Das Bild ist jeden Tag gleich: Morgens kommen Tausende Menschen am Bahnhof von Westerland an. Am Abend geht es auf demselben Weg zurück aufs Festland. Denn die Männer und Frauen sind nicht zum Urlauben auf Sylt, sondern zum Arbeiten.
Mehr als 4000 Menschen rollen laut der Bundesagentur für Arbeit in den Sommermonaten jeden Tag mit dem Zug vom nahegelegenen Festland über den Hindenburgdamm zur Arbeit. Nicht wenige von ihnen wollen auf der Insel wohnen, aber finden dort keine Wohnung.
Rund 2.500 neue Wohnungen für zumindest etwas Entspannung
In der Gemeinde Sylt mit den Ortsteilen Westerland, Tinnum, Rantum, Munkmarsch, Morsum, Keitum und Archsum fehlen seit Jahren Wohnungen. «Damit sich die Wohnungsmarktsituation (zumindest etwas) entspannen und eine Entlastung auf dem Arbeitsmarkt bewirkt werden kann, sind bis zum Jahr 2030 rund 2.500 Wohnungen für die Dauerwohnnutzung zu errichten», heißt es in einem vom Institut für Wohnen und Stadtentwicklung erstellten Wohnungsmarktkonzept. Dafür wurden der Bedarf und der realisierbare Neubau bis zum Beginn des nächsten Jahrzehnts ermittelt.
«Wir brauchen nicht nur mehr bezahlbaren Wohnraum, sondern attraktiven Wohnraum, denn die Leute auf Sylt wollen nicht mehr alle in Garagen oder Kellern wohnen», sagt Marcus Kopplin, Chef des Kommunalen Liegenschafts-Managements (KLM). Die Ansprüche einiger Mieter hätten sich verändert, zum Beispiel in Bezug auf ein modernes Badezimmer.
Das KLM vermietet als Eigenbetrieb der Gemeinde Sylt vermittelt seit rund 20 Jahren Wohnungen, derzeit mehr als 1000 Wohnungen. Bis zu 600 Haushalte – also rund 1000 Menschen – bewerben sich auf diese Wohnungen, sagt Kopplin. Die Mieten hängen vom Einkommen der Mieter ab und starten bei den öffentlich geförderten Wohnungen bei rund sieben Euro pro Quadratmeter.
«Der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum ist hoch, Tendenz steigend. Durch die Inflation bleibt bei vielen Menschen für das Notwendigste weniger übrig», sagte der KLM-Chef. Die Nachfrage ist entsprechend hoch. Nahe dem Bahnhof in Westerland entsteht gerade mit dem Projekt «Westhedig» und 189 Wohnungen das laut Kopplin größte geförderte soziale Wohnprojekt in Schleswig-Holstein. Bis Ende 2027 sollen alle Wohnungen fertig sein.
«Wir können die Nachfrage nicht bedienen»
Auch die Wohnungsbaugenossenschaft Gewoba Nord mit Sitz in Schleswig vermietet Wohnungen auf Sylt: 946 Wohnungen, davon 693 in der Gemeinde Sylt, 32 in der Gemeinde Kampen sowie 221 in der nördlichsten Gemeinde Deutschlands, in List. «Wir können die Nachfrage nicht bedienen, so viel steht fest», sagt Thomas Buschmann von der Gewoba Nord. Die Anzahl der Mietinteressenten auf den Wartelisten für die Insel schwankt laut Buschmann je nach Ort zwischen 30 und 180.
Knapp unter drei Wohnungen werden laut Buschmann pro Monat vergeben – die Fluktuation sei angesichts des raren Angebots gering. Auch in Wyk auf Föhr besitzt die Genossenschaft 167 Wohneinheiten.
Bezahlbare Unterkünfte fehlen auch in den Amtsgemeinden Wenningstedt-Braderup, Kampen, Hörnum und List. In Wenningstedt-Braderup hat die Gemeinde daher vor sechs Jahren das Neubau-Projekt «Osterwiese» mit fünf Doppelhäusern und neun Mehrfamilienhäusern für Sylter Familien gestartet. Die unterschiedlich großen gemeindeeigenen Wohnungen kosten im Schnitt unter zehn Euro pro Quadratmeter.
Gleiches hört man im Inselsüden. «Wir haben kein Potenzial», sagt der Hörnumer Bürgermeister Udo Hanriede – weder für den Zuzug von außerhalb der Insel noch für Familien, die beispielsweise gerne in eine größere Wohnung umziehen wollen, oder für Pärchen, die einfach schön wohnen wollen. «Da wird es relativ schnell eng.» Es gebe vor allem zweckmäßigen Wohnraum.
Die Gemeinde hat eigene Wohnungen, auch weitere Wohnprojekte für Insulaner, teilweise auf Grund der Gemeinde gibt es. Diese Einheiten werden laut Hanrieder nach festgelegten Kriterien vom Sozialausschuss an Bewerber vergeben.
