Seit dem 1. Oktober 2019 zeigt ein vom in Kiel ansässigen Nutztierschutzverein PROVIEH und den süddeutschen Demeter Heu-Milch-Bauern gemeinsam entwickeltes Siegel auf den entsprechenden Milchverpackungen die kuhgebundene Kälberaufzucht an. Auf dem neuen Siegel ist ein Kalb abgebildet, das bei der Kuh trinkt. Der Schriftzug „Mehr Zeit zu zweit für Kuh plus Kalb“ beschreibt die besondere Aufzuchtform der teilnehmenden Betriebe und steht gleichzeitig für die Zusammenarbeit von Tierschutz und Landwirtschaft. Wie schaut es im Norden mit der muttergebundenen Kälberhaltung aus?
Wirtschaftlichkeit und Tierwohl
Warum werden in den meisten Milchbetrieben die Kälber gleich nach ihrer Geburt von den Mutterkühen getrennt? Ist es den Kälbern egal, ob sie am Euter der Kuh oder an dem „Zapfen“ eines Tränkeeimers trinken? Vergisst die Mutterkuh so einfach, dass sie gerade ein Kalb geboren hat? Hat die Haltungsform Auswirkungen auf die Qualität der Milch?
Zu diesen Fragen gibt es verschiedene Meinungen und Erfahrungswerte von Tierschützern und Milchbauern.
Ein Milchbauer hält Kühe, um die von ihnen gewonnene Milch zu vermarkten. Ein konventionell arbeitender Milchwirt muss Masse produzieren und verkaufen, um heutzutage überhaupt über die Runden zu kommen. Auch der Milchmarkt ist globalisiert, Milch ist ein Billig-Produkt geworden. Ein Bio-Milch-Bauer bekommt für seine Milch mehr Geld, hat aber auch einen höheren Kosten- und Zeitaufwand. Die Kälber mindestens vier Wochen bei der Kuh zu belassen, bedeutet erst einmal eine Einbuße der zur Verfügung stehenden Milchmenge. Eine deutsche Hochleistungskuh kommt auf eine tägliche Milchmenge von 40 und mehr Litern. Die Milch der Kühe soll verkauft und nicht für die Aufzucht der Kälber „verschwendet“ werden. Wirtschaftliche Interessen richten sich erfahrungsgemäß meistens gegen das Wohl der Tiere. Ist es möglich, Wirtschaftlichkeit und Tierwohl gleichermaßen zu vereinbaren?
Von der Färse zur Milchkuh
Eine Färse (Jungkuh) muss, um Milch geben zu können, erst einmal ein Kalb bekommen. Dies geschieht in der Regel um das zweite Lebensjahr herum. Nach der Geburt setzt der Milchfluss ein, der nur durch die jährliche, erneute Kalbung aufrechterhalten werden kann. Die Tragzeit beim Rind beträgt mit rund 280 Tagen kaum mehr als beim Menschen. Direkt nach der Kalbung leckt die Mutterkuh ihr Neugeborenes trocken und stupst es immer wieder sanft an, damit es aufsteht und den Weg zum Euter sucht. Aus diesem fließt nun für ein Jahr die Milch, sofern das Kalb regelmäßig am Euter saugt, oder die Kuh täglich gemolken wird.
Ein Kalb wächst heran
In den ersten fünf Tagen produziert die Mutterkuh die sogenannte „Biestmilch“ (Kolostrum), die besonders Nahrhaft ist und einen hohen Fett- und Eiweißgehalt aufweist. Zudem enthält sie wichtige Stoffe, wie zum Beispiel die Immunglobuline, die wie eine passive Immunisierung wirken und das Kalb vor Infektionen schützen, bis sein eigenes Immunsystem ausreichend entwickelt ist.
Das Kolostrum ist nicht für den menschlichen Verzehr geeignet.
