Jens Mecklenburg

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Story der Woche – Rätselhafte und genussvollen Sonderlinge in Wäldern

Eine Pilzreise durch den Norden
5. November 2024
Steinpilz

Ab Spätsommer, wenn die Natur sich langsam auf den Herbst einstellt, fängt es in den norddeutschen und nordischen Wäldern wunderbar zu duften an. Mystische wie sonderbare Gestalten schießen auf einmal aus dem Boden. Es ist Pilzzeit. Der Abschied vom Sommer fällt den Nordmenschen dank Maronen, Milchlingen, Pfifferlingen und Steinpilzen erheblich leicht.

Rätselhafte, auffällige Sonderlinge  

Nach Berichten des Plinius wurde der römische Kaiser Claudius von seiner Gattin Agrippina, der berüchtigten Mutter des Kaisers Nero, im Jahre 54 n.Chr. durch ein Pilzgericht vergiftet, um ihren Sohn auf den Thron zu bringen. Über Jahrhunderte mit großem Argwohn betrachtet, wurden die kleinen Waldbewohner noch im 19. Jahrhundert im „Appetitlexikon“ als „rätselhafte, auffällige Sonderlinge“ betrachtet.

Sei es drum: Betrachten wir den Boletus edulis, den Steinpilz. Er gehört zu den aromatischsten Pilzen, die sich im Herbst in den nordischen Wäldern finden lassen. Im Frühherbst – bei noch leichter Wärme und viel Feuchtigkeit – duftet es auf der Suche nach Steinpilzen herrlich im Wald. Besonders unter Fichten, Kiefern und Eichen findet der kundige Sammler und die kundige Sammlerin den König unter den Pilzen. Dies liegt daran, dass der Großpilz mit den Wurzeln dieser Bäume eine innige Lebensgemeinschaft eingeht: Das Pilzmyzel umspinnt die feinen Enden der Wurzeln mit einem Gespann von Fäden und versorgt sich so mit Kohlehydraten – im Austausch sichert sich der Baum die Wasser- und Mineralstoffversorgung über den Pilz. Der Steinpilz aus der Gattung der Dickröhrlinge ist ein typischer Hutpilz (Durchmesser bis zu 25 Zentimeter), das heißt er bildet seine Sporen an der Unterseite des weiß bis kastanienbraunen Käppchens. In manchen Gegenden hieß er übrigens lange auch „Herrenpilz“, denn in feudalistischen Zeiten hatte das „gemeine Volk“ doch bitte die Finger von dieser Köstlichkeit zu lassen. Das spiegelt sich auch heute noch im hohen Preis wider.

Pilzexperten wissen, dass es vom Steinpilz mehrere Arten gibt, so einen Eichen- einen Kiefern- und sogar einen wärmeliebenden schwarzhütigen Steinpilz. Allen gemeinsam ist: sie schmecken köstlich! Aber es gibt bestimmte Regeln zu beachten. Erstens: Sie müssen selbstverständlich frisch sein. Zweitens: Sie brauchen feuchte Böden, um das richtige Aroma zu entwickeln (deshalb schmecken aus südlichen Gefilden exportierte meist nicht so aromatisch) und drittens: keine wilden Experimente in der Küche. Beim Steinpilz gilt die Regel, weniger ist mehr. Der Steinpilz sperrt sich gegen Moden. Vielleicht genießt er gerade deshalb unter Feingaumen eine so große Wertschätzung. Der König des Waldes ist, wie wohl alle Monarchen, konservativ. In diesem Fall sind wir aber gerne sein Untertan.

Achtung Pilzpolizei

Wie im gesamten Norden verwandelt sich auch Norwegen im Herbst zu einem El Dorado für Pilzfans. Ob am Feld, im Wald oder auf der Wiese wimmelt es von den sonderbaren Geschöpfen und solange man kein Privatgrundstück betritt, kann man hemmungslos sammeln und sich dann ein feines Mahl zubereiten. Natürlich sollte man über gute Pilzkenntnisse oder ein zuverlässiges Pilzerkennungsbuch verfügen, damit man keinen Giftpilz erwischt … oder gar einen Psilocybinpilz! Diese Pilze, auch bekannt als Magic Mushrooms, wachsen im norwegischen Wald in rauen Mengen, vor allem die Art Spitzkegeliger Kahlkopf ist reich vertreten. Auf Norwegisch heißt dieser halluzinogene Pilz „fleinsopp“, nach einem alten Wort für „Pfeil“, das im modernen Norwegisch ausgestorben ist. Und wirklich, er läuft oben sehr spitz zu, der Name überzeugt also durchaus. Aber weil das alte Wort „flein“ eben längst ausgestorben ist, kam es dann zu einem weitreichenden Missverständnis. Dass nämlich die Wikinger vor dem Kampf Fliegenpilze verzehrt hätten, um sich in die richtige Kampfeswut hineinzusteigern und in ihrem Rausch so weit weggetreten zu sein, dass sie nicht so recht merkten, wenn um sie herum das Blut gen Himmel spritzte oder ihnen ein halber Arm verlorenging. „Fluesopp“ und „fleinsopp“ klingt auch ein wenig ähnlich. Aber: Nichts davon ist wahr. Hätten sich die Wikinger mit Fliegenpilzen vollgestopft, dann wären sie tot umgefallen, noch ehe der erste Feind auf Zuruftweite herangekommen wäre. Fliegenpilze sind nämlich sehr giftig! Die mittelalterlichen Chroniken sagen auch deutlich, dass vor dem Kampf zum Spitzkegeligen Kahlkopf gegriffen wurde, aber die waren ja viele Jahrhunderte hindurch in Vergessenheit geraten und mussten erst mühsam wieder entziffert werden, und bis dahin hatte sich die Geschichte mit den Fliegenpilzen schon in halb Europa verbreitet.

