Spitzenköche, Großhändler und Fachmedien machen sich für baldige Lockerungen der Beschränkungen in der Gastronomie stark und schreiben der Kanzlerin einen sorgenvollen Brief.
„Jede Woche der Schließung führt zu beträchtlichen Verdienstausfällen, wachsenden Liquiditätsengpässen und massiven Zukunftssorgen für die Unternehmerinnen und Unternehmer sowie ihre Familien“, heißt es in einem offenen Brief, mit dem sich die Autoren nach Angaben des Großhandelsverbands Foodservice am Montag an die Bundesregierung wandten.
Die andauernden Corona-Beschränkungen würden „zu einer nie dagewesenen Pleitewelle in dieser Branche führen“. Anders als Restaurants, Kneipen und Cafés dürfen kleinere Geschäfte in vielen Bundesländern seit Montag wieder öffnen.
Man unterstütze die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, sei aber überzeugt, mit entsprechenden Abstandsregeln und Hygiene-Maßnahmen einen „achtsamen Neustart“ gewährleisten zu können, heißt es in dem Brief weiter.
Zu den Unterzeichnern gehören Spitzenköche und Gastronomen wie Frank Rosin, Tim Raue, Tim Mälzer, Heinz Winkler, The Duc Ngo, Marco Müller, Joachim Wissler, Karlheinz Hauser, Stefan Marquard, Thomas Imbusch, Roland Trettl, Kevin Fehling, Gerhard Retter, Ivo Ebert, Regis Lamazere oder Thomas Kammeier, Handelsketten wie Metro oder Edeka und Fachmedien wie Rolling Pin und GOURMETWELTEN.
Zudem wurde eine Online-Petition ins Leben gerufen, die auch BürgerInnen unterzeichnen können.
Hier geht es zur Online-Petition
Offener Brief: Perspektiven für einen achtsamen Neustart der Gastronomie
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
zum heutigen Montag ist eine Reihe von Lockerungen der Restriktionen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie bundesweit in Kraft getreten. Mit diesen ersten Exit-Maßnahmen haben die Bundesregierung sowie die Regierungen der Länder der Gesellschaft einen ersten Weg in eine „neue Normalität“ aufgezeigt. Für eine Branche gibt es diesen Weg leider noch nicht:
Die Gastronomie.
Mit über 220.000 Betrieben und circa 2,4 Millionen Beschäftigten ist die Gastronomie nicht nur ein ganz wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Sie ist auch ein enorm wichtiger Teil unserer Gesellschaft und Kultur. Sie bereichert durch ihre Vielfalt, Kreativität, Leidenschaft und Qualität das tägliche Leben aller Bürger und Bürgerinnen in Deutschland.
Wir alle haben unsere Lieblingslokale, mit denen wir so schöne und wertvolle Erinnerungen verbinden, die von Unternehmern betrieben werden, die uns ans Herz gewachsen sind. Wir dürfen diesen wichtigen Teil unserer Lebensqualität nicht aufs Spiel setzen, zumal die Sehnsucht in der Bevölkerung stetig steigt: In zahlreichen Umfragen hinsichtlich der Dinge, die am meisten vermisst werden, ran-giert der Restaurantbesuch auf den vordersten Plätzen.
Umso bedauerlicher ist es daher, dass im Rahmen der Exit-Überlegungen noch keine Perspektive zu einem achtsamen Neustart der Gastronomie zu erkennen ist: Seit dem 15. April ist klar, dass die aktuelle Situation bis auf weiteres bestehen bleiben wird – vermutlich weit über den 4. Mai hinaus, denn bisher ist nicht einmal eine Prüfung in Aussicht gestellt worden.
Das ist insbesondere deswegen beklagenswert, weil zugleich auch für die Gastronomie sehr klare Schutzkonzepte existieren, unter denen eine sichere Wiederaufnahme der Betriebstätigkeiten er-folgen könnte – und in denen ein klares Bewusstsein für die Verantwortung seitens der Gastronomie zur Infektionsprävention zum Ausdruck kommt.
Für die vielen zumeist kleinen und mittelständischen Gastronomiebetriebe in Deutschland bedeutet diese fehlende Perspektive der vorsichtigen Öffnung eine Bedrohung ihrer Existenz. Sie sind verletzlicher als jeder Konzern. Jede Woche der Schließung führt zu beträchtlichen Verdienstausfällen, wachsenden Liquiditätsengpässen und massiven Zukunftssorgen für die Unternehmerinnen und Unternehmer sowie ihrer Familien. Mit jedem Tag der Unklarheit darüber, wann der Weg in die „neue Normalität“ beginnt, wachsen die Schuldenberge und somit die Perspektivlosigkeit. Damit wird auch ein wesentlicher Faktor unserer Kultur und Lebensqualität aufs Spiel gesetzt, denn ein Fortdauern des Lockdowns wird zu einer nie dagewesenen Pleitewelle in dieser Branche führen.
Wir wenden uns in einer breiten Allianz von Gastronomen und Gastronominnen, Großhändlern, Zulieferbetrieben und Verbänden an Sie, sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin. Uns eint das Bestreben, den Niedergang der Gastronomielandschaft in Deutschland und damit den Niedergang der Vielfalt und Lebendigkeit in unseren Städten, Dörfern und Nachbarschaften abzuwenden. Wir alle fühlen mit den Gastronomiebetrieben in dieser schwierigen Zeit – und sind vielerorts selbst von der Krise betroffen.
