Ein Beitrag von Wolfgang Heumer
Theatermenschen aus regionalen und überregionalen Bühnenhäusern zieht es häufig in ein Ladenlokal im Bremerhavener Szeneviertel „Alte Bürger“. Dort feiert eines der kleinsten Theater Deutschlands Publikumserfolge. Das „piccolo teatro Haventheater“ hat nur 54 Plätze.
Der Blick von der Bühne bietet den Schauspielern und Schauspielerinnen eine besondere Perspektive. Nicht etwa, weil er in die Ferne schweifen kann. Sondern weil das Publikum sogar in der hintersten Reihe zum Greifen nahe ist. Das „piccolo teatro Haventheater“ in Bremerhaven ist so klein, dass sich der Vorhang zu Vorstellungsbeginn nicht vor der Bühne hebt, sondern sich hinter der Kasse schließt. Ohne diesen Vorhang hätten Passanten an der „Alten Bürger“ jederzeit freien Blick auf die Bretter, die die Welt bedeuten. Das piccolo teatro residiert in einem alten Ladenlokal gleich hinter den Schaufensterscheiben. „Gerade die Nähe zum Publikum macht den Reiz aus und bringt richtig großen Spaß“, sagt Intendant Daniel Meyer-Dinkgräfe. Der Spaß ist Programm für die maximal 54 Gäste einer Vorstellung. Als eines der kleinsten privaten Theater in Deutschland hat sich das teatro auf „Komödien mit Tiefgang“ spezialisiert.
Theater-Intendant mit Bühnenstaub im Blut
Ein so kleines Haus wirtschaftlich erfolgreich zu betreiben, ist ohne Zweifel nicht leicht. Doch unter künstlerischen Aspekten dürfte es eine Offenbarung sein, vor allem dann, wenn man wie der jetzige Leiter Bühnenstaub im Blut hat. „Meine Mutter war Schauspielerin“, berichtet der 64-Jährige. Unter anderem arbeitete sie zwei Spielzeiten lang mit Gustaf Gründgens am Düsseldorfer Schauspielhaus. Ihre danach wechselnden Engagements führten sie und damit auch ihren Sohn unter anderem in die städtischen Theater von Flensburg, Oldenburg und Neuss. Nach der Rückkehr ins Rheinland arbeitete sie unter anderem für die Komödie Düsseldorf und die Kammerspiele: „Daher kommt wahrscheinlich mein Interesse am tiefgründigen Humor“, sagt der teatro-Intendant, der die Leitung des kleinen Theaters 2019 übernahm.
Als Professor dem Theater auch wissenschaftlich verbunden
Meyer-Dinkgräfe stand zwar als Kind und als Jugendlicher wiederholt auf den Bühnen, auf denen auch seine Mutter arbeitete. Doch in die Berufswelt rund um das Theater tauchte er erst nach dem Studium von Englisch und Philosophie auf Lehramt ein. „Zu der Zeit, als hierzulande über die Einführung der Gesamtschule diskutiert wurde, interessierte sich kein Mensch für Philosophie“, stellte er fest. Er ging nach Großbritannien und promovierte an der University of London in Theaterwissenschaften. Während der anschließenden 23 Jahre als Hochschullehrer an der University of Wales Aberystwyth sowie als Professor of Drama an der University of Lincoln übernahm er zwar immer wieder auch Regiearbeiten mit seinen Studierenden. Dennoch wäre es wohl bei der überwiegend wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Theater geblieben.
Doch dann erfuhr Meyer-Dinkgräfe 2018, dass der Gründer des piccolo teatro in Bremerhaven, Roberto Widmer, nach knapp acht Jahren einen Nachfolger suchte. Der gebürtige Schweizer und der Wahl-Waliser verstanden sich auf Anhieb. Meyer-Dinkgräfe zog kurzerhand nach Bremerhaven, das er bis dahin nicht kannte. Wenige Monate später übernahm er das Theater.
Klein und fein
Klein, aber fein: Das umschreibt das Prinzip des winzigen Theaters. In der Regel gibt es acht bis zehn Vorstellungen im Monat. Mehr als zwei Personen können pro Stück nicht mitspielen – mehr Platz gibt die Garderobe für die Schauspieler und Schauspielerinnen nicht her. „Na ja“, sagt Meyer-Dinkgräfe schmunzelnd, „wenn es sein muss, gehen auch drei – aber dann muss einer vor der Tür warten.“ Vor dem Spiegel in der kleinen Kammer schminkte sich schon Elvis. Nein, nicht der verstorbene King of Rock‘n‘Roll, sondern in dessen Rolle der Schauspieler Robin Katona. Gemeinsam mit Meike Lehmann und Maja Rodigast brillierte er in dem Stück „Meine Nacht mit Elvis“. Der Bremer Autor Dirk Böhling widmete die Geschichte dem 1. Oktober 1958, der in Bremerhaven vielen Älteren im Gedächtnis gebliebenen ist. Es war der Tag, als der US-amerikanische Sänger mit dem Schiff in der Seestadt angekommen war und erstmals deutschen Boden betreten hatte.
Auf der Bühne hört man jedes Wort der Gäste
Die Stücke für das Haventheater müssen nicht unbedingt solches Lokalkolorit haben. Aber Wortwitz und tiefergehende Unterhaltung sind für den Intendanten Voraussetzung, um sich für ein Stück zu entscheiden. Häufig übernimmt Meyer-Dinkgräfe selbst die Regie. Bislang stand er nur in einem Stück auf der Bühne, aber weitere Auftritte sind geplant. Vor allem zählt für ihn die gelungene Inszenierung – was in einem Theater ohne nennenswerte Distanz zwischen Bühne und Publikum für Darstellende und Regieführende eine Herausforderung ist. „Auf der Bühne hört man jedes Wort, das die Gäste miteinander wechseln, auch wenn sie flüstern“, berichtet Daniel Meyer-Dinkgräfe. Allen an der Produktion Beteiligten gefällt es dennoch im piccolo teatro. Angesichts der Theatergröße sind die Umsätze nicht riesig, und der Intendant kann nur in sehr engen Grenzen Honorare für Schauspielende, Regisseurinnen oder Bühnenbildner & Co. zahlen. „Aber sie alle kommen trotzdem gerne“, freut er sich.
Bremerhaven kann auch Kultur
Auch die Besucherinnen und Besucher kommen gerne. Häufig müssen Stücke wie „Meine Nacht mit Elvis“ in die Verlängerung gehen. Und das, obwohl Bremerhaven als Stadt mit 115.000 Einwohnerinnen und Einwohnern einiges an Kultur zu bieten hat. Auch wenn die Hafenstadt am liebsten mit Fisch und Schiffen für sich wirbt, ist sie ähnlich großen Städten auch in kulturellen Dingen um einiges voraus. Bremerhaven besitzt mit dem Stadttheater ein Drei-Sparten-Haus, mit dem Theater im Fischereihafen eine Gastspiel- und Kleinkunstbühne, ein Kinder- und Jugendtheater, das private Figurentheater, einen privaten Kunstverein mit eigener Kunsthalle – „und nicht zuletzt das piccolo teatro Haventheater“, ergänzt Meyer-Dinkgräfe mit einem Lächeln. Die kulturelle Vielfalt, die Bremerhaven zu bieten hat, schätzt er sehr. Ebenso gefällt ihm der Austausch zwischen den Akteurinnen und Akteuren in der Seestadt.