Story der Woche – Ist das ein Fisch? 

In Lübeck wird an Fisch aus der Petrischale geforscht
15. Februar 2024

Ein Beitrag von Niko Kappel 

Noch sind es Bällchen und Stäbchen. Sie sollen nichts weniger tun, als zu revolutionieren, wie wir Fisch essen. Gerade liegen sie, schön auf Schieferplatten angerichtet, im Laborlicht des Erdgeschosses vom Fraunhofer Institut Lübeck. Ende des Jahres soll sie ein Sternekoch aus Singapur servieren. Nächstes Jahr einer aus den USA. Und wenn es nach der Branche geht und die Europäische Union mit den Gesetzen hinterher kommt, dann könnte man 2030 im Supermarkt einen Fisch kaufen, der noch nie geschwommen ist.

© Bluu GmbH – Anna Brauns

Fisch aus der Schale 

Beim in-vitro Verfahren, auf Deutsch „in der Schale“, wird einem echten Fisch eine einzige Stammzelle entnommen. Sie wird im Labor in einer Schale gezüchtet, bis daraus so viel Zellmasse entsteht, dass sie gegessen werden kann. In-vitro könnte die Lösung für viele Probleme sein. Überfischung, Tierleid, Mikroplastik, CO2. Für andere ein Traum, der real nicht umsetzbar ist. Skalierung, Behörden, Schranken im Kopf. 

In Deutschland gibt es ein Unternehmen, das daran arbeitet, den kultivierten Traum wahr zu machen. Fisch im Kühlregal, für den kein Tier leiden musste. Bluu Seafood, gegründet 2020 in Lübeck. Ein Start-Up eines Meeresbiologen, der am Fraunhofer Institut an Zellen forschte. Bluu züchtet Fisch im Labor und kommt dabei in großen Schritten voran.  

Gerade bewegt sich was in der Szene um kultivierte Lebensmittel. In den USA wurde gerade das erste kultivierte Fleisch für den Markt zugelassen. Es ist ein riesiger Meilenstein. Am 21. Juni 2023 erlaubte das US-Landwirtschaftsministerium das erste Produkt. Ein kultiviertes Hähnchen. Hergestellt wird es in Kalifornien, von den Firmen Good Meat und Upside Foods. 

Als sie das in Lübeck bei bluu hörten, hätten eigentlich die Sektkorken geknallt. Aber die Belegschaft war noch feierverkatert, denn ein paar Tage zuvor sammelte das Unternehmen 16 Millionen Euro an Investment ein. So viel vorneweg, es läuft bei bluu. Die Firma hat oft etwas zu feiern. 

Es ist ein sonniger Tag in Lübeck, etwa drei Wochen nach genau diesen Feierlichkeiten. Der Pressesprecher der Firma, Cornelius Lahme, zeigt das Fischlabor. Braunes Haar, start-uppiger Typ. „Kann man gar nicht hoch genug hängen, was da in den USA passiert“, sagt Cornelius Lahme, „das ist der break through. Das wird so viel Geld freisetzen.“ 

Schon die Öffnung des Marktes in Singapur hat viel Geld in die in-vitro Branche gespült. Dort ist bereits seit 2020 cultivated food erlaubt, es gibt Restaurants, in denen man bereits im Glas gezüchteten Fisch essen kann. In Singapur darf kultiviertes Fleisch und Fisch aus Stammzellen vermarktet werden. Natürlich, weil die Regierung möchte, dass es dort zum big business wird. Sie wollen dort nächstes Jahr eines unserer Produkte in einem gehobenen Restaurant anbieten sagt Lahme. In Singapur kann man also bald Fisch aus einem Fermenter in Lübeck essen.

Braucht man das? 

Jetzt kann man natürlich die Frage stellen: Braucht man das? Es gibt vegane Alternativen. Im Fleischbereich, aber auch beim Fisch muss schon lang nicht mehr im Tiefkühlregal nach echtem Lachs gegriffen werden. „Veganer Ernährung ist für die meisten Menschen ein Kompromiss. Wir wollen die Formen der Ernährung erweitern“, sagt Cornelius Lahme dazu. Fisch ohne Tierleid, das ist die Motivation hinter der Forschung am in-vitro Verfahren. Ein Fisch, der geerntet werden kann. 

Ricco Heinze ist der Mann für Bioprozesse bei Bluu Seafood. Ein Typ mit Pferdeschwanz und Dauergrinsen. Er kann das erklären, was viele nicht verstehen. Wie wächst eine Zelle so heran, dass man sie essen kann? Die Herstellung des gezüchteten Fisches läuft in drei Schritten ab. Zellisolierung. Fermentierung, Preperation. 

