Ein Kommentar von Johanna Rädecke
Die Digitalisierung ist die Errungenschaft unserer Gesellschaft. Arbeitswelt und Freizeit profitieren von immer neuen technischen Innovationen, die das Leben erleichtern: Augmented Reality, 5G, Smarthome – und die Kuhbrille.
Diese hat kürzlich den zweiten Platz des Digitalisierungspreises Agrar und Ernährung des Landes Niedersachsen gewonnen. Es handelt sich um eine VR-Brille, die Nutzer*innen das volle Kuh-Erlebnis präsentieren soll: Mit dem tierischen Sehverhalten (330° – Rundumsicht mit 30° scharfem Sehen im Frontbereich, erhöhte Adaptionsdauer bei Änderung der Helligkeit, Rot-Grün-Schwäche, verstärktes Kontrastsehen, verringerte Sehschärfe auf 30% der Sehschärfe des Menschen) kann der Laufstall, die Melkmaschine oder die Weide erkundet werden.
Erfinder Benito Weise hat sich in den vergangenen Jahren insbesondere mit dem Thema Tierwohl befasst. Er suchte nach neuen didaktische Ansätzen, die Tierhalter*innen einen „etwas emotionaleren Zugang“ zu dem Tier ermöglichen. Das Thema „Sehfeld einer Kuh“ fesselte ihn, weil er merkte: Wenn man sich damit nicht gut auskennt, entstehen stressige, auch gefährliche Situationen.
Dass damit noch lange keiner Kuh geholfen ist, weiß auch der Diplom-Agraringenieur. In Deutschland leben circa 12,5 Millionen Rinder, 4, 2 Millionen davon sind Milchkühe, die zusammen fast ein Viertel der EU-Gesamtmenge Milch „produzieren“. Dass die Kühe dies fröhlich muhend auf saftigen Weiden tun, während sie glücklich mit ihren Kälbern zusammenleben, glauben zum Glück nur noch die ganz ignoranten Städter (die bei einem Besuch auf dem Lande entsetzt sind, wenn sie nicht Bullerbü-Höfe vorfinden) und Milchtüten-Designer.
Empathie für die Intensiv-Kuh
Fakt ist, dass Kühe intelligente, soziale und neugierige Wesen sind, die es lieben, ihre Umgebung zu erkunden und in freier Natur täglich viele Kilometer zurücklegen. Fakt ist aber auch, dass die meisten Rinder in Deutschland nur etwa zwei Jahre alt werden, entweder in Laufställen (die mal gut, mal katastrophal ausgestattet sind) oder sogar in Anbindehaltung leben und nur etwa jedes dritte Rind im Sommer einen regelmäßigen Zugang zu Weideflächen hat – obwohl wissenschaftliche Studien belegen, dass hierdurch nicht nur die Lebens- und Milchqualität steigt, sondern auch an Futter und Medikamenten gespart werden kann (ja wer hätte das denn gedacht).
Benito Weise will mit seiner Brille mehr Empathie für die Kuh schaffen und das ist ein lobenswerter Ansatz. In einer Zeit, in der Verbrauchern möglichst nichts im Verkauf gezeigt wird, das erahnen lässt, dass für ein Rumpsteak oder die abstrakte Form des Würstchens tatsächlich ein Tier geschlachtet wird, ist es gut, Tierhaltung zugänglich zu machen. Entwickelt wurde die Brille vor allem für die Ausbildung, doch sie bietet jedem Potential, in dessen Leben Fleisch- und Milchprodukte eine Rolle spielen. Als Verbraucherin komme ich mit den Lebensumständen meines „Produktes“ nur auf den Märkten oder direkt bei den Produzenten in Berührung. Doch wie viele nutzen dieses Angebot gar nicht, wähnen sich lieber in sicherer Distanz zu ihrem Essen? Eine unpersönliche Packung Schinken hier, beim Steak „gönnt“ man sich vielleicht auch mal die Frischetheke. Wenn das schlechte Gewissen zu groß ist, wird moderner Ablasshandel mit Bioleberwurst oder einer Portion veganem Hack zum Sonntag betrieben. Doch schlechtes Gewissen wird auch gerne sprachlich beruhigt: Nicht in Massenhaltung, sondern in „Intensivhaltung“ verwahrlosen die Tiere, sie essen nicht, sie „fressen“, sie sterben nicht, sie „verenden“. So fällt es leichter nicht daran zu denken, dass für den eigenen Konsum ein Lebewesen getötet und zerteilt wird.
Ich persönlich würde mir wünschen, mehr als nur eine witzige, moderne Milchmaschine durch Kuhaugen zu sehen. Wie wäre es zum Beispiel, hautnah bei einer Behandlung von Euterentzündungen oder Klauen- und Gliedmaßenerkrankungen dabei zu sein? Sie bestimmen immerhin den Alltag vieler Rinder. Wie wäre es, in einem augenscheinlich „riesigen“ Laufstall auf einem vollkommen verkoteten Weg auszurutschen oder von einer dominanteren Kuh nicht an die Futterstelle gelassen zu werden? Sich in einer reizarmen Umgebung auf die Suche nach Beschäftigungsmaterial zu begeben? Lustig wäre es bestimmt auch, am Tag nach der Niederkunft von seinem Kalb getrennt zu werden, mit dem man in Freiheit viele Monate eng zusammenleben würde und nie die Bindung verlöre. Egal, wie öko die Milch ist, muss diesen Schmerz jedes Muttertier durchmachen, um Milch zu geben. Vielleicht kommt ja bald ein Update der Kuhbrillen-Software raus – ein Ausflug zu Tönnies.