Story der Woche – Vor der Natur zu Kreuze kriechen 

Dänemark 2003: Pilz-Muschel-Brühe an Heu
1. März 2024

Ein Beitrag von Uta Seeburg 

René Redzepi © POPL

Ein kleines Büschel Heu, akkurat angeordnet in einer schlichten Schale. Aus einer kleinen Kanne dampft eine schwarzbraune, klare Brühe, sie wird über das Heu gegossen, seidiges Fett glitzert an ihrer Oberfläche. Das Heu saugt sich voll, sekundenlang. Dann, unbändig und wild wie ein explodierender Wischmopp, öffnet sich das Büschel mit einem einzigen Ruck, füllt die ganze Schale, prall wie eine sich öffnende Blüte. Man setzt die Schale an die Lippen und schlürft die Brühe durch das Heu, das nach sommerwarmen Wiesen duftet. Die Brühe schmeckt erdig und salzig, nach Wald und Meer. Das kleine Spektakel des aufplatzenden Heus: kein Zaubertrick der Molekularküche, sondern ein reiner Effekt der Natur. Ähnlich dem sich öffnenden Heubüschel, wenn auch viel langsamer, in quälender, schneckenartiger Zeitlupe (der Prozess dauert immer noch an), erwacht das kollektive Bewusstsein nach der Jahrtausendwende mit dem Gedanken, dass es so nicht weitergehen kann. Das kurze Zeitalter der Menschen droht schon wieder seinem Ende zuzugehen. Inmitten dieser schlafwandlerischen Wahrheitsfindung eröffnet in Kopenhagen ein Restaurant, das eine weltweite kulinarische Bewegung auslösen wird. Die Rede ist natürlich vom Noma unter der kreativen Leitung eines Getriebenen, des Chefkochs René Redzepi. Seine Idee: Nur das kochen, was man in der unmittelbaren Umgebung des Restaurants findet. Dieser Anspruch an Regionalität ist besonders radikal in einem Land, in dem viele Monate lang so gut wie nichts wächst. Umso überraschender – auf den ersten Blick oft auch: unessbarer – sind die Produkte, die er findet und auf den Tisch bringt (und hierin liegt das Radikale; regional gekocht hat auch schon die nouvelle cuisine): fermentiertes Moos. Karamellisierte Bienenlarven. Eingelegte Birnen mit Salz aus Waldameisen. Oft wird es programmatisch schlicht: ein bisschen Eidotter, eine bescheidene Kartoffel, ein paar Holunderblüten. Fladenbrot mit Rosenblättern. Mousse von der Schafsmilch, dazu ein Granita aus Wiesengräsern. Gegrillter Lauch mit Asche, dazu Haselnuss, Joghurt und karamellisierte Hühnersauce. Redzepis Konzept steht zunächst für eine neue nordische Küche, neu, weil sie extremer und kompromissloser gedacht ist als alles, was vorher in Skandinavien fermentiert, eingelegt und gekocht wurde. So gehört er auch zu den maßgeblichen Protagonisten des »Manifesto for the New Nordic Cuisine« von 2004, das die Umarmung regionaler und traditioneller Lebensmittel und die Rückkehr zur handwerklichen Produktion fordert. Damit drückt er eine neue Sehnsucht aus, die den Menschen des Post-Millenniums auf der ganzen Welt ergreift: die Sehnsucht nach dem Handgemachten, den kleinen lokalen Manufakturen und seit Generationen bestehenden Familienbetrieben. Diese Vision einer salonfähigen, weil ästhetischen Nachhaltigkeit erstreckt sich auf viele Lebensbereiche, wie aufs Möbeldesign, die Mode, den Buchdruck, das Reisen und ganz besonders auf die Kulinarik bis hin zu hochprozentigen Spirituosen, die jetzt aus kleinsten Destillerien kommen und am besten mit Etiketten versehen sind, die auf irgendeiner obskuren altmodischen Maschine bedruckt wurden. Nachdem die Molekularküche das Essen dekonstruiert und ausgehöhlt hat, immer mit dem