© Bluu GmbH – Henrik Gergen

Ricco Heinze öffnet in Lübeck einen doppeltürigen Kühlschrank. Hier lagern die einzelnen Fischzellen. Sie werden per Endoskopie entnommen, also aus dem Fischkörper abgesaugt. Dabei werden vor allem Fett und Muskelzellen verwendet. Denn die wachsen gut. 

Die entnommene Zelle kommt in eine flache Schale. Zellen lieben Oberflächen. Im Körper wachsen sie auf Strukturen, auf Gewebe, Bändern und Muskeln. 

Im Labor wird die Zelle deshalb auf eine große Oberfläche gelegt. Um die Zelle herum, kommt etwas, an dem bei Bluu Seafood ein eigenes Team forscht: das Nährmedium. 

Ein Knackpunkt sei, sagt Heinze, die Zellen immer schneller zum wachsen zu bringen. Er zeigt auf die violet fluoreszierende Flüssigkeit in der die Zellen im Kühlschrank schwimmen. Im „Nährmedium“ ist alles drin, was Lebewesen zum wachsen brauchen. Kohlenstoffquelle. Zucker. Aminosäuren. Wachstumsfaktoren. Tiereigene Hormone. Es geht darum, ein genaues Abbild vom Fischkörper zu schaffen. 

An dieser Station rauschen wir nun zum ersten Problem der in-vitro Fischerei. In so eine Laborschale passt nicht viel. Bei der Kultivierung von Fisch geht es um Masse. Je größer die Gefäße desto mehr Produkt. Zuerst arbeitete Bluu in 100ml Schalen. Inzwischen sind sie bei Behältern angelangt, die einen Liter fassen. Für eine Produktion für den Supermarkt bräuchte bluu riesige Silos, in denen mehrere Tonnen an Fischzellen wachsen sollen.  

„Das sind die Bioreaktoren, in denen wir momentan züchten“. Heinze zeigt auf Gefäße, in denen gerade Zellen vermehrt werden. „Wir sagen lieber Fermenter“, stoppt ihn Lahme sanft.“ Heinze nickt schnell. „Genau, äh, Fermenter, mein ich doch.“

Fermenterfisch 

Die Bioreaktoren sprechen für ein weiteres Problem, mit dem Firmen im cultivated food Bereich zu tun haben. Die öffentliche Wahrnehmung. Reaktor, so heißt das Ding nun mal im Laborsprech, aber da denken die Menschen eher an Atommüll anstatt an Essen. Alles, was irgendwie unnatürlich klingen könnte, haben Firmen wie bluu aus ihrem Sprech verbannt. Man will den Leuten den in-vitro Prozess als das verkaufen, was er tatsächlich auch ist: vom Mensch herbeigeführt, aber schon in sich natürlich. 

Der Prozess von kultiviertem Fisch ist nämlich im Prinzip der gleiche wie bei Bier, Käse oder Sauerteig. Die Fischzellen werden im Nährmedium zur Gärung gebracht und vermehren sich so. Wenn man mit Menschen aus der Branche spricht, vergleichen die sich deshalb auch oft mit Brauereien. Menschen wie Ricco Heinze oder Cornelius Lahme träumen deshalb von einer lokalen Kultur im in-vitro Fisch. Jedes Start-Up arbeitet an eigenen Spezialitäten die den Markt erweitern. Craft Beer, aber als Fisch. In Lübeck gibts Lachs, in Kalifornien Forelle und in Israel Thunfisch. Jeder kultiviert selbst vor sich hin und schafft sein eigenes Produkt mit Charakter. 

© Bluu GmbH – Roman Schneider

Weil der Prozess natürlich ist, läge das Problem zwischen den Ohren. „Leute finden es eklig, wenn etwas aus dem Labor kommt“, sagt Ricco Heinze. Er könne das sogar nachvollziehen. Natürliche Prozesse, wie die Fermentation von Zellen, sind schwer zu vermitteln, weil sie so kompliziert sind. „Aber wenn die Leute genau wüssten, was sie da im Supermarkt kaufen, was in diesem Fisch alles drin ist. Ich kann das nicht mehr anrühren. Alles, was wir ins Meer kippen, landet im Fisch. Mikroplastik, Öl, Chemieabfälle, Medikamente.“ Der Fermenterfisch, die kultivierte Zelle, hat dieses Problem nicht. Die ist komplett sauber.“  

Zurück zum Prozess. Die Zelle liegt im Nährmedium. Momentan drei Liter. Das Ziel: Riesige Silos für die Massenproduktion. Nächster Schritt, 50 Liter. Nächster Schritt, 100 Liter. Aber, sagt Heinze: „Wenn das hier wirtschaftlich sein soll, dann müssen wir mit mehreren tausend Litern arbeiten.“ Das wird noch Jahre dauern. 

