Entspannte Herrscherin über 2500 PS

Die Kapitänin des Lotsenversetzbootes „Visurgis“
26. September 2020

Ein Beitrag von Wolfgang Heumer

Petra Müllensiefen fuhr mit einem Stückgutfrachter durch die Südsee und brachte Kreuzfahrtgäste in die Polarregionen. Nach 17 Jahren auf den Weltmeeren entschied sich die Nautikerin für den Landgang in Bremerhaven. Aber ohne Schiffe geht es nicht. Die 42-Jährige ist Kapitänin des Lotsenversetzbootes „Visurgis“. 

Es ist ein sonniger Tag. Unter dem leichten Wind aus Nordwest kräuselt sich das Wasser der Außenweser vor dem Container-Terminal Bremerhaven nicht mehr als auf einem Ententeich. Petra Müllensiefen sitzt so entspannt am Steuerrad der „Visurgis“ als lenke sie ein Freizeitfahrzeug durch das Fahrwasser. Doch das Lotsenversetzboot ist 20 Meter lang, 2.500 PS stark und soll jetzt an dem 200 Meter langen Autotransporter „Selene Leader“ längsseits gehen, um den Hafenlotsen darauf abzusetzen. Der Frachter will in den Hafen einlaufen und hat sein Tempo gedrosselt. Petra Müllensiefen muss ihr Boot mit gleicher Geschwindigkeit wenige Zentimeter von der Bordwand des Kolosses entfernt halten, damit der Lotse sicher auf die Jakobsleiter kommt. Ein Moment voller Konzentration – aber die Frau am Ruder lächelt entspannt. „Das müssen Sie mal erleben, wenn hier ordentlich Wind und Welle ist“, sagt sie und strahlt.

Die 42-jährige Petra Müllensiefen ist seit zwei Jahren Kapitänin auf dem Lotsenversetzboot „Visurgis“. © WFB/Jörg Sarbach

Kapitänin Petra Müllensiefen kommt aus einer Bergbaufamilie

Seit zwei Jahren ist dies der Alltag der 42-Jährigen – die gebürtige Marlerin ist eine von zwei Kapitäninnen, die im Schichtdienst das Versetzboot des Lotsenbetriebsvereins Bremerhaven führen. Versetzboote heißen sie, weil die Lotsen von einem Schiff zum anderen „versetzt“ werden.

Eine Frau aus einer Bochumer Bergbaufamilie am Steuer eines hochmodernen Spezialschiffes auf der Weser – das klingt exotisch. „Natürlich hätten sich meine Eltern gefreut, wenn ich auch irgendwas mit Bergbau gemacht hätte“, sagt sie. Doch Mitte der 1990er Jahre war mit dem schwarzen Gold kaum noch Kohle zu machen. Zudem hatten gelegentliche Segeltouren sie für die Welt auf dem Wasser begeistert.


Nach dem Abitur gleich zur See gefahren

Als Petra Müllensiefen ihr Abitur in der Tasche hatte, machte sie bei einer Reederei ein sechsmonatiges Praktikum an Bord eines Containerschiffes. „Schlimmstenfalls hätte das damit enden können, dass die Seefahrt doch nichts für mich ist“, erinnert sie sich an ihre damaligen Überlegungen. Doch ihre Entscheidung erwies sich als richtig, sie studierte Nautik an der Fachhochschule in Elsfleth. Dass sie die Ausbildung als Diplom-Ingenieurin für Seeverkehr abschloss, freute den Vater dann doch: „Immerhin war ich nun Ingenieur genau wie er, nur eben nicht im Bergbau.“


Lotsen zu versetzen, ist kein Kinderspiel

Während sie über ihren Berufsstart erzählt, steuert Petra Müllensiefen die „Visurgis“ von der Außenseite des Autotransporters zurück ins Fahrwasser der Weser. Dabei lässt sie sich keinen Moment durch das Gespräch mit dem Besucher an Bord ablenken. Dabei ist es selbst an Tagen mit solch entspannter Wetterlage kein Kinderspiel, die Losten zu sowie von den zu betreuenden Schiffen zu fahren. „Man muss auf den fahrenden Verkehr achten; es gibt Strömungen, bei starkem Wind kann sich hier eine hohe Welle aufbauen. Und bei schlechter Sicht wird alles noch komplizierter“, gibt Petra Müllensiefen einen schnellen Überblick über ihre komplexe Arbeit. Und jedes anzusteuernde Schiff verhält sich anders.


Hafenlotsen sind revierkundige Nautiker

Hafenlotsen sind revierkundige Nautiker. Ohne ihre Beratung an Bord der Containerschiffe, Autotransporter, Kreuzfahrtschiffe oder Fischereifahrzeuge, die von der Nordsee zum Bremerhavener Überseehafen wollen – oder von dort wieder zurück – geht nichts. Sie kennen die Untiefen links und rechts des Fahrwassers und den sicheren Weg durch den Hafen, auch stellen sie die Verbindung zwischen Schiff und Land her. Kapitänin Petra Müllensiefen holt die Lotsen im Vorhafen der Nordschleuse ab und setzt sie bei der Rückkehr dort wieder an Land.


