Michael Engelbrecht

Nordeuropahistoriker und Skandinavist

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Sehnsuchtsort Ostsee

Berichte & Geschichten aus zwei Jahrtausenden
7. September 2018

Es waren einmal ein Fischer und seine Frau, die wohnten an der Ostsee, und der Fischer ging jeden Tag und angelte und angelte und angelte. Da ging die Angel unter, und als er sie heraufholte, zog er ein großes Buch heraus. Da sagte das Buch zu ihm: „Lass mich leben, ich bin eine Übersicht zur Literatur über die Ostsee. lass mich schwimmen.“ – Da setzte er es wieder ins Wasser. Nun stand der Fischer auf und ging zu seiner Frau. „Mann“, sagte die Frau, „hast du heute nichts gefangen?“ – „Nein“, sagte der Mann, „ich fing ein Buch mit Geschichten über die Ostsee, das hab‘ ich wieder schwimmen lassen.“ – „Hast du dir denn nichts gewünscht?“ fragte die Frau. „Nein“, sagte der Mann, „was sollte ich mir denn wünschen?“ – „Ach“, sagte die Frau, „die Geschichten könnten doch in den ganzen Sprachen der Ostseeanrainer gedruckt sein. Geh‘ noch mal hin und äußere den Wunsch.“ – Der Mann ging an die See, stellte sich hin und sagte:

Liedtke, Liedtke, Timpe Te,
Büchlein, Büchlein in der See,
Mine Fru, die Ilsebill,
will viel mehr, als ich wohl will!

Das freundliche Büchlein tat wie gewünscht. So erschienen die Geschichten nun in Original und Übersetzung, später kamen kritische Kommentare dazu, dann eine komplette literaturwissenschaftliche Einordnung und als das Buch aus 20 Bänden bestand, war es so schwer geworden, dass es auf den Meeresboden sank und keiner es mehr lesen konnte.

Die Ostsee ist ein Meer im Norden, das auch immer ein Platz der Sehnsucht war. Im Rahmen der Ostkolonisation zog es die Menschen aus Europas Mitte an seine Küsten und sie gründeten Handels- und Hansestädte, und der Fischreichtum ernährte sie, später war das Meer ihr Erholungsort, daneben auch Schauplatz der Begegnung mit scheinbar nahen und doch so fremden Nachbarn.

Die Protagonisten im Ostseeraum wechselten, die erlebten Geschichten wurden zahlreich. Immer aber wurde dies literarisch begleitet, kam zur Geschichte die Fiktion, die alles personalisierte, greifbar machte, die Sehnsucht erst fassbar werden ließ.

© Hanna Sjoberg

Den Ostseeraum entdecken

Der nordfriesische Schriftsteller und Übersetzer Klaus-Jürgen Liedtke hat mit Akribie zusammengetragen, was mit der Klammer Ostsee an Berichten und Geschichten in 2000 Jahren bei den Bewohnern und über die Bewohner entstand. Er folgt dabei einer geografischen Motivation, führt die Leser als Reisende in die Region, ordnet alles vorgefundene historisch ein, um dann die Themenkreise Meer, Stadt, Provinz, Insel und Peripherie zu besuchen.

Nun können die Mitreisenden stöbern. Je nach der Brille finden sich interessante Kleinigkeiten, für die Nordische Esskultur Pfannkuchen mit Eiderenteneiern in Seehundsfett bei Linné oder Bratwurst mit Pfeffernusssoße nach Thomas Mann, die, ernährungsphysiologisch modernisiert, jede BBQ-Soße weit hinter sich lässt.

Dabei lässt die Auswahl erahnen, wie vielgestalt das bereiste Gebiet ist und doch ist sie so getroffen, dass sie immer ein Quentchen südliche Gestade im Gepäck hat, die Deutschen spielen oft eine Rolle oder der Text ist für sie von Belang. Damit ist das Buch Reisebegleiter und Eintrittskarte ins Reisegebiet zugleich, das die Reisenden zu Teilhabenden macht, Deutschland zu einem Teil des Ostseeraums und seiner Entwicklung. Und das ist bei allen guten Seiten dieser Arbeit die vielleicht wichtigste, den Fokus auf die Ostsee als oft unbeachtete, fast exotische zu legen, die als Region für uns durchaus von Belang ist, vielleicht sogar viel von Wert bietet, das Buch lehrt uns, die Ostsee und die Bewohner wert zu schätzen, ohne schwer lexikalisch daher zu schwimmen.

© Galvani Berlin

Die Ostsee

Berichte und Geschichten aus 2000 Jahren
Herausgegeben von
Klaus-Jürgen Liedtke
Galiani Berlin, 650 Seiten, 39 Euro

Literaturkonferenz

Die Auftaktveranstaltung zum Buch wird im Rahmen einer (von der Bundeskulturstiftung geförderten) internationalen Literaturkonferenz stattfinden, zu der das Literaturhaus Rostock vom 13.-16. September unter dem Titel „Reading the baltic – Die Ostsee lesen“ einlädt. Autoren, Übersetzer und Literaturvermittler aus dem Ostseeraum werden gemeinsam einen neuartigen Blick auf ein vielen gemeinsames Meer und einen gemeinsamen, aber auch kontroversen Kulturraum werfen. Neben der Tagung selbst werden in der gesamten Stadt Lesungen und Diskussionen stattfinden, sodass Reading the baltic nicht nur Konferenz, sondern zugleich Lesefest sein wird.

Die Premiere der Ostsee-Anthologie wird am Freitag, den 14.9., um 20 Uhr im Rathaus der Hansestadt Rostock stattfinden. Neben dem Herausgeber Klaus-Jürgen Liedtke und dem Verleger Wolfgang Hörner, werden auch die Schriftsteller Jan Philipp Reemtsma (D), Stefan Chwin (PL), Clas Zilliacus (FIN) und Peter Wawerzinek (D) dabei sein.

Lesungstermine mit Klaus-Jürgen Liedtke:

14. – 16.9. Rostock, Literaturhaus/Rathaus der Hansestadt Rostock

16.9. Exkursion nach Warnemünde, mit Lesung des norwegischen Autors Tor Eystein Øverås.

3.11. Sassnitz auf Rügen, Inselladen

6.12. Kopenhagen, Goethe-Institut

7.12. Stockholm, Haus des Schriftstellerverbands