Zur Pilzsaison im Herbst, schickt die norwegische Polizei immer eine Menge Patrouillen in die Wälder, um den Pilzesammlern ins Körbchen zu schauen. Und alle Lokalzeitungen bringen Fotos der stolzen Gesetzeshüter, die ihre Beute vorzeigen können. Dann folgen die unvermeidlichen Leserbriefe, ob die Polizei nichts Wichtigeres zu tun hätte.  Also, beim Pilzesammeln in Norwegen den Fleinsopp meiden, denn sein Besitz kann zu unangenehmen Geldbußen und sogar zu Gefängnisstrafen führen. Den giftigen Fliegenpilz dagegen dürfen Sie nach Herzenslust mitnehmen, den zu sammeln ist schließlich erlaubt.

Fliegenpilz

Pilze können heilen

Von Norwegen nach Finnland. Eingebettet in die malerische Seenlandschaft im finnischen Lakeland wurde die ostfinnische Region Saimaa 2024 zur „Europäischen Region der Gastronomie“ gekürt. Eine Anerkennung der Region für ihre zahlreichen kulinarischen Schätze – zu denen natürlich auch Pilze gehören – den daraus zubereiteten Gerichten. Zur Botschafterin der Gastro-Region wurde das ehemalige internationale Topmodel, die heutige „Königin der Pilze“ Saimi Hoyer ernannt. Die Region ist reich an wilden Schätzen, zu den allein rund 250 Pilzarten gehören. Im Herzen der Region liegt ein verstecktes Juwel – der Saimaa-See. Der Saimaa ist der größte See Finnlands und der viertgrößte in Europa und ein beliebter Zufluchtsort für die Finnen, auch zum Pilzesammeln.

Saimi Hoyer eine leidenschaftliche Pilzsammlerin, liebt den Spätsommer und Herbst, wenn der „Supermarkt der Natur“ mit Köstlichkeiten wie Pfifferlingen, Steinpilzen und Nordischen Milchlingen überquillt. Fast die Hälfte der Einheimischen schließen sich nach den Grundsätzen des Jedermannsrechts der Tradition des Pilzesammelns an.

Saimi hatte sich als eines der ersten und erfolgreichsten Supermodels Finnlands einen Namen gemacht. Geboren und aufgewachsen ist sie in Helsinki, ihre familiären Wurzeln liegen aber in Punkaharju in Lakeland, wo sie die meisten Sommer ihrer Kindheit verbrachte. Als Model arbeitete Saimi zehn Jahre lang im Ausland, vor allem in Tokio und Mailand. Nachdem sie ihre Modelkarriere auf Eis gelegt hatte, beschloss sie, nach Punkaharju zu ziehen, wo sie auch heute noch lebt. Während ihrer Kindheit entwickelte Saimi eine sehr tiefe Verbundenheit zum Saimaa-See, zur Natur und zu Pilzen.

Saimi Hoyer © Visit Saimaa

„Hier ist die Heimat meiner Seele und meines Herzens, hier möchte ich für immer leben“, sagt sie über die finnische Seenlandschaft. 

Wenn Saimi voller Enthusiasmus von „ihrem Paradies“ erzählt, wirkt die Finnin mit dem lockigen Rotschopf glücklich, fast euphorisch. „Dieser Ort ist magisch. Wenn man hier ist, fühlt es sich so an, als würde man in einer Seifenblase leben, fernab von allem anderen. Es ist ein Ort, an dem immer wieder kleine Wunder passieren“, schwärmt sie.

Saimi, die als Kind zweier Schauspieler in Helsinki aufwuchs, verbrachte ihre langen Sommerferien regelmäßig an der finnischen Seenlandschaft. Ihr Vater stammte aus der Region und ihn zog es, wie seine Tochter später, immer wieder nach Saimaa zurück.