Die Inseln suchen Lösungen
Auf den Inseln Föhr und Amrum fehlen ebenfalls Wohnungen für Insulaner. Auf Amrum sind es 180 und auf Föhr rund 280, wie der Direktor des Amtes Föhr-Amrum, Christian Stemmer sagt. 2021 wurde eine Wohnungsbaugenossenschaft gegründet, deren Ziel es ist, bezahlbaren Wohnraum zu fördern. Zunächst sollen 64 Wohneinheiten in Wyk auf Föhr entstehen. «Das ist ein Anfang». Anders als nach Sylt ist das Pendeln nach Föhr und Amrum aufgrund der Fährverbindungen in den meisten Fällen nicht einmal theoretisch eine Alternative.
Klassische Neubaugebiete wie auf dem Festland seien relativ selten, erklärt Hanrieder. Jeder Quadratmeter, der nicht bebaut sei, sei im Endeffekt Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebiet. Und viele Wohnungen werden an Touristen vermietet oder sind Zweitwohnsitze. Dies ist historisch gewachsen, auch weil die Vermietung an Feriengäste lukrativer ist. Dadurch fehlt einerseits Dauerwohnraum – andererseits würde ohne die Urlauber vielleicht gar nicht so viel Dauerwohnraum gebraucht. Einfach, weil es weniger Arbeit auf der Insel geben würde.
«Es ist ein Balanceakt, den man steuern muss, aber nicht immer steuern kann», betont der Hörnumer Bürgermeister. Zumindest versucht wird es aber. So hat die Gemeinde Sylt, zu der Westerland gehört, etwa ein Beherbergungskonzept erlassen, das den Neubau von Ferienwohnungen verbietet. Wie auf dem Festland auch wird auf den Nordfriesischen Inseln zudem konsequenter gegen illegale Ferienwohnungen vorgegangen.
Fehlender Wohnraum hat auch Konsequenzen für Betriebe
Der fehlende Wohnraum macht es nicht nur für die Menschen schwer, die bereits auf den Inseln sind und aus verschiedenen Gründen eine neue Wohnung suchen. Es minimiere auch die Aussichten, Arbeitskräfte auf die Inseln zu bekommen, sagt Stemmer. «Die erste Frage ist: Haben Sie eine Wohnung für mich?»
Einige Einrichtungen bieten neuen Beschäftigten zumindest für eine Übergangszeit Appartements oder Zimmer an. Andere müssen angesichts fehlender Mitarbeiter Öffnungszeiten verringern oder geben sogar ganz auf. Mittlerweile hätten viele Gastronomiebetriebe, sogar der Bäcker, zwei Ruhetage – «das machen sie ja nicht, weil sie kein Geld verdienen wollen, sondern weil die Leute fehlen», sagte Hanrieder.
Nach Angaben der IHK Flensburg sind die Nordfriesischen Inseln und Halligen noch stärker als das Festland vom Fachkräftemangel betroffen. Fehlendes Personal werde hier nicht nur im Tourismus, sondern für alle Branchen zu einer immer drängenderen Herausforderung. «Wir haben ein Arbeitskräfteproblem», sagt auch der Amtsdirektor von Föhr-Amrum, Christian Stemmer. Jetzt schon und wenn die sogenannte Babyboomer-Generation in Rente geht, werde es sich noch verschärfen.
Die Situation habe man zum Anlass genommen, um gemeinsam mit der Staatskanzlei online das interaktive Arbeitskräfteportal «Smart ’n‘ Job» zu entwickeln, sagt Amtsdirektor Stemmer. Es soll ein umfassendes Informationsangebot geben, etwa zu freien Kita-Plätzen und Jobangeboten für den Partner oder die Partnerin. Aber eben auch zur Frage, ob es eine Wohnung gibt. Eine Betaversion der Plattform soll es voraussichtlich ab Frühjahr 2025 geben.
Hotels droht die Kürzung ihrer Angebote
Auch die Betreiberin des Hotels Seeblick in Norddorf auf Amrum, Nicole Hesse, kennt das Problem des Wohnungsmangels – und des daraus resultierenden Arbeitskraftmangels. Hesses Schätzung zufolge braucht die Insel noch gut 200 bis 300 Wohnungen.
Sie selbst vermietet seit Anfang 2023 einige ihrer Ferienwohnungen an ihre Angestellten, um ausreichend Personal für die Saison unterbringen zu können. Diese Methode habe sich bewährt – auch wenn Freunde und Bekannte sich aufgrund des Umsatzverlustes laut Hesse zuerst an den Kopf gefasst hatten. Doch auf lange Sicht gesehen, müsste die Hotelleiterin ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihr Angebot kürzen – also entweder Ruhetage einführen, das Platzangebot im Restaurant kürzen «oder ich kann die Zimmer dann gegebenenfalls nicht vermieten».
Insgesamt muss nach Ansicht von Hesse der Tourismus auf «gesunde Beine» gestellt werden. Die Bettenanzahl und die Verwaltung sollte geprüft werden – und dann, ob wirklich alles an Ferienwohnungen genehmigt sei und welche Wohnungen eigentlich als Wohnraum ausgezeichnet wurden. Sie plädierte auch für einen Zusammenschluss der Dehoga-Bezirke von Amrum und Föhr mit Sylt, da alle Inseln ähnliche Probleme hätten – damit entstehe auch ein gemeinsames, größeres Sprachrohr der Inseln.