Ein Beitrag von Michael Brake
Im Restaurant „Brutalisten“ in Stockholm ist pro Gericht nur eine Zutat erlaubt. Ist das nur ein interessantes Konzept oder schmeckt es auch? Ein Besuch.
Die Aufmerksamkeitsökonomie der Großstadtgastronomie ist brutal, und glücklich kann sein, wer ein Konzept hat, das in einen Halbsatz passt. Das Restaurant, wo man im Dunkeln isst. Das, wo über offenem Feuer gekocht wird. Das mit den „deutschen Tapas“. Das Zero-Waste-Restaurant. Das Insektenrestaurant. Das, wo man unter Wasser sitzt. Und so weiter.
In Stockholm gibt es nun seit gut einem Jahr das Restaurant „Brutalisten“, und sein Konzept ist so klar, dass man sich fragt, warum da niemand vorher drauf gekommen ist: Das, wo jedes Gericht nur aus exakt einer Zutat bestehen darf. Diese Idee hatte allerdings kein Koch, sondern ein Installationskünstler, der Deutsche Carsten Höller, 62. In die Tate Gallery baute Höller einst große Rutschen, in der Fondazione Prada in Mailand hängte er Fliegenpilzskulpturen von der Decke. 2010 brachte er mehrere Rentiere in die Hallen des Hamburger Bahnhofs in Berlin, man konnte auch bei den Tieren übernachten. In Naturwissenschaften promoviert hat Höller ebenfalls, über Geruchskommunikation zwischen Insekten.
Den Ursprung fand das „Brutalisten“ während der Pandemie in Höllers Winterdomizil in Ghana, so erzählte er es dem Guardian. Dort erdachte er sein Manifest für brutalistisches Kochen, das mehr als nur ein wenig an das dänische Dogma-95-Regelwerk für Spielfilme erinnert. Ein paar Auszüge: Erlaubt sind für die Zubereitung ausschließlich Salz und Wasser, in der orthodox-brutalistischen Küche nicht einmal das. Wir werden als brutalische Esser geboren, denn Muttermilch ist in ihrer Essenz brutalistisch. Die Portionen müssen eine angemessene Größe haben. Tellerdekoration ist zu vermeiden.
Offen für kulinarische Weiterbildung
Wen kriegt man mit sowas? Nun, mich zum Beispiel. Weil, Restaurants besuchen für mich auch mit Neugierde, mit kulinarischer Weiterbildung zu tun hat. Weil ich nie ein Freund von überwürztem Essen war, und solchem, das nur nach Soße schmeckt. Und ja, auch weil bei mir die fast schon plumpe Anspielung an brutalistische Architektur verfängt; wie so viele gerade bin ich fasziniert von den ungeschlachten Betonmaschinen aus einer Zeit, als Urbanität noch Verheißung sein durfte. Als eine Reise nach Stockholm ansteht, reserviere ich direkt einen Tisch für zwei.
Bei unserer Ankunft werden wir äußerst zuvorkommend, aber unaufdringlich empfangen – sofort fühlen wir uns wohl. Man platziert uns im kleineren Bar- und Vorraum, auf dem Metalltresen stehen mehrere Stiegen Eier zum Direktverkauf, dahinter ist das kleine Küchenteam konzentriert bei der Arbeit. Der Raum wird dominiert von einer Höller-Skulptur, sie hängt von der Decke wie ein Heizstrahler, mit mehreren Neonröhrenringen, die immer wieder in anderen Kombinationen leuchten: Eine Dezimaluhr ist das, sie teilt die Zeit in Hunderterschritte. Auch die Lampen auf den Tischen sind von Carsten Höller, sie erinnern an Knollenblätterpilze. Er hat sie extra für das „Brutalisten“ entworfen.
Wir bekommen ein Glas Naturwein und eine hausgemachte, fantastisch unsüße brutalistische Himbeerlimonade und studieren die Karte. Die beiden einzigen orthodox-brutalistischen Gerichte sind Austern und Muscheln, das können wir uns auch so vorstellen. Auch die semi-brutalistischen Gerichte, bei denen „ein paar“ Zutaten erlaubt sind, ignorieren wir. Der Rest ist so übersichtlich, dass wir beinahe alles bestellen.
Ist der Kaiser nackt?