Die Temperaturen in den Tropen lagen Müllensiefen nicht

Sieben Jahre lang war sie mit Stück- und Schwergutfrachtern unterwegs. Sie versorgte Inseln in der Südsee, brachte Schwergut in entlegene Häfen, lernte die Welt kennen. In dieser so genannten Trampfahrt reisen die Schiffe nicht nach festem Fahrplan, sondern dorthin, wo sie gerade benötigt werden. Die Häfen sind kleiner, der Aufenthalt dort länger als in der Containerfahrt: „Nach dem Studium habe ich mich bewusst für die Arbeit auf Stück- und Schwergutschiffen entschieden“, sagt sie, „ich wollte immer auf kleinen Schiffen fahren.“ Allerdings lagen ihr die Temperaturen in den Tropen nicht so sehr: „Ich mag lieber das Nordische und die Kälte.“

Petra Müllensiefen muss ihr Boot dicht an der Bordwand des Kolosses halten, damit der Lotse sicher auf die Jakobsleiter kommt. © WFB/Jörg Sarbach

„Meine Lieblingsreisen waren die in die Polarregionen“

Bei ihrem nächsten Job als leitende Offizierin – offizielle Bezeichnung Staff-Kapitänin – auf dem Kreuzfahrtschiff „Bremen“ fand sie die ideale Kombination: „Meine Lieblingsreisen waren die in die Polarregionen“, erzählt sie und berichtet so lebhaft, als sei sie noch heute mit dem Schlauchboot zwischen Seelöwen, Pinguinen oder – in sicherer Entfernung – bei den Eisbären zu Besuch. Petra Müllensiefen gehört zweifelsfrei zu den Menschen, die von sich sagen können: „Ich habe die Welt gesehen.“ Doch die zunehmende Bürokratie auf der Schiffsbrücke schmälerte irgendwann die Faszination der Ferne. Zudem blieb im Bordalltag wenig Raum für ihre Hobbys wie Yoga, Nähen und „einfach kreativ sein“. Petra Müllensiefen entschied sich zum Landgang – aber eben nicht ganz.


„Hier gibt es keine Routine“

Die längste Fahrt, die sie heute mit der „Visurgis“ macht, ist nur rund 50 Kilometer von Bremerhaven zur schwimmenden Lotsenstation in der Deutschen Bucht. Meistens spielt sich das Geschehen sogar nur vor der fünf Kilometer langen Stromkaje des Container-Terminals Bremerhaven ab. Aber neben Umsicht und Verantwortungsbewusstsein sind in ihrem Revier nautisches Fachwissen und Geschicklichkeit mindestens genauso gefragt wie auf der Großen Fahrt auf den Weltmeeren: „Hier gibt es keine Routine, und als Kapitänin ist man den ganzen Tag gefordert.“


Kapitänin und Matrose sind ein eingespieltes Team

Petra Müllensiefen und Matrose Kai Klamka sind ein eingespieltes Team. Handzeichen genügen beim An- und Ablegemanöver zur Verständigung. Auch sonst wird nicht viel geredet an Bord. „Ich muss mal gerade auf den Einsatzplan schauen“, unterbricht die Kapitänin die Schilderung ihres bisherigen Berufslebens. „Hab‘ ich im Blick“, meldet sich Klamka vom Arbeitstisch im hinteren Teil der Kabine. Wichtig sei, dass man sich versteht, sagt Müllensiefen: „Als Kapitän oder Kapitänin muss man sich nicht laut Respekt verschaffen. Wenn man richtig miteinander umgeht, bekommt man ihn von allein.“ Gearbeitet wird in Zwölf-Stunden-Diensten und in Wechselschichten. Der wesentliche Unterschied zur Fracht- oder Passagierschifffahrt: „Nach Feierabend ist man im eigenen Zuhause; man kann Freunde treffen und Freundschaften pflegen.“

Zu ihren Freundinnen zählen zwei ehemalige Kolleginnen vom Kreuzfahrtschiff, die zur gleichen Zeit wie sie nach Bremerhaven gezogen sind. Das macht deutlich: Nautikerinnen sind nicht mehr so selten wie häufig vermutet. In ihrem Jahrgang an der Fachhochschule studierten fünf Frauen. „Auf der Brücke der „Bremen“ waren wir zweitweise drei Frauen und nur ein Mann“ erinnert sich Petra Müllensiefen.


„Es war an der Zeit für eigene Zimmerpflanzen“

Die Zeit auf der inzwischen verkauften „Bremen“ hat sie geprägt. „Man trifft bis heute immer wieder Leute, egal ob Passagiere oder Besatzungsmitglieder, die das Schiff geliebt haben“, freut sich Petra Müllensiefen. Aber man soll aufhören, wenn es am schönsten ist: „Es war an der Zeit für eigene Zimmerpflanzen“, lacht Petra Müllensiefen. Dass sie durch die Arbeit auf dem Lotsenversetzboot der Schifffahrt so eng verbunden bleiben würde, hatte sie dabei gar nicht erwartet. „Das ist doch perfekt.“ Und selbst auf die Eisbären, die sie mit der „Bremen“ so gerne besucht hat, braucht sie nicht zu verzichten: „Dann gehe ich einfach mal hier in den Zoo am Meer.“

Petra Müllensiefen ist eine von zwei Lotsinnen in Bremerhaven. Sie ist lange auf den Weltmeeren unterwesen, doch irgendwann sei es Zeit gewesen „für eigene Zimmerpflanzen“, sagt sie. © WFB/Jörg Sarbach