Ein Beitrag von Prof. Karsten Reise
Ich bin nicht im Watt geboren
Ich war schon acht, als ich zum ersten Mal in Nordseewellen schwamm. Das Meer ließ mich spüren, wie leicht es mich trug. Damit hatte es mich für immer gewonnen. Als Zehnjähriger bin ich erstmals um die flache Bucht auf Sylt gelaufen, die Königshafen heißt, bei List, wo ich bis heute wohne und forsche. Meine Beine waren die kürzesten, aber ich war stolz, mit den Großen laufen zu dürfen. Vom Schwimmen am Inselende, der Ellenbogenspitze, rieten mächtige Strudel unmissverständlich ab. Schafe betreuten die Salzwiesen, Strandflöhe hüpften wohl aus Freude durcheinander, und dazwischen fand ich eine vom Bohrschwamm durchlöcherte Austernschale für meine kleine Sammlung. Die Austernschale sah aus wie ein Sieb. Seit dieser Zeit liebe ich wie das Meer auch das Watt, so matschig und nutzlos es auch lange galt. Für mich war es nie nutzlos. Für mich war eine Welt zu entdecken, die auf magische Weise mal sichtbar und mal unsichtbar war. Wurde sie sichtbar, zog sie mich unwiderstehlich an. Wer kennt nicht die Verlockung, zwischen zwei Fluten so weit wie möglich ins Watt zu waten, wohin bei Ebbe und ablandigem Wind das Meer zurückgewichen ist? Wen zog ins Watt die Neugier auf das Leben am Grund, den das Meer nur für einen Augenblick dort bloßlegte? Was hat das Watt, dass man so etwas macht: nicht weiß, ob die Flut genug Zeit lässt, wieder an Land zu kommen, zu Fuß oder schwimmend? Wer blieb weit draußen sogar einfach mal stehen, bis Garnelen und Grundeln nicht nur an Zehenspitzen kitzelten, sondern schließlich am Hals, ist dann losgeschwommen, hat kein Land mehr gesehen …? Das Watt zwischen Land und Meer bleibt ein Abenteuer. Für uns Landtiere sowieso, die im Watt immer nur kurz zwischen zwei Fluten zu Besuch sein können. Schlick saugt an den Füßen, plötzlicher Seenebel raubt die Orientierung, bei Gewitter sind wir weit und breit am anziehendsten für einschlagende Blitze. Selbst für alle Meereswesen, die dort wohnen, aber immerzu auf- und abtauchen müssen, sich bei Ebbe verkriechen, ausharren oder wegschwimmen, ist das Wattleben voller Unwägbarkeiten. Auch für das viele Wattgevögel: Wo gibt es was zu picken, zu stochern oder zu ertauchen? Was passiert mit Wattrippeln bei Flut? Was wird aus den Schalen, wenn eine Muschel ihr Leben aushaucht? Und was überhaupt ist Sand, was ist Schlick und wozu sind die Priele da? Von solchen Watterkundungen und Wattforschungen erzählt dieses Buch. Und es fragt auch, warum da wenig von natürlicher Harmonie zu finden ist, warum Watt entstand und wieder verschwand, sich immer zu veränderte und dennoch schließlich für uns an Reiz und Wert gewann.
Wunder, Hoffnungen, Zuversicht
Stecken in so einem Watt nicht nur Wunder, sondern auch Hoffnung und Zuversicht? Ich erforschte Watten weltweit und im kleinen Königshafen bereits seit 20 Jahren, als mich Tony Chapman besuchte, ein kanadischer Algenforscher. Tony und mich verband ökologisches Experimentieren an Meeresküsten. So tat er mir den Gefallen und ließ sich auf eine Wattwanderung durch den Königshafen ein. Wir fanden hier und da einzelne Algen, aber nichts Spektakuläres. Handfeste Algen lieben Felsen in starker Brandung, nicht aber haltlosen Schlick. Für Tony war deshalb der Königshafen alles andere als einladend. Den absoluten Tiefpunkt fand unsere Tour in einer Schlicksenke, die ich ansteuerte, um ihm dort zusammengespülte Grünalgen zu zeigen. Aber wir steckten fest im Matsch, und Tony machte seinem Entsetzen Luft: »Karsten, this is absolutely disgusting!« Ich sah ihn betroffen an. Zwar reichten meine Sprachkenntnisse, um zu wissen, dass er diese Situation als widerlich, abscheulich oder ekelhaft empfand, aber ich war so in meinem Element, dass ich sein Gefühl nicht nachvollziehen konnte.
