Angeblich ist jeder fünfte Bundesbürger tätowiert. In einer jüngst in der Apotheken Umschau veröffentlichten Studie gaben 21 Prozent der Befragten an, mindestens eine Tätowierung auf dem Körper zu tragen. Mit diesem Trend geht auch eine rasante Zunahme professioneller Tattoo-Studios einher: Konnten vor 30 Jahren bundesweit gerade ein paar Dutzend gezählt werden, sind es heute fast 8.000. Diese Tattoo-Mode ist aber keineswegs eine besondere Begleiterscheinung unseres visuell geprägten digitalen Zeitalters. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die Praxis der Tätowierung in der westlichen Welt eine regelrechte Blüte. Besonders in Metropolen wie London, New York und anderen großen Hafenstädten hatten renommierte Tätowierer Mühe, die große Nachfrage aus allen Gesellschaftsschichten zu bedienen. Hamburg entwickelte sich auch dank der zahlreichen Seefahrer zur Tattoo-Hochburg Deutschland.
Tattoo-Hochburg Hamburg
Mit Aufhebung der Hamburger Torsperre 1860 beschleunigte sich die Entwicklung der Stadt. Der Hafen wuchs schnell und wurde zu einem zentralen Ort des Kommens und Gehens. Gleichzeitig entstand im hafennahen Stadtteil St. Pauli ein Zentrum der Unterhaltungskultur. Er zog Schausteller aus allen Erdteilen an. In dieser weltoffenen Umgebung entstand auch eine lebendige Tätowierszene. Hamburg wurde, auch dank der zahlreichen Seemänner, zur ersten deutschen Tattoo-Hochburg.
Deren berühmtester Vertreter ist bis heute Christian Warlich (1891–1964). Sein Geschäft befand sich in der Clemens-Schultz-Straße 44. Hier war der selbsternannte „König der Tätowierer“ seit 1919 bis zuletzt erfolgreich tätig. Warlich pflegte einen internationalen Austausch mit Tätowierern und Wissenschaftlern. Zudem vertrieb er Tätowiermaterial und vermarktete seine eigene Arbeit. Damit hob er das Tätowiergewerbe in Deutschland auf eine neue professionelle Ebene.
Die Ausstellung „Tattoo-Legenden“ im Museum für Hamburger Geschichte widmet sich erstmals ausführlich dem Schaffen Warlichs. Sie geht insbesondere der Frage nach, wie Warlich zu einer Leitfigur der globalen Tattoo-Kultur wurde und diesen Rang bis heute halten konnte.
Schon Pilger trugen Tattoo
Wie schon erwähnt sind Tattoos keine Zeitgeisterscheinung, gibt es sie schon lange. Das älteste erhaltene Tattoo Europas ist über 5.000 Jahre alt. Es befindet sich auf der Gletschermumie Ötzi. Der erste Beleg von einem Tätowierten aus dem Raum Hamburg überliefert ein Bericht zum Itzehoer Pilger Ratge Stubbe. Er ließ sich 1669 im Heiligen Land christliche Symbole als Souvenir stechen.
Selbst die Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn – durch die „Sisi“-Filme arg entstellt und verkitscht dargestellt – hat ein Tattoo (ein Anker) gehabt. Der Unterschied zu heute: man hat seine Motive nicht so offensichtlich hergezeigt, sie waren durch Kleidung bedeckt.
Kriminalisierung von Tattoos
Die Tattoo-Moden in allen Gesellschaftsschichten kamen und gingen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Tätowierte aber zunehmend sozial ausgegrenzt. Eine prägende Arbeit war in diesem Zusammenhang das Buch L’uomo delinquente (1876) des italienischen Mediziners und Anthropologen Cesare Lombroso. Er vertrat die These, dass es einen Zusammenhang zwischen körperlichen Eigenschaften und kriminellem Verhalten gibt. In Strafanstalten fand er viele Tätowierte vor, untersuchte aber die übrige Bevölkerung nicht. So zog er die falsche Schlussfolgerung: Verbrecher erkennt man an ihren Tätowierungen. Seine Studie war derart prägend, dass es zum Teil bis heute Vorurteile gegen Tätowierte gibt.
Tattoo-Pionier und Gastwirt
Kommen wir zurück Christian Warlich. Ein halbes Jahrhundert, von der frühen Weimarer Republik bis zu seinem Tod im Jahr 1964, war Warlich als Tattoo-Pionier und als Gastronom in einer Kneipe auf St. Pauli tätig, die er als eines der ersten „Ateliers für moderne Tätowierungen“ betrieb. Inspiriert von der Formensprache asiatischer Tätowierungen, von Motiven der amerikanischen Populärkultur, aber auch von Sujets der europäischen Kunstgeschichte, entwickelte Warlich einen eigenen signifikanten Stil, dessen Popularität bis heute ungebrochen ist. Er lies sich auch von lebenden Bildträgern – von Seemännern aus aller Welt – inspirieren, die ihn in Hamburg aufsuchten.
Neben seinem künstlerischen Gewerbe korrespondierte Warlich mit Wissenschaftlern und Hautärzten, entwickelte eigene innovative Vermarktungsstrategien, vertrieb Tätowiermaterialien und wurde zu einem Vorreiter auf dem Gebiet der Tattoo-Entfernung.
Grog zum Tattoo
Christian Warlichs Gaststätte war bekannt für den Ausschank von Grog. Das Heißgetränk aus Rum, Zucker und Wasser war in den Hafenkneipen Großbritanniens und seit dem 19. Jahrhundert auch in Hamburg und Norddeutschland beliebt. Für den Grog wird üblicherweise kein „echter Rum“ verwendet, sondern Rumverschnitt und man trinkt ihn in verschiedenen Kombinationen. Warlich bot ihn pur oder mit Anis-Geschmack an. Nicht nur zum Grog, auch zum „Lütt un Lütt“ (Bier und Schnaps) präsentierte Warlich interessierten Gästen sein Skizzenbuch. Die Kombination aus Kneipe und Tattoo-Studio war erfolgreich und lange für das Gewerbe stilbildend.
Die Sammlung
In der Sammlung des Museums für Hamburgische Geschichte befindet sich ein weltweit einzigartiges Konvolut aus dem Nachlass von Christian Warlich, das vom Kunsthistoriker und Kurator Ole Wittmann seit vier Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet wird und die Basis für die Sonderausstellung „Tattoo-Legenden. Christian Warlich auf St. Pauli“ bildet.
Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen neben historischen Fotos aus Warlichs Atelier und von seinen Werbematerialien die handgemalten Vorlagezeichnungen mit ihrer ungeheuren Vielfalt an Motiven. Warlichs Vorlagealbum, das als bekannteste und weltweit am stärksten rezipierte Motivsammlung für Tätowierungen gilt, wurde anlässlich der Ausstellung im Prestel Verlag neu aufgelegt. Ergänzend werden zahlreiche Objekte gezeigt, anhand derer die rege Warlich-Rezeption von den 1930er Jahren bis in die Gegenwart dokumentiert wird.
Um den Besuchern einen Eindruck vom kulturhistorischen Kontext zu geben, in dem sich Christian Warlich auf St. Pauli bewegte, sind zudem Exponate zu den Tätowierern Karl Finke, Willi Spiegel, Martin Ahlers, Paul Holzhaus und anderen Tattoo-Künstlern des 20. Jahrhunderts zu sehen, die einen besonderen Einblick in die damalige Hamburger Szene ermöglichen.
Tattoos gehören zu Hamburgs Geschichte wie der Hafen. Gut, dass sich nun das Museum für Hamburgische Geschichte sich des Themas angenommen hat.