Christine Bremer vom niedersächsischen Heidegeflügel-Hof hat vor einem Jahr ein einzigartiges Projekt ins Leben gerufen. Sie kreuzt alte Robust-Putenrassen mit modernen Hybridrassen. Ihr Ziel ist eine neue Rasse für artgerechte Haltung und Feinschmecker.
Raus aus der Puten-Fabrik
Christine Bremer ist Landwirtschaftsmeisterin und hat mit ihrem Mann viele Jahre auf einem Demeter Geflügelbetrieb gearbeitet. Schon lange hat sich Bremer über die Puten, deren Haltung und ihre Anfälligkeit für Krankheiten Gedanken gemacht. Zudem viel ihr vor einigen Jahren auf, dass es weit und breit keine lebenden Puten zu sehen gibt. Und das, obwohl allein in Deutschland im Jahr 2019 insgesamt rund 35 Millionen Puten mit einem Gesamtgewicht von etwa 470.580 Tonnen geschlachtet wurden.
Bremer sagt, dass 80 Prozent der Menschen in ihrem Leben noch keine Pute gesehen, jedoch hundert Prozent schon Putenfleisch gegessen hätten. Das läge daran, so sagt sie, dass Puten zum größten Teil hermetisch abgeriegelt gehalten würden. Nur in der ökologischen Landwirtschaft gäbe es ein paar wenige Betriebe, die ihren Tieren Auslauf in einem Außenbereich bieten würden. Das Problem läge vor allem darin, das die heutigen auf Fleischleistung gezüchteten Hybridrassen extrem anfällig für Krankheiten seien. Ein normaler Ausflug auf die Wiese würde für die meisten Tiere das Risiko zu erkranken drastisch erhöhen. Durch die Überzüchtung und das extrem hohe Wachstumspotenzial ist deren Körper ständig mit dem Fleischzuwachs beschäftigt, so dass er keine weiteren Ressourcen mehr zur Verfügung hat, um zum Beispiel das Immunsystem auszubilden. Das Ergebnis sind zwar sehr fleischige Tiere, die aber stark Krankheitsanfällig sind und einer Infektion keine Abwehrstoffe entgegen setzen können und auch keine Selbstheilungskräfte entwickeln. Selbst der normalen Keimbelastung in der Natur sind sie nicht gewachsen.
Puten & Antibiotika
Wenn in einem üblichen Mastbetrieb eine Pute die Flügel hängen lässt, weil es ihr nicht gut geht, bekommen außer ihr auch alle 10.000 Mitbewohner-innen ein Antibiotikum ins Trinkwasser oder Futter verabreicht. In Deutschland gehen 50 Prozent der eingesetzten Antibiotika in die Tierhaltung. Gerade Geflügelhalter entwickeln dadurch häufig Multiresistenzen und sind so einem sehr hohen Risiko bei einer bakteriellen Infektion ausgesetzt.
Der Unterschied zwischen der konventionellen und der ökologischen Putenaufzucht liegt nicht nur im Futter, sondern auch bei den Quadratmetern, die einem Tier zugebilligt werden. In der konventionellen Haltung teilen sich zum Beispiel zwei Hähne einen Quadratmeter. Hier sind 55 Kilogramm Lebendgesamtgewicht zulässig. Das ist okay, solange die Tiere klein sind. Für zwei ausgewachsene Hähne ist das entschieden zu wenig Platz. Da die Tiere durch die Platzenge aggressiv werden und sich gegenseitig tödliche Verletzungen zufügen würden, wird ihnen der Oberschnabel kopiert.
In der ökologischen Landwirtschaft werden nur insgesamt 16 bis maximal 21 Kilogramm Tier pro Quadratmeter zugelassen. Zusätzlich erhalten diese Puten einen Auslauf von mindestens 10 Quadratmetern. Außerdem dürfen sie ihre kompletten Schnäbel behalten.
Mittlerweile sind in Deutschland beim Bund der deutschen Rassegeflügelzüchter und der Gesellschaft zur Erhaltung alter Haustierrassen nur noch jeweils 2.000 Exemplare der drei übrig gebliebenen Robust-Puten-Rassen (Bronzepute, Cröllwitzer Pute und Deutsche Pute) gelistet.
„Wenn es keiner macht, mach ich es“
Christine Bremer mästet schon seit 15 Jahren immer wieder eine kleine Anzahl von ökologisch aufgezogenen Puten. Sie sagt, „das Thema beschäftigt mich schon sehr lange und ließ mich nicht mehr los. Die Agrarpolitik verspricht seit dreißig Jahren Änderungen in der Putenmästung herbeizuführen, doch es geschieht nichts. Da dachte ich mir, wenn keiner etwas macht muss ich etwas tun.“ Seit dieser Zeit versucht sie auf verschiedenen Wegen die Puten widerstandsfähiger gegen Krankheiten zu züchten und ihnen die neun Monate, die sie maximal leben, so angenehm wie möglich zu machen. Ihr Mann Rouven hat sich auf die Futterherstellung des Geflügels spezialisiert. Er baut Mais, Hafer und Weizen in ökologischer Landwirtschaft an. Da Puten, wenn sie die Möglichkeit bekommen, auch gerne weiden, gibt es in unmittelbarer Nähe zum Stall große grüne Flächen auf denen das Federvieh nach Herzenslust Gras und andere Leckereien zupfen kann.
Nachdem die Putenliebhaberin nun ihren Weg gefunden hat, wollte sie es nicht bei der Hobbyzucht belassen.
