Story der Woche – Irgendwas mit Algen

Von Seetangsafari bis Algenmanufaktur
4. April 2024

Ein Beitrag von Juliane Reichert

Algen sind in aller Munde, aber auf den Tellern trotzdem immer noch selten zu finden. Zu Besuch in Norwegen bei einer Seetangsafari mit Kindern und bei einer Algenmanufaktur in den Lofoten

© Finer

Als das Schiff der Hurtigruten in den Hafen an der Südwestküste Norwegens einfährt, meldet sich der Kapitän per Lautsprecher: „Wir sind in Bergen, und das, obwohl es heute gar nicht regnet.“ In der Tat ist es ausnahmsweise hell und freundlich, die Vorzeichen stehen daher gut für das zweite Bergener Sjømatfestival in dieser Form. Eine Woche lang liegt der Fokus auf allem, was aus dem Meer kommt und essbar ist: Fisch, Schalentiere, Muscheln – und natürlich Algen.

Weltweit gibt es inzwischen mehrere Algen-Konferenzen, letztes Jahr in Spanien und Tasmanien; in Trondheim treffen sich regelmäßig AlgenexpertInnen, und die Deutsche Botanische Gesellschaft kürt jährlich eine Alge, aktuell die an Land lebende Sonnenschirmalge „Serritaenia“. Algen, so heißt es, sind die Zukunft – und da das gleiche für Kinder gilt, gibt es beim Meeresfrüchtefestival nicht nur einen Krabbenpulwettbewerb und einen Live Contest, welcher Koch das beste Plukkfisk kocht (die norwegische Hausmannskost aus Kabeljau, Stampfkartoffeln und weißer Soße), sondern auch eine Seetangsafari für den norwegischen Nachwuchs.

Seetangsafari & Algenchips

Treffpunkt ist der Strand von Nordnes, einer Halbinsel im Stadtzentrum von Bergen. Hier kommen die Algen, die Algenexperte Arne Duinker mitbringt, allerdings nicht her. Da Seetang Schadstoffe speichert, hat er sie in sicherer Entfernung von der Einfahrtschneise für Fracht- und Personendampfer gesammelt. Duinker empfiehlt, Algen direkt von der Pflanze abzuschneiden, mindestens knietief im Wasser. „Dort sind sie frisch, und wenn man sie eigenhändig mit Messer oder Schere abschneidet, weiß man das.“ Die Kinder sehen sich streifenden Blickes um, der halbe Strand ist von Algen bedeckt. „Die könnte man auch essen,“ reagiert Duinker, da weiß man bloß nicht, wann genau die angespült wurden.

In wetterfester Outdoor-Montur hockt Duinker auf den Steinen am Strand, nur wenige Meter entfernt von der schäumenden Gischt, vor ihm: ein Campingkocher und ein Eimer voll Algen. Im Kreis um ihn: eine Handvoll Vier- bis Sechsjähriger mit Gummistiefeln, großen Augen, Geschirr und Besteck.

Arne Duinker will den Kindern heute zeigen, wie man Algenchips herstellt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Meeresforschung in Bergen ist selbst Vater und erzählt, sein eines Kind sei kulinarisch eher skeptisch, das andere hingegen offen für alles. „In einer Gruppe von Kindern gibt es immer zwei Typen: die Neugierigen und die Zurückhaltenden.“ Sein Trick: „Ich gebe den Aufgeschlosseneren immer zuerst zu probieren, so kriegt man meistens auch die anderen.”

© David Maupile

Für die Algenchips wringt Arne Duinker Zuckertang aus, eine Braunalge mit großen lamellenartigen Blättern, die sich vielfältig zubereiten lässt. „Davon kann man auch Stücke abschneiden und zum Beispiel Fisch, Zitrone oder Zwiebeln einwickeln und braten“, sagt er. So bleibe der Fisch saftig und bekomme eine Umami-Note. Den Geschmack beschreibt er den Kindern als salzig, würzig und „wie Tee”. Dann gießt Duinker großzügig Pflanzenöl in eine Pfanne und röstet beide Seiten des Zuckertangs scharf an – fertig. Im Gegensatz zu Kartoffelchips braucht es praktischerweise nicht mal Salz. Während der eine noch skeptisch riecht, greift die nächste eine volle Hand und drückt sie sich in Richtung Mundöffnung. Im Gros urteilt junge Jury wohlwollend, Nachschlag ist gewünscht und die bunten Plastikteller werden gen Campingplatte gestreckt. Das Meer rauscht und in den roten Kinderbacken knuspern grüne Algenchips.

An einem provisorisch aufgebauten Stand am Bergener Fischmarkt, nur ein paar Schritte vom Meer entfernt, liegen Algen neben kleinen Schraubgläsern auf einem Biertisch. Die Gewürzmischungen von Sjøsaker (auf deutsch „Seemüse“) sollen eine Alternative zu herkömmlichen Geschmacksverstärkern sein. Es gibt alles, was es auch im Supermarkt gibt – Pizza, BBQ, Taco oder Garam Masala – bloß eben in gesund und auf Algenbasis. Eine davon ist die feingliedrig strabelige, rötliche Trüffelalge. Sie besteht aus pinselförmigen Algenbüscheln, die mineralisch und erdig schmecken, ein bisschen nach Shiitake … und Pu-Erh?