Ein Kalb trinkt in den ersten zwei Lebenswochen täglich sechs bis acht Mal bei der Mutterkuh. Nach einer Woche sind es schon sechs Liter pro Tag. Ab der dritten Woche trinkt es noch vier bis fünfmal pro Tag. Je älter das Kalb wird, desto seltener sucht es Mutters Milchbar auf. Mit circa sechs Monaten fängt die Mutterkuh langsam an, ihr Kalb zu entwöhnen.
Großgehungert
Seit Jahrzehnten wird den sich in der Ausbildung zum staatlich geprüften Landwirt stehenden Menschen beigebracht, dass die Kälber „großgehungert“ werden müssen, damit die Mutterkühe das Geld verdienen können. Auch heute ist es in den meisten Lehrbüchern noch so beschrieben.
Das bedeutet, dass die Kälber direkt nach der Geburt von den Mutterkühen getrennt und die ersten Wochen mit Milchaustauscher, einem proteinhaltigen Milchersatz, aus dem Eimer ernährt werden. Es ist weit verbreitet, den Kälbern nur zwei Mal pro Tag drei bis vier Liter Milch anzubieten. Bei der intensiven Aufzucht sind es zweimal am Tag sieben Liter. Im Allgemeinen werden die Kälber mit circa acht Wochen langsam von der Milch entwöhnt, so dass sie mit zehn Wochen bereits ausschließlich „feste Nahrung“ zu sich nehmen.
Noch vor dreißig Jahren wurden sie oft in dunklen Holzboxen herangezogen, in dem sie nicht einmal die Möglichkeit hatten, sich zu drehen. Der darauf angesprochene Milchviehwirt sagte damals, „So bleibt das Fleisch des Kalbes schön weiß, das mögen die Kunden.“ Da geht es den heutigen konventionell gehaltenen Kälbern schon besser. Immerhin werden die meisten von ihnen in einem sogenannten „Iglu“, einer nach vorne hin offenen Box mit ein wenig Auslauf davor, gehalten. Da Kühe hoch soziale Wesen sind, ist es für ihr Wohlbefinden von großer Bedeutung, nicht in „Einzelhaft“ leben zu müssen. So sagt Bioland-Milchviehwirt Jasper Metzger-Petersen, von der Rohmilchkäserei Backensholz in Nordfriesland, es sei ihm sehr wichtig, dass es seinen Kühen gut gehe. Er besitzt 400 Milchkühe, die nach den strengen Vorgaben der Bioland-Richtlinien gehalten und ernährt werden. Auch er hat sich mit der Idee der muttergebundenen Kälberaufzucht auseinandergesetzt. Für ihn würde es den Bau eines weiteren großen Stalles bedeuten, sowie zwei weitere Mitarbeiter einstellen zu müssen. Das würde sehr hohe Investitionen erfordern.
Milchbetrieb & Käserei
Der Bioland Hof Backensholz (bekannt für seinen sehr guten Käse) hatte sich beim Bundesministerium als Demonstrationsbetrieb beworben und wurde daraufhin ausgesucht. Er bekommt Fördergelder um innovative tierschutzrelevante Maßnahmen in der landwirtschaftlichen Tierhaltung umzusetzen und somit den Schritt von der Forschung in die Praxis zu vollziehen. Der Betriebsleiter Jasper Metzger-Peterson sagt, „Je mehr Platz, Stroh, Auslauf und Beschäftigungsmöglichkeiten wie zum Beispiel Heuraufen die Kühe und Kälber haben, desto gesünder sind sie. Wir trennen die Kälber nach einem Tag von der Mutterkuh, da eine Trennung, je länger Kuh und Kalb zusammen waren, umso schwerer für beide ist. Bei der Trennung nach einem Tag sucht die Mutter ihr Kalb für eine kurze Zeit, dem Kalb merkt man nicht an, dass es unter einem Verlust leidet. Ich habe aber auch das Gefühl, dass durch die Jahrzehnte lange Hochleistungszucht der Kühe der Mutterinstinkt nicht mehr so stark wie früher ausgeprägt ist. Wir haben extra eine Mitarbeiterin, die sich 30 Stunden pro Woche ausschließlich um die Kälber kümmert, sie versorgt und ihnen Streicheleinheiten zukommen lässt.“ Auch würde die frühe Trennung verhindern, dass es zu von der Mutterkuh versehentlich tot getretenen Kälbern oder gebrochenen Beinen käme.
