zum anderen in der Ilias und der Odyssee von Homer. Im Norden ermöglichten die größeren Gemeinschaften, die Zeit und Arbeitskraft neben dem normalen Leben in besondere Projekte zu stecken. Aus großen Steinen schufen sie Bootsgrundrisse. In manchen dieser Anlagen wurden menschliche Überreste gefunden, weshalb man oft davon ausgeht, dass es sich bei den Schiffssetzungen um Grabstätten handelt. Andere Thesen stellen die kalendarische Bedeutung in den Vordergrund, die sie an der Ausrichtung der Steine festmachen. Beide Erklärungen sind aber wissenschaftlich nicht zweifelsfrei bewiesen. Einige der am besten erhaltenen finden sich auf der Insel Gotland, so die Schiffssetzungen bei Tofta, von denen die größte 47 Meter, die zweitgrößte immerhin noch 36 Meter lang ist. 

Steinkreis. © Michael Engelbrecht

Solche Großbauprojekte konnten nur dann verwirklicht werden, wenn die Menschen einen Teil ihrer Arbeitszeit dafür investierten, ohne ihren Lebensunterhalt dabei zu gefährden. Es mussten Steine von immenser Größe transportiert und aufgestellt werden. Das Schiff als bevorzugtes Motiv der Großprojekte belegt dabei auch die Bedeutung der Seefahrt in der nordischen Bronzezeit, aus der die ältesten Schiffssetzungen stammen. Jedoch fand man Anlagen, deren Ursprung bis in die Wikingerzeit hinein reicht. In der Bronzezeit wurden neben den Schiffssetzungen auch andere Steinprojekte verwirklicht. Große Grabanlagen, wie das sogenannte Königsgrab von Kivik in Schweden, und Felsritzungen in ganz Nordeuropa sind weitere Beispiele. Sie belegen unter anderem die Benutzung von Skiern, beispielsweise in Rødøy in Mittelnorwegen. Archäologische Funde wie der 4.500 Jahre alte Ski von Hoting in Schweden, aber auch das Hjortspringboot von 350 vor Christus (das zwar in der frühen Eisenzeit gebaut wurde, dessen Bootstyp jedoch aus der späten Bronzezeit stammt) zeigen die ausgeprägte Mobilität dieser Zeit. Die Beweglichkeit und die Vernetzung durch den Handel mit Bronze und Bernstein sorgten dafür, dass das nächstbessere Metall, das Eisen, sich rund 500 Jahre vor Christus sehr schnell im ganzen Norden verbreitete. Plötzlich war man in der Eisenzeit angekommen. 

Schon waren 9.500 Jahre seit der Eiszeit vergangen. Anders als in Mitteleuropa, wo Völker kamen und gingen, Krankheiten und Kriege die Menschen dahinrafften oder Tausende Kilometer hin und her trugen, blieb der Norden von solch großen Umwälzungen bis heute weitgehend verschont. Mobilität bedeutete reisen, aber nicht migrieren. Vielleicht ist das der Grund, dass selbst die ältesten Tage der nordischen Welt noch immer in den Traditionen lebendig sind.

Anmerkung der Redaktion:

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: Eine kurze Geschichte der Nordischen Welt. Michael Engelbrecht verstarb am 4. März 2019, kurz nach Vollendung seines Buchs, es erschien posthum.

Michael Engelbrecht:

Eine kurze Geschichte der nordischen Welt

300 Seiten, Hardcover, Gmeiner Verlag, 22 Euro.

 

Stimmen zum Buch:

Marion Holtkamp, Finnland-Institut: „Eine historisch-kulinarische Fundgrube! So kann man Geschichte genießen: In spannende Kapitel portioniert, mit viel Humor erzählt und vorzüglich zu lesen. Und mit einer besonderen Rezeptauswahl. Da bleiben keine Wünsche offen.“

Jens Mecklenburg, Autor: So schreibt man zeitgemäße Kulturgeschichte: Informativ, geistreich, witzig. Wer Skandinavien abseits der Klischees verstehen will, sollte es unbedingt lesen.“

 

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