Das merkte er, und wir mussten lachen. Es entspann sich ein Gespräch über die Wirkung von Watt und Felsküsten auf unser ökologisches Denken, auf unseren Charakter. War Tonys Hang zu harten Fakten und klaren Aussagen von steilen Klippen geprägt? Dort wachsen oben grüne, dann braune und unten rote Algen in geordneten Zonen. Oder hatte er ein Forschungsgebiet gefunden, das seinen Neigungen entsprach? Hat sich beides wechselwirkend verstärkt? Wir sackten immer noch etwas tiefer in den Matsch. Und wie lag das bei mir? Was hat das Watt mit mir gemacht? War ich matschig im Kopf geworden und versandeten bei mir klare Gedanken? Wie sich Würmer und Muscheln im Wattboden verteilen, ist nicht so offensichtlich wie Algen an felsigen Küsten. Ich musste erst mühsam nach den Tieren im Wattboden graben und sie aussieben, um Zonierungsmuster zu erkennen. Die blieben zudem ziemlich verschwommen. Vermutlich war das Watt nicht steil genug und die Bodenarten zu sehr durchmischt. Fühlte ich mehr mit den Versackten und Tony mit denen, die immer sauber blieben? Wir waren nicht nur ins Gespräch vertieft, sondern außerdem mittlerweile tief verschlammt. Nur unter Mühen gelangten wir ans Ufer, und Tony hatte leicht das letzte Wort: »Now you know what I mean, don’t you?« Ja, ja. Aber hat das Watt nicht gerade seinen Reiz durch das Verborgene? Und hat es nicht außerdem die große Weite, die Ruhe und die Vogelscharen bis zum Horizont? Im Schlick zu stecken ist lästig. Aber auf rutschigem Felsenufer hinzuschlagen tut auch nicht gut. Im nordspanischen Galizien setzen mutige Fischer in tobender Brandung ihr Leben aufs Spiel, um von Felsen Entenmuscheln abzukratzen. Zweifellos färbt die Mitwelt auf uns ab, aber ebenso sicher formen wir uns zumindest im Geiste unsere Mitwelt so, wie wir sie aushalten oder sogar lieben können. Seit fast 50 Jahren bin ich nun Wattforscher und ich weiß noch, wie vom nahen Deich im Abenddämmern pausenloses Knallen erscholl, Hunde mit Gebell ins Watt wetzten und apportierten, was taumelnd vom Himmel fiel. Das Watt ist heute nicht mehr zum Schießen da. Aus ihm wird auch nicht mehr eingedeichtes Land, sondern es ist unschätzbar wertvoll geworden. Wie es zu diesem Sinneswandel kam, das habe ich miterlebt und es drängt mich, das zu erzählen. Auch, wie es gelang, dass eine einst als trügerisch und öde verkannte Flachküste schließlich als Wattenmeer zum Nationalpark und Erbe der Menschheit erklärt wurde. Nicht nur änderte sich unser Blick auf diese sonderbare Naturlandschaft, sondern auch das Watt selbst wandelte sich, hat seine Geschichte und Geschichten. Die Erforschung der Ökosysteme hatte ihr Konzept von Wald und Wiese dem Watt zunächst einfach übergestülpt, und die Meeresforschung hatte sich kaum um diesen verschwommenen Saum zwischen Land und Meer gekümmert. Das gefiel mir nicht und ich fand die Wattforschung sollte ihr eigenes Konzept entwickeln, um den Eigenheiten dieser amphibischen Welt besser gerecht zu werden.