Seine Kälber leben jeweils zu zweit in einem Iglu mit Stroh und kleinem Auslauf davor. Dort bekommen sie 5 Tage die Milch der eigenen Mutter, um danach 3 Wochen lang Milch, Heu, Wasser und Kälbermüsli zur freien Verfügung haben. Im Anschluss kommen sie für weitere 5 Monate in den großzügigen Gruppenstall mit 18 Kälbern pro Gruppe. Dort werden sie von einem automatischen Tränksystem versorgt, der die täglichen Milchmengen, Kraftfuttermengen und Gewichtszunahmen dokumentiert.
Ein Warnsystem sendet sofort Alarm, wenn ein Kalb plötzlich weniger trinkt oder nicht zugenommen hat. So könne er sofort nachschauen und gegen eventuell auftretende Krankheiten vorgehen.
Jasper Metzger-Petersen würde sich wünschen, dass die Landwirte, die auf muttergebundene Kälberaufzucht umstellen möchten, von der Regierung Hilfestellungen bekommen. Eine Lösung wäre das Mehr an Auflagen und Aufgaben durch einen von der öffentlichen Hand bezahlten Berater, der auf dem Hof die bürokratische Arbeit übernehmen würde. „Aber“, so sagt er, „maßgeblich ist immer der Verbraucher, denn er entscheidet, wo das Geld hin geht. Nur ein bewussterer Konsum führt zu einem Wandel in der Landwirtschaft.“
Muttergebundene Kälberhaltung
Achim Bock und seine Kollegen von den Ökomelkburen in Schleswig-Holstein, ebenfalls ein Qualitätsbetrieb mit bekannt genussvollen Produkten, praktizieren die muttergebundene Kälberhaltung schon seit ein paar Jahren – gelten diesbezüglich als Pioniere im Norden. Seiner Meinung nach würde sie längerfristig gesehen nur Vorteile für Mensch und Tier mit sich bringen. So hat er die Erfahrung gemacht, dass Kälber, die bei der Mutterkuh verbleiben dürfen, schneller Gewicht zulegen und wesentlich gesünder sind und bleiben, als diejenigen, die mit dem Eimer getränkt werden und separiert aufwachsen. Zudem können die Kühe ihre Mutterinstinkte ausleben, indem sie ihr Kalb beim Säugen ablecken und gemeinsam Zeit verbringen. Auch leiden diese Kälber nicht unter Verhaltensauffälligkeiten, wie dem Besaugen von anderen Kälbern, das oft zu Verletzungen des Nabels führt, der als Zitzen-Ersatz äußerst beliebt ist und sich im schlimmsten Falle entzünden und das Wohlbefinden der Tiere erheblich beeinträchtigen kann. „Der Saugreflex der Kälber wird am Euter ausreichend gestillt. Außerdem entfällt für uns die Zeit, um die Milch auf 38°C zu erwärmen, was wir bei der Eimerfütterung machen müssten.“
Mit dieser Art der Kälberhaltung muss er eine entsprechende Reduzierung der Milchmenge hinnehmen. Durch die Erhöhung des Milchpreises und die niedrigeren Verluste durch kranke Tiere, kann er die Einbußen jedoch auffangen. Auch Achim Bock sagt, dass eine Trennung von Kuh und Kalb, je länger beide zusammen sind, immer schwieriger würde. Die Bindung zwischen den Tieren würde mit jedem Tag intensiver und entsprechend leiden beide Tiere bei einer späteren Trennung unter psychischem Schmerz und Stress.