„Das ist vielleicht das größte Erbe meiner Eltern, mir die Liebe zur Natur und speziell zu Saimaa mitgegeben zu haben“, sagt Saimi, die eigentlich Schauspielerin werden wollte und Literatur und Italienisch studierte. Auf einem Konzert wurde sie jedoch entdeckt, womit ihrer Karriere als Supermodel begann. Sie flog durch die ganze Welt von Foto-Shooting zu Foto-Shooting, war oft in Paris, aber auch in London, New York, Tokio oder Mailand und zierte die Titel von Hochglanzmagazinen. Meist war sie auf dem Sprung, lebte aus dem Koffer, fühlte sich einsam. „Ich habe Punkaharju vermisst, den See, die Wälder. Ich hatte auf meinen Reisen immer Fotos von der Gegend dabei“, erzählt sie. Irgendwann einmal war die Sehnsucht so groß, dass sie ihr Leben wieder zurück nach Finnland verlegte und hier ihre Karriere fortsetzte. Dabei stand sie nicht nur vor Foto-, sondern auch vor Fernsehkameras und moderierte eigene TV-Shows.

Doch dann wurde sie krank, musste zwei Jahre lang immer wieder ins Krankenhaus, wurde teilweise wochenlang isoliert, konnte ihre beiden Kinder nicht sehen, mit ihnen spielen, sie in den Arm nehmen. „Es war eine schlimme Zeit. Ich war müde, konnte mich nur schwer bewegen, meine Batterien waren leer“, erinnert sie sich. Doch dann kam die Wende. Eine Behandlung schlug an, Saimi ging es besser. „Irgendwann einmal meinte mein Arzt: „Saimi, du musst dahin gehen, wo dein Herz ist“ und ich machte mich auf den Weg nach Punkaharju, zum Sommerhaus meiner Eltern.“ Damals ging es ihr immer noch nicht richtig gut, sie hatte Schwierigkeiten mit dem Laufen. Eines Tages begann es zu regnen, ein warmer Regen. Saimi zog es nach draußen. „Ich hatte nur einen Pyjama an, aber das war nicht wichtig. Ich wollte raus, wurde magisch von etwas angezogen. Dann entdeckte ich Frühlingspilze, Hunderte von ihnen. Ich folgte ihnen, fing an zu laufen und lief so zurück ins Leben.“ 

Von da an veränderte sich Saimis Leben. Sie schrieb ein Buch über Pilze, – „Sieniä & Ihmisiä“, was auf Deutsch „Pilze & Menschen“ heißt – die sie schon als kleines Kind liebte, die nun aber eine ganz andere Bedeutung für sie bekommen hatten. Heute gehört das Pilzesammeln zu ihrer großen Leidenschaft.

„Es gibt rund 250 Pilzarten in der Gegend und sie sind wahnsinnig vielfältig und schmecken unterschiedlich nach Anis, Fisch oder auch Kokosnuss“, erzählt Saimi. „Pilze schmecken nicht nur gut, sie können auch heilen“, ist Saimis feste Überzeugung.

Von lecker bis giftig

Wer selber auf einem ausgedehnten Spaziergang sammeln möchte, der sollte sich auskennen. Bei 5.000 verschiedenen Arten kann man schon mal den Überblick verlieren. Der weltweit erste Gastrosoph Karl-Friedrich von Rumohr – er stammte aus Schleswig-Holstein – warnt nachdrücklich in seinem Buch „Geist der Kochkunst“ die Sammler: „Die eßbaren Schwammgewächse sind übrigens sehr zahlreich und mannigfaltig. Doch es ist leicht, sich zu vergreifen und anstatt eines eßbaren Schwammes einen ganz ähnlichen giftigen zu erfassen. Viele, welche ihr Leben lieben, enthalten sich deshalb der Schwämme ohne einige Ausnahme.“ Zum Glück hat der ansonsten kluge Mann ein wenig übertrieben, sind doch nur sehr wenige Arten giftig bis auf den Tod. Die goldene Regel für den Sammler lautet: Im Zweifelsfall den Pilz lieber stehen lassen. Es kommt nur ins Körbchen was einwandfrei als genießbar identifiziert wird. Verwechslungsgefahr besteht beim Steinpilz zum Beispiel mit seinem ungenießbaren Doppelgänger, dem Gallenröhrling. Schwangere und kleinere Kinder sollten auf Wildpilze wegen der möglicherweise enthaltenen Schwermetalle lieber ganz verzichten und auf Zuchtpilze zurückgreifen.

Wer sich gut auskennt, sollte die Schätze des Waldes aber ruhig selber sammeln.

Für Sammlerinnen stehen im gesamten Norden Expertinnen und Experten bereit, zum Beispiel beim Gesundheitsamt und bei Naturschutzvereinen, die die selbst gesammelten Schätze gern begutachten. So ist man auf der sicheren Seite. Auch werden in vielen Regionen zur Herbstzeit Pilzexkursionen angeboten. 

Zu empfehlen:

Zu den besonders schmackhaften Speisepilzen im Norden gehören Steinpilze, Birkenpilze, Pfifferlinge und der Maronen-Röhrling (im Volksmund einfach Marone genannt). Köstlich sind auch die Stockschwämmchen, können aber mit zahlreichen Giftpilzen verwechselt werden, sollten also nur von Experten gesammelt werden. Auch der Hallimasch ist beliebt, im rohen Zustand aber giftig.

Pfifferlinge