Wir appellieren an Sie: Geben Sie den Gastronomen und Gastronominnen im Rahmen der aktuellen Abwägungen zu Lockerungen der COVID-19-Restriktionen eine Perspektive, die sie ermutigt, für ihr Geschäft zu kämpfen – und setzen Sie sich für eine Politik ein, die selbstverständlich die Infektions-prävention priorisiert, aber zeitgleich einen Neustart einer verantwortungsbewussten Gastronomie ermöglicht. Aus unserer Sicht stehen diese Ziele in keinem Widerspruch zu einander.
Wir bitten Sie daher um:
1. Eine offene Auseinandersetzung mit Schutzkonzepten für die Gastronomie, die eine sukzessive Öffnung der Branche erlaubt.
Es stimmt: In keiner anderen Branche steht das Zusammensein so im Vordergrund wie in der Gastronomie. In der Gastronomie ist es für Gäste zudem kaum möglich, eine empfohlene Gesichtsmaske zu tragen. Gastronomische Betriebe tragen daher besondere Verantwortung dafür, Standards und Maßnahmen im Geschäftsablauf zu verankern, die das Infektionsrisiko maßgeblich reduzieren.
Wie für nun gelockerte Branchen liegen auch für die Gastronomie verschiedene Schutzkonzepte vor. Sie gehen weit über 1,5 m Abstandsregelungen zwischen Tischen und Begrenzung von zwei Personen bzw. Familien pro Tisch hinaus. Sie umfassen maßgeblich erweiterte Hygieneanforderungen für Räumlichkeiten, Gästekontakt, Geschirr und Utensilien und Küchenmitarbeiter sowie klare Regeln für den Publikumsverkehr für Service und Gäste. Unter Anwendung dieser Konzepte kann eine sichere Wiedereröffnung der Gastronomie auf verantwortungsvolle Art und Weise ermöglicht werden.
Dieser Schritt ist aus unserer Sicht auch deshalb enorm wichtig, weil der Gastronomiebesuch in unserer Gesellschaft einen so großen Stellenwert genießt. Wir sind fest davon überzeugt, dass sowohl die Gäste als auch die Betreiber mit großem Verständnis und Verantwortungsbewusstsein die notwendigen Vorgaben berücksichtigen und durchsetzen werden. Das erfolgreiche Umsetzen der Maßnahmen liegt im höchsten Eigeninteresse der Gastronomen und Gastronominnen selbst. Klar muss sein: Der „zerbrechliche Zwischenerfolg“, der bei der Eindämmung von COVID-19 erreicht wurde, darf nicht gefährdet werden.
2. Eine Erörterung konkreter Fördermaßnahmen, um die Vielfalt und Qualität der Gastronomie nachhaltig zu schützen
Wir erkennen in voller Dankbarkeit an, dass die Bundesregierung sowie die Bundesländer schnell und ausnahmslos gehandelt haben und mit Kurzarbeitergeld, Soforthilfen und KfW-Programmen erste Linderungen in dieser Krise geschaffen haben. Klar ist jedoch: Im Hinblick auf die Dauer des Lockdowns der Gastronomie werden diese Instrumente nicht ausreichen. Teilweise werden die Kredite, die nun aufgenommen wurden, um die nächsten Wochen und Monate zu überstehen, die wirtschaftliche Bedrohung nur weiter verschärfen.
Sogar bei einer zeitnahen, sukzessiven Öffnung der Gastronomie ist davon auszugehen, dass eine Rückkehr in die Wirtschaftlichkeit im Rahmen der notwendigen Präventionsmaßnahmen nicht sofort möglich ist: Wer z.B. für eine nicht absehbare Zeit nur eine reduzierte Anzahl von Tischen im Sinne der Abstandswahrung besetzten kann, fährt dauerhaft Umsatzverluste.
Deshalb ist es wichtig, auch weiterhin wirtschaftliche Signale zu senden, die Mut und einen wirklichen Unterschied machen. Ein wirkungsvolles Instrument der Stabilisierung stellt eine Erweiterung der Soforthilfen durch einen Gastronomie-Rettungsfonds mit direkten Finanzhilfen dar. Des Weiteren bietet eine zumindest zeitlich begrenzte Herabsetzung des MwSt.-Satzes auf 7% ab dem ersten Tag der Wiedereröffnung Möglichkeiten für eine Erholung der Branche sowie auch zur Sicherstellung der Rückzahlungen der KfW-Kredite.
Wir wünschen uns, dass dieser Appell zu einem ehrlichen und offenen Dialog zu einer „neuen Normalität“ für die Gastronomie führt und damit die Vielfalt und Qualität unseres täglichen Lebens sukzessive wieder aufblühen lässt. Dies ist uns Herzensangelegenheit, für die wir uns alle mit voller Kraft einsetzen wollen. Auf unsere Unterstützung bei der Revitalisierung der Gastronomie in Deutschland können Sie, Frau Bundeskanzlerin, vollumfänglich zählen.
Herzlichen Dank!