Nach der Fermentierung im Bioreaktor werden die Zellen abgeerntet und als Zutat für die Bällchen und Stäbchen verwendet. Das ist momentan das Produkt, was bluu anbieten will. Frittierte Fischzellenmasse. Das sieht aber deutlich besser aus, als es klingt. 

Aus dieser Masse werden zusammen mit pflanzlichen Rohstoffen die Fischstäbchen von bluu hergestellt. 15 Prozent Fischzellen, 85 Prozent sind unter anderem pflanzliche Proteine. Das ist ein Prototyp, denn noch sind die Fischzellen zu teuer in der Herstellung. „Natürlich wollen wir an die hundert Prozent“, sagt Ricco Heinze und schaut auf die goldgelb frittierten Stäbchen.

Probieren strengstens verboten 

Und wie schmeckt es? Diese Frage kann hier leider nicht beantwortet werden. Denn Reporter dürfen keinen kultivierten Fisch probieren. In Deutschland ist der Konsum noch strengstens verboten. Ausnahme: zu Forschungszwecken. Es schmecke wirklich gut, sagen alle, die bei bluu arbeiten. Hier muss man wohl dann einfach der Quelle vertrauen. 

Wenn man so ein bluu Fischstäbchen aufschneidet, dann sieht man, dass die Textur der Fischmasse bis jetzt wenig an Sashimi oder Filet erinnert. Aber, to be fair: Das tun echte Fischstäbchen auch nicht. Deshalb sind Fischstäbchen im in-vitro Bereich gerade realisierbar. Ein Filet ist noch Zukunftsmusik. Denn Zellen wachsen lassen und essen, das klappt. Aber etwas so wachsen lassen, dass es Textur hat? Anderer Schnack. Für bluu ist aber genau das ein Vorteil.  

Fisch hat nicht die fasrig komplizierte Textur von Steak. Kultivierter Fisch lässt sich deshalb einfacher herstellen. Außerdem ist die Fermentierung von Fischzellen energiesparender als die von Rindfleisch. Bei Säugetieren müssten für den Zellwachstum nämlich genau 37 Grad im Bioreaktor herrschen – wie im menschlichen Körper eben.

Mit Fleisch fing es an 

Mit Fleisch fing die Reise von in-vitro an. Schon 2013 stellte der niederländische Zellforscher Mike Post auf einer Pressekonferenz den ersten kultivierten Burger vor. Post entnahm die Stammzellen einer Kuh und ließ sie mit natürlichen Prozessen zu einem Burgerpatty wachsen. Seine Firma nannte er Mosa Meat. Es ging schnell bergauf. Weltweite Berichterstattung. Sogar Leonardo DiCaprio investierte. 

© Bluu GmbH – Henrik Gergen

Das Problem ist auch hier noch die Skalierung. Der erste vorgestellte Burger soll 250,000 Euro gekostet haben. Aber der Preis sinkt exponentiell. Was steigt, ist die Größe der Bioreaktoren. Bei Mosa meat sollen die Kuhburger schon in 200 Liter Tanks wachsen. 

Spaziergang auf dem Lübecker Campus. Mit Sebastian Rakers, dem CEO von bluu. Die Medien nennen ihn den „Laborfischer“. Rakers trägt kurze Hosen und kneift seine Augen in der Sonne zusammen. Er hat die Firma 2020 gegründet. Der Mann ist Meeresbiologe und forschte nach der Uni zehn Jahre lang am Fraunhofer Institut. Er ist stolz auf das, was er geschafft hat. 30 Mitarbeitende, bald eine schicke Pilotfabrik in Hamburg und ein Stück vom Investorenkuchen im in-vitro game

2008 fing Rakers als junger Doktorant beim Fraunhofer Institut in Lübeck an. Er wollte in die angewandte Forschung. Auf Schiffen über die Weltmeere fahren und forschen, ja, das sei schon geil gewesen, aber er habe immer irgendwie was Eigenes gründen wollen. Er forschte damals viel zu Biodiversität und Zelltheorie. In seiner Doktorarbeit ging es um Fischzellen. Die Zelle als kleinste Einheit des Lebens, das faszinierte ihn. Die Zellkulturen aus der Doktorarbeit, die seien so ein bisschen wie seine Babys gewesen. 