Ziel, die Natur zu übertreffen, nimmt Redzepis Küche die Gegenposition ein: Sie überhöht das einzelne Produkt, glorifiziert die Lauchstange, erhebt das Gras von der Wiese zum Kult. Der Mensch hat die Natur nahezu vollständig unterworfen und zerstört, jetzt sucht er wieder nach einer Beziehung zu ihr: Nachdem er sich kurz zuvor an die Spitze der Schöpfung gestellt hat, kriecht er jetzt, selig am Heu schnuppernd, vor ihr zu Kreuze. Das alles erreicht Redzepi, zum Beispiel, indem er wenige Zutaten handwerklich perfekt zubereitet, immer mit dem Ziel, das Produkt in seiner ganzen aromatischen Schönheit in den Mittelpunkt zu stellen. Seine kulinarische Technik paart er mit der Idee des kompromisslos Lokalen, der »Nahrungssuche« in nächster Umgebung (diese macht sein Restaurant, dem Sterne und Auszeichnungen bald hinterhergeworfen werden, wohl vor allem berühmt, denn schon bald entsteht ein ganz eigenes literarisches Genre, das man als »auf Nahrungssuche mit Redzepi« betiteln könnte; Autorinnen und Journalisten reisen in den hohen Norden, um mit dem unaufgeregt freundlichen Chefkoch durch Wälder und Wiesen zu spazieren und einfach mal alles zu probieren, was da so wächst). Mit dieser Idee kehren die Menschen zu ihrem eigenen Urbild zurück: zum Sammler, der durch die Natur streift und nimmt und isst, was er finden kann. Die Rückkehr zur sammelnden Naturverbundenheit schlägt in der gehobenen Gastronomie hohe Wellen (obwohl Tannenzapfen, Moos und Ameisen nichts kosten, ist die Verarbeitung für die Sterneküche doch so kostspielig, dass nicht alle sich die neue Vergötterung der Natur leisten können), sehr viele Restaurants mit ähnlichem Ansatz werden eröffnet. Von »brutaler Lokalität« ist die Rede oder auch von »alchemistischer Naturküche«, in der etwa mit Steinpigmenten gekocht oder auch mal ein Kürbis auf einen Ameisenhaufen gelegt wird, um die von der Säure zersetzte Frucht später zu vakuumieren und ein Püree daraus zu machen. Auch wenn es sich hier um eine elitäre Küche handelt, so ist die Einsicht, dass man keine exotischen Produkte vom anderen Ende der Welt exportieren muss, um ein anspruchsvolles Gericht zu kochen, eine wichtige und grundlegende. Manch gut meinender, aber dennoch weniger innovativer Koch überspannt da aber leider den Bogen und lässt unter dogmatischen Ansprachen eine pure Stange verkohlten Lauchs oder eine Scheibe irgendeines mediokren Fischs aus einem nahe gelegenen Tümpel servieren, der allerdings nach einer coolen uralten Samurai-Technik geschlachtet wurde. In solchen Momenten wünscht man sich, dass nicht jede Zutat des überteuerten Zehn-Gänge-Menüs von dem brachliegenden Parkplatz hinterm Restaurant stammen möge. Verbranntes Gestrüpp bleibt eben Gestrüpp. Das hätte auch der eiszeitliche Sammler nicht anders gesehen.

Über die Autorin 

© Inka Baron

Uta Seeburg arbeitete jahrelang als Redakteurin für die Zeitschrift ARCHITECTURAL DIGEST. Dort berichtete sie über Design und Reisen, verfasste zudem zahlreiche kulinarische Essays. Heute widmet sich die promovierte Literaturwissenschaftlerin und Autorin historischer Kriminalromane ganz dem Schreiben von Büchern. Zuletzt erschien: WIE ISST MAN EIN MAMMUT? In 50 Gerichten durch die Geschichte der Menschheit. DUMONT, 256 Seiten, 22 Euro. Der Beitrag über das NOMA ist dem Buch entnommen. Auf ihrer interaktiven Webseite www.utaseeburg.de  gibt die Autorin Einblick in ihr Werk.