Um ihre Idee in die Tat umsetzen zu können, musste jedoch erst einmal ein Antrag bei der Landwirtschaftskammer gestellt werden. Die Geflügelfachfrau wandte sich an das Kompetenzzentrum Ökolandbau Niedersachsen. Hier rannte sie bei Carolin Grieshop, der Geschäftsführerin, offene Türen ein. Zusammen mit einer Mitarbeiterin für Pressearbeit von dem selbigen, Ulrike Hoffmeister, erarbeiteten sie gemeinsam den Antrag auf Förderung und reichten ihn bei der Kammer ein. Einige Zeit später kam tatsächlich die Zusage. Christine Bremer bekam die die entsprechenden Fördergelder in Aussicht gestellt. Diese Gelder werden durch das EIP (Europäisches Innovation Projekt) zugeteilt.
Das Projekt nimmt Gestalt an
Die Bremers haben vor einem Jahr einen Hof gekauft. Hier ist nicht nur Platz für ihre 1.400 Zweinutzungs-Hühner (Eier und Fleisch), sondern auch für die Puten. Christine Bremer erzählt, „Unsere alten Rassen sind sehr robust, doch sie sehen ohne ihr Federkleid aus wie zu groß geratene Suppenhühner. Sie haben zwar wunderschöne Federn, jedoch nicht viel Fleisch. Bei den heutigen Rassen wurde in den letzten zehn Jahren in Deutschland einiges der Qualzuchten zurückgezüchtet, so dass es den Puten von der Beingesundheit und der Tierbalance wieder wesentlich besser geht. Doch werden sie nach wie vor nur auf Masse gezüchtet und sehen entgegen ihren robusten Vorfahren wie riesige Fleischklopse aus. Es gibt weltweit nur vier große Putenzuchtbetriebe die den Markt beherrschen. Einer der vier erklärte sich bereit, mit Christine Bremer zusammenzuarbeiten und verkaufte ihr ein paar Hybrid-Hennen, sowie die Lizenz zum Züchten. Zeitgleich lernte die Putenliebhaberin über die Erhaltungszucht Dr. Jürgen Günther Schulze kennengelernt. Er war es dann auch, der ihr verschiedene Exemplare der alten Rassen besorgen konnte. Nun begann Bremer jeweils einen Hahn der alten Rasse mit einer Hybridhenne, oder eben umgekehrt, zu kreuzen. Aus Erfahrung wusste sie, dass Puten penibel saubere Ställe und Futterbehälter, qualitativ hochwertiges Futter, genügend Platz um sich zu bewegen, sowie Auslauf im Grünen benötigen. All das bekamen die Tiere bei ihr und es funktionierte. Ihre Kreuzungen setzen Fleisch an, jedoch nur so viel, dass der Körper der Puten noch genug Energie übrig hat um das Immunsystem der Tiere ausreichend auszubilden. Das Ergebnis sind nicht nur schöne und lauffähige, sondern vor allem auch gesunde Truthennen und Hähne.
Da sich unter ihren Tieren auch immer wieder Handaufzuchten befinden, sind natürlich diese, ähnlich wie Gänse, besonders anhänglich. Und so joggt die Putenflüsterin morgens schon lange nicht mehr alleine, sondern stets in Begleitung einer kleinen Putenschar. Diese folgt ihr in ihrem für die Tiere typisch leicht taumelnden Laufschritt, der von stetigen Flügelschlagen begleitet wird, um mit ihrem „Frauchen“ Schritt halten zu können. Christine Bremer sagt, „Es ist oft gar nicht leicht für mich, die Puten zum Schlachten bringen zu lassen. Diese Tiere geben mit ihrem witzigen Wesen und ihrer Heiterkeit so viel Positives ab, dass wir ihnen gar nichts Schlechtes antun wollen. Wenn man sie näher kennenlernt kommt man gar nicht drum rum sie zu mögen. Das Truthuhn ist ein Komiker wider Willen. Sie sind nicht nur witzig, sondern auch extrem neugierig und an allem interessiert. Durch ihre Neugierde stecken sie sogar manchmal den Kopf in etwas hinein was ihnen nicht gut tut. Deshalb werden sie von einigen Menschen irrigerweise für dumm gehalten.“
Die Vermarktung
Vom Tag des Schlupfes bis zu dem Tag, an dem sie ihr gewünschtes Lebendgewicht zwischen 5 bis 10 Kilogramm erreicht haben, vergehen 6 bis 9 Monate. Dann ist die Zeit des Abschiedes gekommen, sie werden zu dem zwanzig Minuten entfernt liegenden Schlachter gebracht, der den Bremers am nächsten Tag die zerlegten Tiere für die Vermarktung zurückbringt.
In diesem Jahr wird die Putenflüsterin zu Weihnachten die ersten 100 Puten vermarkten. Im Jahr darauf sollen es dann schon 600 werden. Sie sollen dann in Gruppen zu 50 Tieren an andere Landwirte aus der Projektgruppe, abgegeben werden.
Zurzeit beschäftigen sich die Bremers damit, eine gute Vermarktungslogistik auszuarbeiten. Bisher bekommt man eine Pute vom Heidegeflügel-Hof nur direkt vor Ort oder manchmal auch bei Metzger Dreiman in Hamburg. Es wird an einer Online-Vermarktung überlegt. Die Nachfrage nach robusten wohlschmeckenden Puten ist auf jeden Fall da: Köche aus der gehobenen Gastronomie haben schon ihr Interesse bekundet.