Alles ist im Fluss
Das Watt gehört ganz klar zum Meer, auch wenn es uns bei Ebbe vorgaukelt, ein Land zu sein. Selten braust im Watt das Meer mit voller Wucht auf. Schmiegt sich meist sanft ans Land, zeigt nur kurz mit dem Watt seinen weichen Grund her. Wissenschaftlich betrachtet: Watt ist allseits auf Empfang, produziert selbst viel und bewirtet schwimmende und fliegende Gäste mit reich – aber niemals gleich – gedecktem Tisch. Im Watt leben nicht nur ausgebuffte Opportunisten und solche, die hart im Nehmen sind. Verborgen im Wattboden entfaltet sich eine Parallelwelt mikroskopisch kleinster Meereswesen. Die sind von unglaublicher Vielfalt und erst lückenhaft erforscht. Unter den gefiederten Fliegern sind Herumtreiber ebenso wie Hochleistungssportler mit engstem Zeitplan auf eiliger Durchreise. Alles in allem lebt im Watt eine vielschichtige Gesellschaft, die einen mit- und die anderen gegeneinander. Und ein Nebeneinander kommt auch noch vor. Gemeinsam ist allen nur das sichere Zeitgefühl für Ebbe und Flut. Auf ihre Art tuscheln im Watt Land und Meer miteinander. Belauschen wir sie, entdecken wir vielleicht neue Wege zu ersehnten Ufern. Die werden wir brauchen. Weltweit stauen sich an den Küsten mehr Menschen in Metropolen, die kaum über und manchmal sogar schon unter dem Meeresniveau gebaut sind, und dass, obwohl das Meer klimabedingt nun wieder schneller zu steigen beginnt. Bei Sturm bremst das Watt das hochwogige Meer, bevor es unsere Ufer erschüttern kann. Das Watt ersetzt harte Grenzen durch seine Allmählichkeit. Schon darum lohnt es, der Wattnatur achtsam zu begegnen und auf den Grund zu gehen. Dieses Buch erzählt vom oft untergründigen und flüchtigen Leben im Watt und empfiehlt, in dem Mit- und Durcheinander von Natürlichem und Verändertem auf Anregungen zu achten. Regeln, so scheint mir inzwischen, spielen im Wattleben nur Schattenrollen. Der Zufall ist dagegen dort ein großer Meister. Das Wechselbad von Ebbe und Flut lässt oftmals Leerstellen im Gemenge der Wattwesen frei. Auch wer aus Übersee stammt, kann sich leicht und locker einbringen. Alles ist wie im Fluss. Immer hat die Wattnatur Überraschungen auf Lager. Noch immer weiß ich nichts über ein mögliches Wir Gefühl von Wattwürmern. Lässt sich die Flugfreude schwärmender Küstenvögel auch auf den Square Dance der Krebse übertragen? So manches Tier entzieht sich mit Geschick weiterhin allen Nachforschungen. Viele Rätsel sind noch ungelöst. Enttäuscht kam ich nie aus dem Watt zurück, höchstens erschöpft, wenn ich zu lange blieb und die Flut mich auf dem Rückweg überholte. Im Watt sind wir immer nur Gast auf Zeit. Es bleibt ein spannender Erkundungsraum in sonst schwer zugänglicher Meeresnatur. Der bin ich forschend begegnet, ließ mich hinters Licht führen und erfuhr dennoch viel über ihr Wesen und ihre Wesen, was sie lieben und woran sie leiden. Davon und was es uns bedeutet, wird im Buch erzählt.
Watten gibt es fast überall
Weltweit betrachtet gibt es nicht viel Watt. Doch das größte zusammenhängende Wattgebiet taucht im Wattenmeer an der Nordseeküste auf.
Watten säumen viele Küsten unseres Planeten, aber meist sind sie in kleine Buchten gedrängt. Ihre Gesamtfläche von knapp 130.000 Quadratkilometern ist vergleichsweise gering. Eine einzelne Bucht kann zwar zwischen oberem und unterem Gezeitenbereich verschiedene Ausprägungen des Wattbodens und seiner Bewohner aufweisen, aber erst über lange Küstenabschnitte zeigt sich die Vielfalt verschiedenster Wattsedimente, Mischungen zwischen Süß- und Salzwasser, viel und wenig Nährstoffen, vor Wellen geschützte oder ihnen ausgesetzte Watten sowie Unterschiede im Tidenhub von Zentimetern bis zu mehreren Metern.
Die über 500 Kilometer lange Wattenmeerküste der Nordsee zwischen den Halbinseln Den Helder und Skallingen erfüllt solche Bedingungen. Kein anderer Küstenstrich auf der Welt verfügt über eine so große zusammenhängende Wattfläche – nämlich über 4700 Quadratkilometer, eingebettet in ein Schutzgebiet mit Flachwasser und Inseln von über 11.000 km². Diese Ausdehnung und Vielfalt macht das Wattenmeer für die weit herumziehenden Küstenvögel so einzigartig, dass hier die größten Schwärme über die Watten flügeln.