Rakers sagt, schon 2008 habe man in Lübeck diskutiert, ob man Zellen dafür nutzen könnte, um Fischöl herzustellen. Mit Zellvermehrung, vielleicht sogar durch Fermentierung. Die Idee geisterte rum. Und dann kam Mike Post mit seinem kultivierten Burger. 

„Die Niederländer machten genau das, worauf ich schon seit Jahren herumgedacht habe“, sagt Rakers. Er tat sich mit einem Bekannten zusammen, der schon mehrere Start-Ups gegründet hatte. 2020 öffnete bluu sein erstes Labor. Seitdem geht es schnell.

Lebensmittelzulassung

Die nächsten Schritte sind klar für Rakers. „Wir brauchen die Lebensmittelzulassung“, sagt er. „Wir können nicht mit Genehmigungslaufzeiten von sechs Jahren arbeiten.“ Neue Lebensmittelzulassungen in der EU, das dauert. Natürlich sei das frustrierend, man wolle schon in Deutschland produzieren. Aber wenn das Land da nicht mitspiele, würde er sich schon umschauen, in die USA oder Asien. Da sind Lebensmittelverordnungen deutlich laxer und da könnte bluu jetzt schon mit seinen Fischstäbchen Tastings veranstalten. 

„Wir blenden aus, wie wir mit Tieren umgehen. Wie lang soll das noch gut gehen?“, sagt Sebastian Rakers. „Es wird immer Landwirtschaft geben. Es wird immer Fischerei geben. Aber wir brauchen Alternativen für die Masse.“ Sechs Millionen Lachse in einem Netzgehege vor Norwegen, das gehe nicht mehr. „Vier Jahre wird ein Tier herausgezüchtet, nur um es dann zu essen.“ Das Kultivieren von Fisch ist tierfreundlicher. „Ich muss keinen ganzen Fisch mehr produzieren, um am Ende ein bisschen Fischfilet zu essen.“ 

Jetzt macht Rakers nochmal Werbung für die Idee und er hat viele Argumente. 

Weniger Tierleid, klar. Gesünder ist es für den Mensch auch, wegen des kontrollierten Prozesses. „Wir können von vorne bis hinten kontrollieren, was in die Zelle reingeht.“ Kein Mikroplastik, keine Krankheiten, keine Antibiotika. Den Weltmeeren schadet es auch nicht. Keine durch Fischerei zerstörten Böden, kein Beifang, keine langen Transportwege. 

Und die Nachteile? Einer davon sind die Herstellungskosten. Bei bluu sagt niemand wie hoch die noch sind. Es ist kompliziert, da der Prozess und die Forschung ja auch eine Rolle spülen. Und es gibt gute Zeichen, aus Singapur. Die Südddeutsche Zeitung schreibt, dass es der Firma Shiok Meat bereits gelungen sei, den Preis für ein Kilo Garnelenfleisch innerhalb weniger Jahre von etwa 10 000 auf 50 Dollar zu senken. 

Dann wäre da noch die Sache „zwischen den Ohren“. Menschen davon zu überzeugen, dass Fleisch, welches im Labor wächst, genauso gut ist wie das aus der Wildnis. Bluu arbeitet daran. Sie haben extra Menschen für Marketing eingestellt. Einmal im Monat führen sie Journalist:nnen durch das Labor. 

Wann können wir im Labor fermentiertes Essen im Supermarkt kaufen? 2030 schätzen sie bei bluu. Die Zellbiologin Monika Röntgen sagte in einem Talk der faz sogar, dass sie es für möglich halte, dass 2030 der Marktanteil von kultiviertem Fleisch bei zehn Prozent liegt. Die Unternehmensberatung Kearney gab schon 2019 eine Studie zum Fleischkonsum der Menschheit in Auftrag. Laut der könnte bis 2040 der Anteil an kultiviertem Fleisch sogar bei 35 Prozent liegen. Aber so genau will sich niemand festlegen, wann die Menschen flächendeckend anfangen, geerntetes Fleisch zu essen.

Der Autor 

Niko Kappel ist freier Journalist. Er hat in Stuttgart, München und San Luis Obispo studiert und schreibt unter anderem für die „Süddeutsche Zeitung“, die „taz“ und „Die Zeit“. Besuchte die Deutsche Journalistenschule in München.

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