Die Sicht der Tierschützer
Stefanie Pöpken Dipl. Ing. agrar., Fachreferentin für Rinder, Geflügel und Bienen beim Nutztierschutzverein PROVIEH e.V., liegt die muttergebundene Kälberaufzucht am Herzen. Sie hat in der Zusammenarbeit mit den süddeutschen Demeter Heu-Milch-Bauern gemeinsam das neue Milch-Siegel „Zeit zu zweit für Kuh und Kalb“ entwickelt. Pöpken sagt, „die Trennung und gesonderte Aufzucht fernab der Mutterkuh passt nicht in die Natur dieser sozialen Tiere, die tiefe Freundschaften zueinander eingehen und Herdentiere sind.“ Es sei für ihr Wohlbefinden von großer Bedeutung, nicht in „Einzelhaft“ leben zu müssen. Mit diesem Siegel werden Kriterien für die muttergebundene Kälberaufzucht definiert, die einen echten Mehrwert im Bereich des Tierwohls schaffen können
Um das Siegel zu erhalten, haben die Demeter Heu-Milch-Bauern gemeinsam mit PROVIEH ein System erarbeitet, das vier verschiedene Möglichkeiten bietet, die muttergebundene Kälberaufzucht umzusetzen. Demnach sollte für jeden Betrieb eine machbare Variante gegeben sein. „Die MutterAmme-Kalb-(MAK)-Kriterien“ gelten für alle Tiere der Betriebe. Somit werden auch die männlichen Kälber auf den Höfen behalten und über Regionalfleischprogramme vermarktet. Damit entfallen die oft langen Transportwege der männlichen Kälber, die erst ein paar Wochen alt, diesen Strapazen kaum gewachsen sind.
Die Kriterien beziehen sowohl die muttergebundene als auch die ammengebundene Kälberaufzucht mit ein“, erklärt Pöpken weiter.
Stefanie Pöpken sagt, „Unser Konsum spielt bei all dem eine entscheidende Rolle. Die mangelnde Bereitschaft der Verbraucherinnen und Verbraucher, angemessen viel Geld für Lebensmittel auszugeben, ist eine der zentralen Gründe für den hohen Preisdruck, der auf der Landwirtschaft – und hier insbesondere den Milchbauern – lastet. Daraus resultiert der Zwang, die Haltungssysteme einseitig an rein ökonomischen Vorgaben auszurichten – unter Missachtung der Grundbedürfnisse der Tiere. Wenn wir als Verbraucher unser Kaufverhalten ändern, muss sich auch der Handel ändern und anpassen!“
Es gibt gute Gründe über das Grundnahrungsmittel Milch, wie sie entsteht und was das für die Tiere bedeutet, mehr nachzudenken und zu sprechen.
Möglichkeiten kuhgebundener Kälberaufzucht
Restriktiver Kontakt: 2-mal pro Tag Treffen für 15–60 Min.
Kontaktort: Extrabereich z. B im Vorwartehof, Auslauf.
Milchverlust: 27–44 %
Arbeitsaufwand: Zulassen und Trennen, dabei Tierkontrolle, enger Menschenkontakt möglich.
Halbtageskontakt: Kälber sind nur tagsüber oder nur nachts bei der Kuh.
Kontaktort: Kuhstall oder Weide
Milchverlust: 45–50 %.
Arbeitsaufwand: Zulassen und Trennen, dabei Tierkontrolle, mehr Menschenkontakt als bei freiem System.
Freier Kontakt: Kuh-Kalb-Kontakt ist außer zum Melken möglich
Kontaktort: Kuhstall oder Weide
Milchverlust: 55–62 %
Arbeitsaufwand: Positiver Kontakt zum Kalb wichtig, sonst Verwildern möglich, Tierkontrolle.
Freier Kontakt zur Amme: Dauerhafter Kuh-Kalb-Kontakt
Kontaktort: Extra Stallabteil oder Weide
Milchverlust: Kein Melken, jedoch eine Kuh für mehrere Kälber.
Arbeitsaufwand: Positiver Kontakt zum Kalb wichtig, sonst Verwildern möglich, Tierkontrolle.