Ein Beitrag von Berit Böhme
Der Seefahrtshof in Bremen-Grohn ist ein unter Denkmalschutz stehendes Backstein-Ensemble. Es liegt inmitten eines parkähnlichen, zwei Hektar großen Geländes am hohen Nordufer der Lesum, verziert mit Skulpturen, einer historischen Kanone und alten Ankern. Schon das barocke Eingangsportal macht deutlich, dass Kapitäne hier gut aufgehoben sind: Ein Dreimaster kämpft sich durch die Wellen, bewacht wird er vom Meeresgott Neptun mitsamt seinem Dreizack. In den Zwei- und Dreizimmerwohnungen auf dem Gelände leben derzeit 37 „Prövener“ und sechs Nautik-Studenten. „Prövener wurden früher die Menschen genannt, die milde Gaben empfingen“, sagt Klaus Thormählen, Verwaltender Kapitän der Stiftung Haus Seefahrt, zu dem der Seefahrtshof gehört. Die Bremer Stiftung Haus Seefahrt gilt als älteste Sozialwerk Europas. Sie sorgt seit 475 Jahren für bedürftige Kapitäne im Ruhestand sowie deren Ehefrauen und Witwen.
Kapitäne, Witwen und Nautik-Studierende wohnen auf dem Gelände
Den Mitgliedern wird ein mietfreies Dach über dem Kopf ermöglicht. „Wenn die Bewohner bedürftig sind, zahlen sie nur die Verbräuche“, sagt Thormählen. „Der Seefahrtshof ist wie eine Insel der Seligen“, schwärmt der 84-Jährige Bewohner Klaus Müller. „Und man ist unter Kollegen.“ Die Bewohnerinnen und Bewohner organisieren Matjes- und Grünkohlessen oder Grillabende. Es ist ein generationenübergreifendes Wohnen: „Die Nautik-Studenten werden zu allen Veranstaltungen auf dem Hof eingeladen“, sagt Thormählen. Witwen sogenannter seemännischer Mitglieder, die woanders leben, werden zudem vom Haus Seefahrt finanziell unterstützt – derzeit sind es 19. Ebenso viele bedürftige Studierende erhalten ein Fördergeld.
Bewohner Klaus Müller ist es gewohnt, mit wenig Platz auszukommen
Klaus Müller zog vor vier Jahren mit seiner Frau in Haus 4. „Es ist einfach absolut das Richtige.“ Er fühle sich in der kleinen Wohnung sehr wohl. Gern greift er zu seinem Dudelsack und geht zu den monatlichen Treffen auf dem Seefahrtshof. „Nur die Männer, da wird dann schlau geschnackt“, sagt der Senior. Mit wenig Platz auszukommen, ist er durch die Zeit auf See gewohnt. „Ich bin mein Leben lang zur See gefahren.“ Allein 22 Jahre lang lenkte er Passagiergroßsegler der Clipper-Reederei. Zeitweilig hatte er das Kommando auf der Bark „Alexander von Humboldt“ mit den grünen Segeln und lernte die Trainees an Bord an.
„Wir sind alle auf alten Seelenverkäufern angefangen“
„Wir sind alle auf alten Seelenverkäufern angefangen“, sagt Klaus Thormählen lachend, der an diesem Vormittag zu einem kleinen Schnack in Müllers Wohnzimmer vorbeischaut. Seelenverkäufer – so nannten die Seemänner früher klapprige, nicht ganz seetüchtige Schiffe. Der Blick aus Müllers gemütlicher Stube geht hinaus ins Grüne. Eigene Gärten haben die Bewohner aber nicht.
In den 1950er Jahre wurde der Seefahrtshof in Grohn erbaut
Derzeit hat Haus Seefahrt über 420 Mitglieder, darunter auch Nautik-Studierende. Sie werden unterteilt in kaufmännische, seemännische und außerordentliche Mitglieder – je nach beruflichem Hintergrund. Traditionell fühlten sich die Bremer Kaufleute den Seeleuten verbunden: Transportierten sie doch ihre Waren über die Weltmeere. Studierende werden seit zehn Jahren aufgenommen. „Wir wollen ja auch Nachwuchs haben“, begründet Thormählen. Anfang der 1950er Jahre wurde der Seefahrtshof auf dem Gelände in Grohn neu erbaut. Es ist bereits der vierte Stiftungsstandort in der langen Geschichte von Haus Seefahrt.
Archiv verwaltet Fotos, Seekarten und nautische Geräte
1998 kam zu den Wohnungen ein neues Verwaltungsgebäude in Backsteinoptik dazu. Einer der Räume dient als Archiv. An diesem Vormittag arbeitet dort der ehemalige Kapitän Rolf Umbach, der sich auch um die Stiftungsbibliothek kümmert. Umbach ist seit 1973 seemännisches Mitglied von Haus Seefahrt. Im Archiv werden Fotos, Seekarten, Seetruhen und nautische Geräte aufbewahrt. „Die haben die Erben der verstorbenen Kapitäne dem Haus Seefahrt vermacht“, erklärt Umbach.