Bei einem Besuch an Arne Duinkers Arbeitsplatz stellt sich heraus, dass Sjøsaker ihre Gewürze in intensivem Austausch mit ihm entwickelt haben. Seit rund 20 Jahren arbeitet Duinker mit Küchenchefs zusammen. Er erzählt, wie Sternekoch Nicolai Nørregaard, ein bedeutender Vertreter der Nordic Cuisine, vor einigen Jahren an einem seiner Kurse teilgenommen habe. „Er sagte: Ich habe alles ausprobiert, was du mir beigebracht hast, aber was mich jetzt noch interessiert, ist die Trüffelalge.“ Bis zu diesem Zeitpunkt habe Duinker noch nie von dieser Alge gehört, also sei er nach Hause gegangen, um mehr darüber herauszufinden. „Tatsächlich war die Trüffelalge meine erste Trüffel-Erfahrung“, sagt Duinker. „Als ich dann mal echtes Trüffelöl probiert habe, fand ich es zu bitter.“

Algenmanufaktur

Eine zweieinhalbtägige Reise mit der Postschifflinie Hurtigruten von Bergen entfernt, in den nordnorwegischen Lofoten, sitzt die Algenmanufaktur „Lofoten Seaweed“. Seit 2016 stellen Angelita Eriksen und Tamara Singer hier Gewürzmischungen, getrocknetes Meeresgemüse und Algenseife her, ihre Produkte wurden schon mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

An der herzlich zerklüfteten Küste hundert Meilen nördlich des Polarkreises kann man der Crew direkt beim Ernten zusehen. In Neoprenanzügen und Wollmützen, bewaffnet mit Messer und einem orangefarbenen Plastiksieb, stehen Eriksen und Singer knie- bis hüfttief im Wasser und schneiden Algen ab, „immer oberhalb der geschlechtszellbildenden Organe, so dass sich sich schnell wieder reproduzieren können“, so Eriksen.

© Pete Veale

Danach werden die immerhin noch über einen Meter langen Algenblätter getrocknet, zerkleinert, zu verschiedenen Gewürzmischungen verarbeitet und an Highend-Küchen sowie Feinkosthändler oder Personenschiffe wie die traditionsreichen Hurtigruten geliefert. Das ist dann etwa ein geräuchertes Algensalz oder ein auf Algen basierendes Wok-Gewürz, vermengt mit Koriander, Knoblauch, Chili und Limette. Unter den 450 Algenarten, die in Norwegen wachsen, werden hier vor allem folgende sechs verarbeitet: Zuckertang, Flügeltang, Trüffeltang, Fingeralge, Nori-Meeresalge und Dulse-Lappentang.

Während Arne Duinker auf kindgerechtes Erklären mit Löwenzahn-Faktor baut, haben die Lofotener Ladys Videoclip und Storytelling parat; ihnen würde man in ihrer Wort- und Bildgewalt auch einen tief in der Arktis gelagerten Gin mit fermentierter Alge abkaufen. Es ist alles sehr pittoresk in Szene gesetzt, fühlt sich nützlich und nachhaltig an und obendrein schmeckt’s.

Gemeinsam ist ihnen die Liebe zur Alge und dem Kochen mit ihr. Während die norwegische Fischerstochter Angelita Eriksen mit dem Nebenjob vom Schneiden von Kabeljauzungen und dem Auslegen von Langleinen und Stockfischen aufwuchs, lernte Tamara Singer den Umgang früh von den Essen ihrer japanischen Mutter. In der Küche ihres Lofotener Ladens können Gäste ihre Kreationen kosten, etwa Kartoffel-Blini mit Sour Cream und Algenperlen. Letztere erinnern an Feuchtigkeitskapseln aus dem Drogeriemarkt, die straffe Haut versprechen.

Auch Arne Duinker argumentiert gerne mit der pflegenden Wirkung von Algen, um Neulinge von ihnen zu überzeugen. „Viele denken erstmal, dass Algen glitschig sind und eklig. Dann erwähne ich, dass sehr viele Kosmetika Algen enthalten, und wie gesund sie für Mensch und Umwelt generell sind“, sagt er. „Gerade der kosmetische Aspekt gefällt vielen, da reibt sich schon auch mal wer eine Alge übers Gesicht. Und plötzlich fällt aller Ekel; man muss eben das Mindset ein wenig anpassen.” Zuhause kocht er regelmäßig mit Algen und probiert immer wieder etwas Neues. „Letzten Sommer habe ich Karamell mit Zucker- und Lappentang gemacht, letzteren davon über Nacht eingelegt, das war gut“, sagt

Duinker. „Das schmeckt dann nach Anis und Lakritze. Und es kitzelt ein bisschen und passt immer gut zu Süßem.”

Duinkers persönliches Algen-Highlight in der Küche? Lappentang in Soja-Zitronen-Zucker, denn nur so kommt das Umami in voller Weise zum Tragen. Dazu passt Thunfisch, aber auch Fleisch. „Jedes Mal, wenn ich Fleisch koche, mariniere ich es in Algen“, sagt Duinker. „Wenn man das ein paar Mal gemacht hat, geht es nicht mehr ohne. Es ist eine geschmacklich so einnehmende Einbahnstraße.”

Über die Autorin

Juliane E. Reichert lebt in Berlin und schreibt dort als freiberufliche Journalistin über alles, was duftet, schmeckt und zum Nachdenken anregt. Freude bereiten ihr Artischocken, Oliven und Laphroaig, wenn’s denn einmal nordisch sein soll, gern auch Klippfisk, Kraftkar und Aquavit. Ihr Herz schlägt für Campingküche beim Wandern gleichwohl wie für skurrile Kuriositäten der gehobenen Herdplatte.

© Kristoffer Lorentzen