Gabriele Haefs

Autorin

Zum Portrait

Wie die Freie und Hansestadt Hamburg zu ihrem Bismarckdenkmal kam

Sagenhafte Geschichten
29. April 2024
© Muhs LandschaftsArchitekten

Hoch über dem Hamburger Hafen ragt das Bismarckdenkmal auf – da steht er, der Eiserne Kanzler, gestützt auf sein Schwert, steht da wie in anderen Hansestädten der Roland oder wie höheren Orts der Engel mit dem Flammenschwert, der den Eingang zum Paradiese bewacht, ja … aber wieso eigentlich? Konnte Hamburg sich nicht wie tausend andere Städte mit einem Bismarckturm begnügen? Und warum kehrt Bismarck der Stadt den Rücken zu, eben wie der Engel, wen will er nicht in die Stadt lassen? Fragen über Fragen, aber es war eigentlich ganz einfach.

Bismarck ritt eines Tages zur Jagd, entlang der Elbe, wo damals alles noch grün und wald- und wildreich war. So ritt er nun fürbaß, trank ab und zu einen Schluck aus seiner Feldflasche und hielt Ausschau nach einem wirklich interessanten Stück Wild. Und da, auf einer Lichtung, da stand ein kapitaler Hirsch und drehte Bismarck das Hinterteil zu. Kapitaler Hirsch, sprach Bismarck zu sich und griff nach seinem Pistol. Nun aber drehte sich der Hirsch um – und Bismarck sah im gewaltigen Geweih des Tieres einen güldenen Becher funkeln und gleißen, schöner als die schönste Holographie prangte das Bild dort, und Bismarck staunte.

„Hochedler Herr Hirsch, wer seid Ihr?“, frug er ehrerbietig.

„Also, hömma, Bisi, die Formalitäten können wir uns ja wohl sparen. Ich bin hier der Platzhirsch und hab nen wichtigen Auftrag für dich“, sprach der Hirsch.

„Na, Hirschi, dann bin ich ganz Ohr“, erwiderte Bismarck und steckte sein Pistol wieder weg.

„Siehst du dort jenen Haselstrauch?“, und mit einer lässigen Bewegung des Geweihs zeigte der Hirsch, welcher Strauch gemeint war. Bismarck nickte gespannt.

„Da gehste jetzt hin, und dann schneidste dir ne Haselgerte ab, und damit haust du hier dreimal aufn Boden.“

„Ja, gut und schön“, sagte Bismarck, „aber zu welchem Behufe eigentlich?“

„Dann wird ein funkelnder Quell aus dem Boden sprudeln, dessen Wasser heilend und labend ist und außerdem von wundersamer Wirkung“, verkündete der Hirsch. „Von nun an bis ans Ende der Zeiten soll der Hamburger Bürgermeister in Begleitung seiner fürnehmsten Senatoren jeweils Jahr und Tag nach dieser unserer Begegnung hier und hinfort immer fürderhin nach Jahr und Tag hier erscheinen und einen Trunk aus dem Quell zu sich nehmen. Und dabei soll er schwören, dass alle Hamburger Kaufleute und Senatoren redlich ihre Arbeit verrichten, niemals lügen, betrügen, Bestechungsgelder annehmen oder sich auf Kosten von Witwen und Waisen bereichern.“

„Naja, so ein Schwur ist leicht getan“, meinte Bismarck. „Und wer hat irgendwas davon?“

„Alle“, röhrte der Hirsch mit fürchterlicher Stimme. „Denn wisse, dem Quell wohnt Zauberkraft inne, und wer davon trinkt, wenn er gerade gelogen hat, wird giftgrün anlaufen und dann tot umfallen.“

Hm, dachte Bismarck, so rotten wir höchstens den ganzen Senat aus und treiben die gesamte Hamburger Kaufmannschaft in den Ruin. Aber er rief mit noch viel fürchterlicher Stimme: „Du wagst es, du blödes Vieh, hier ehrsamen hamburgischen Kaufleuten und Senatoren zu unterstellen, sie könnten bei ihrer entsagungsvollen Arbeit nicht immer nur das Gemeinwohl im Auge haben?“ Und abermals zog er sein Pistol, richtete es auf den Hirsch und gab einen Schuss ab. Der traf den Hirsch mitten im Geweih, und der Becher, wenngleich doch nur ein Trugbild, zerscholl und zersprang in tausend Stücke. Was dem Hirsch einen solchen Schrecken einjagte, dass er umdrehte und mit einem gewaltigen Sprung über die Elbe setzte. Und ward nicht mehr gesehen.

Der dankbare Senat aber errichtete für Bismarck das uns bekannte Denkmal. Da steht er nun und schaut in die Richtung, in die der Hirsch damals entschwand. So soll verhindert werden, dass irgendwann ein neuer Hirsch (oder derselbe, falls er unsterblich ist) erscheint, um dem Hamburger Senat unverschämte Forderungen zu stellen.

Was aber kaum noch jemand weiß, ist, dass Bismarck gar nicht in seinem Mausoleum in Friedrichsruh begraben ist. Nein, er ruhet unter dem Denkmal, denn bei Hirschen weiß man nie, und im Notfall wird er sich aus dem Grabe erheben, zum Schwerte greifen (da der Bildhauer ihm kein Pistol in den Gürtel gemeißelt hat) und abermals die Hamburger Geschäfte retten.

In Friedrichsruh im Mausoleum aber ist die Haselgerte bestattet, die Bismarck natürlich abschnitt, nachdem der Hirsch das Weite gesucht hatte, denn „wer weiß, wozu es gut ist“, wie er sich sagte. Mitten im Sachsenwald hieb er dann mit der Gerte auf den Boden, und der sofort aufsprudelnde Quell beschert der Familie Bismarck noch heute ein nettes Einkommen. Senatoren jedoch wurden dort noch nie gesichtet.

Der Beitrag ist dem Buch Sagenhafte Geschichten entnommen.

Buchtipp der Redaktion

Eine Sage entsteht dort, wo ein rätselhafter Vorgang die Aufmerksamkeit des Menschen erregt, mag dieser Vorfall sich in der Geschichte, in der Natur, im täglichen Leben abspielen. In schlichter Erzählung sucht die Sage die geheimnisvolle Begebenheit zu erklären. Die Sage soll in erster Linie erzieherisch wirken. „Ihr Wesen besteht darin“, so schreiben die Gebrüder Grimm, „dass sie Angst und Warnung mit gleichen Händen austeilt.“ Das wäre zu den klassischen Sagen zu sagen – dann aber gibt es noch so sagenhafte Geschichten, die sich weder den Märchen noch den Sagen zuordnen lassen, und die finden sich in diesem lesenswerten Buch mit tollen Autorinnen und Autoren:

Karin Braun & Gabriele Haefs (Hrsg.): Sagenhafte Geschichten. Was Sagen sind, bestimmen wir!

Tredition, 408 Seiten, TB 12,99 Euro.