Beim Warten schwingt ein wenig Zweifel mit: Wenn schon das Konzept die Leute anlockt, muss es dann überhaupt noch die Ausführung? Wird es gutes Essen geben oder ist das hier alles nur ein Hype? Denn ein Hype ist es unbestritten; die Eröffnung im Mai 2022 wurde zu einem Society-Event, unter anderem der Regisseur Jonas Åkerlund und die Modedesignerin Miuccia Prada waren dabei. Die Sängerin Lykke Li nennt das „Brutalisten“ einen ihrer Lieblingsorte.
Die Vorspeisen zerstreuen meine Zweifel. Es gibt hervorragend Eingelegtes, Lauch, Rhabarber, Gurke; auch eine Pflaume, die beinahe alkoholisch schmeckt, so vergoren ist sie. Außerdem Kartoffelchips, aber was für welche: Kartoffelteig wurde extrem dünn ausgerollt, mit geraspelten Schalen paniert und dann gebacken. Das Ergebnis hat den Crunch und die Textur eines Finncrisp-Knäckebrots. Und schließlich eine klare Pilzbrühe, so dicht und voll im Geschmack, als würde man Waldboden trinken.
Ein kurzer Gang auf die Toilette, von der man dank halbverspiegelter Scheiben direkt in den eigentlichen Gastraum gucken kann. Der ist wärmer, mit mehr Textil eingerichtet als unser Vorraum. Aus extrem hohen Fenstern blickt man auf eine zweistöckige Straßenkreuzung im Geschäfts- und Bankenviertel Norrmalm. Nirgends ist Stockholm so urban wie hier. Am Platz warten die weiteren Gänge. Raps, die Blätter leicht frittiert, dazu Saaten und Öl. Bei der „Milchkuh“ wird das brutalistische Konzept durchaus kreativ ausgelegt: neben zartem Fleisch gibt es auch Kleckse von Sahne und Butter. Das alles essen wir zusammen – das ist ausdrücklich im Manifest so vorgesehen, die Gäste entscheiden über die Kombinationen, nicht der Chefkoch –, und auch das schmeckt richtig gut.
Oder will ich das nur glauben, um mir nicht einzugestehen, dass ich dem Hype erlegen bin? Wie bei Kunstausstellungen von großen Namen, wo alle herumstehen und sich gegenseitig bestätigen: Dieser Künstler – Halleluja, ein Teufelskerl! Diese Radikalität! Hier sei ihm ja mal wieder was gelungen … Und niemand traut sich zu sagen, dass der Kaiser nackt ist.
Ein bisschen mehr Texturen wären schön
Nun kommen Rind, dry-aged, gebraten und leider recht salzig. Und Wachtel, Flügel, Schlegel und Kopf gegrillt auf einer Jus, dazu ein Herz und ein Mini-Spiegelei. Alles davon schmeckt gut, aber so viel reines Fleisch ist selbst mir zu viel. Tatsächlich hätte es hier ein Teller weniger auch getan, um uns satt zu bekommen. Auf ein Dessert verzichten wir daher.
Das Finale lässt mich ein wenig underwhelmed zurück. So gut alles schmeckt, hatte ich mir vom Konzept doch etwas mehr erwartet. Mehr Überraschungen wie die Kartoffelchips, mehr Kombinationen, mehr Spielereien mit Texturen. Wie das Gericht, das in einigen Kritiken beschrieben wurde, aus einem Pilz, der geviertelt und dann jeweils fermentiert, geräuchert, gedämpft oder schonend gegart wurde, serviert in einer Pilzessenz. Meine Begleitung wendet ein, dass es doch vielleicht genau darauf ankommen kann: das perfekt gebratene Stück Fleisch. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist natürlich sehr brutalistisch gedacht.
Doch war der Kaiser deshalb jetzt nackt? Nein. Es hat geschmeckt, und war, für Stockholmer Verhältnisse, nicht mal besonders teuer. Die Atmosphäre, die Gastlichkeit, die Räume sind großartig. Wir hatten einen guten Abend. Und die Zweifel und die daraus resultierende Beschäftigung mit den Zutaten, den Zubereitungsweisen, mit Essen an sich, sind ja sogar ein Grund, weswegen man Restaurants wie das „Brutalisten“ besucht. Für eine Bewusstseinserweiterung im Mund.
Über den Autor
Michael Brake lebt in Berlin und ist Redakteur der taz, wo er die Genuss-Seiten in der Wochentaz verantwortet und in seiner Kolumne „Geschmackssache“ über neue und alte Trends in Restaurants, Küchen und Supermarktregalen schreibt.