Wände voller Wappen
Hingucker des Seefahrtshofs ist aber nicht das Archiv, sondern der „Wappensaal“. Dort zieren die Wappen der bisherigen Vorsteher und Verwalter die Wände. „Das älteste Wappen ist von 1586“, sagt Thormählen. In einer Vitrine liegt ein kleiner Teil des stiftungseigenen Silberbestandes. „Nur zur Schaffermahlzeit werden die prächtigen Tafelaufsätze aus dem Banktresor geholt“, sagt Thormählen. Die Schaffermahlzeit in der Oberen Rathaushalle in Bremen ist das älteste sich alljährlich wiederholende Brudermahl der Welt und wird vom Haus Seefahrt verantwortet. Dort werden Spenden gesammelt, die der Stiftung zugutekommen.
Auf Schaffermahlzeit werden Spenden für das Haus Seefahrt gesammelt
Zum Festessen dürfen je 100 kaufmännische und seemännische Mitglieder der Stiftung Haus Seefahrt gehen. Dazu kommen 100 auswärtige Gäste. Ausgerichtet wird die Schaffermahlzeit jedes Jahr von drei neu gewählten Schaffern. Einer der derzeitigen drei ist Johann G. Smidt. Schon sein Ururgroßvater engagierte sich für das Sozialwerk. „Der Seefahrtshof hat eine sehr familiäre und freundschaftliche Atmosphäre“, schwärmt Smidt, der dort gerne vorbeischaut. Er schätzt die „sehr persönlichen Gespräche“. Für 2021 wurde die Schaffermahlzeit gerade wegen der Corona-Pandemie abgesagt. Normalerweise hat einen Tag später der Wappensaal in Grohn seinen großen Auftritt: Er bildet die Kulisse für das „Prövenermahl“. Dieses hat die gleiche Speisenfolge wie die Schaffermahlzeit. Eingeladen sind – wie der Name schon sagt – die Prövener. Auf Reden wird dort allerdings weitgehend verzichtet, nur die Kapitänsrede wird wiederholt.
Seefahrt stellte früher ein großes Risiko dar
Die Gründung von Haus Seefahrt ist auch mit der Reformation verbunden. „Damals war die Seefahrt noch ein großes Risiko, da kamen wenige Leute wieder“, berichtet Klaus Thormählen. Blieben die Männer auf See, kümmerte sich in Bremen traditionell die katholische Kirche mit Hilfe des in Schifffahrtskreisen erhobenen „Gottesgeldes“ um die Familien. „Nach der Reformation fühlte sich keine Religionsgemeinschaft mehr zuständig.“
Gründungsurkunde blieb erhalten
Die Bremer „Schiffergesellschaft“ sprang in die Bresche. 1545 gab der Rat der Hansestadt grünes Licht für die Gründung der Stiftung „Arme Seefahrt“. „Der ‚Pergamentene Brief‘, also die Gründungsurkunde, existiert heute noch, mit dem Siegel des Bremer Senats“, so Thormählen. Darin ist festgeschrieben, dass für das jährliche Festmahl kein Stiftungsvermögen vergeudet werden darf: „Ein jeglicher soll seinen Anpart aus seinem eigenen Beutel vergüten und bezahlen.“ Seit Mitte des 17. Jahrhunderts heißt das Festmahl „Schaffermahlzeit“, mittlerweile sitzen auch Frauen an der Tafel. Anfangs war der Sozialfonds eine reine Angelegenheit der Schiffer. Doch alsbald merkten sie, wie aufwändig die Verwaltung der Stiftung war. Schon 1561 holte die „Arme Seefahrt“ wohlhabende Herren aus der hanseatischen Kaufmannschaft mit ins Stiftungsboot und diese vermachten der Armen Seefahrt in Bremen ein Grundstück mit einem größeren Gebäude und einigen Hütten. Seither spricht man vom Haus Seefahrt. Das Sozialwerk stellte ab da den Prövenern nicht nur Geld zur Verfügung, sondern bot den Bedürftigen auch ein Dach über dem Kopf an, so wie aktuell Klaus Müller.
Das „Ausflaggen“ hat Folgen für die Seeleute
Dass auch heute noch Kapitäne in Not geraten, hat einen Grund: Aus Kostengründen lassen immer weniger deutsche Reeder ihre Flotte unter heimischer Flagge fahren. Das „Ausflaggen“ hat Auswirkungen auf das Altersruhegeld der deutschen Besatzungsmitglieder. Sie unterliegen dann nicht mehr der Deutschen Rentenversicherungspflicht. Weil manche Kapitäne die monatlichen Beiträge in die Rentenversicherung aus eigener Tasche freiwillig nicht einzahlen, schmälert sich ihr Altersruhegeld erheblich. Die fehlende Altersvorsorge wiederum macht sie im Alter bedürftig. Die Bremer Stiftung Haus Seefahrt lässt ehemalige Kapitäne und ihre Angehörigen daher auch künftig nicht allein.