Der Deichhauptmann

Michael Schirmer schützt Bremen vor den Fluten
8. Januar 2021

Ein Beitrag von Wolfgang Heumer


Es ist eine Zahl, die jeder Bremerin und jedem Bremer den Schlaf rauben könnte. „86 Prozent der Fläche des Landes Bremen liegen so tief, dass sie bei einem Extremhochwasser und Deichversagen versinken könnten“, sagt Dr. Michael Schirmer. Weil die Zahl für sich noch etwas theoretisch klingt, hat der 76-Jährige ein praktisches Beispiel parat. Als bei der Sturmflut am 9. November 2007 der Pegel der Weser mehr als fünf Meter über Normal stieg, „hätten jenseits der Altstadt bei manchen Häusern nur noch die Dächer aus dem Wasser geschaut.“ Wenn denn der Deich nicht wäre. Dass Schirmer dies unaufgeregt sagt, hat einen Hintergrund: „Keiner in der Stadt muss sich Sorgen machen“, betont er mit sonorer Stimme: „Nach menschlichem Ermessen halten die Deiche.“ Kaum jemand dürfte es besser wissen, als der frühere Hochschullehrer für Gewässerökologie der Universität Bremen. Als Deichhauptmann trägt er seit 16 Jahren die Verantwortung für den intakten Hochwasserschutz am rechten Weserufer und damit den größten Teil der Hansestadt.


Vor der Sturmflutsaison ein letztes Mal die Deiche kontrollieren

Der Deichhauptmann muss gut zu Fuß sein. Mit dem Herbst beginnt in Bremen die Zeit der so genannten Deichschauen. Vor der Sturmflutsaison kontrollieren die Fachleute ein letztes Mal den Deich auf mögliche Schäden. Insgesamt 98 Kilometer müssen Schirmer und sein Team absolvieren. Ein langer Marsch, aber auch ein interessanter: „Man kommt in Gegenden, die sonst kaum jemand betreten darf“, sagt Schirmer. Schließlich gehören nicht nur die öffentlich zugänglichen Gründeiche, sondern auch die gesamte Hochwasserschutzanlage im Hafen sowie beispielsweise auf dem Gelände der Stahlwerke Bremen zum Zuständigkeitsbereich. Doch Schirmer richtet nur gelegentlich den Blick in die Ferne; zumeist ist sein Blick gen Boden gesenkt, während er flott in sechs Abschnitten den Weg entlang der Weser von der südlichen bis zur nördlichen Stadtgrenze abschreitet. „Das wird genau protokolliert“, erläutert Schirmer. Sicher ist sicher.


Hochwasserschutz ist in Bremen eine Gemeinschaftsaufgabe

Deichhauptmann – das klingt militärisch, ist es aber längst nicht. Schirmer gibt keine Kommandos; bei Sturmfluten rennt er auch nicht rastlos nach dem Vorbild des Schimmelreiters über den Schutzwall. Er ist im Ehrenamt Vorsteher des „Bremischen Deichverbandes am rechten Weserufer“. Die tägliche Arbeit und den Einsatz bei einer Sturmflut leitet der Geschäftsführer. Auch auf der linken Weserseite gibt es einen solchen Verband. Angesichts seiner hohen Bedeutung ist der Hochwasserschutz für Bremen eine Gemeinschaftsaufgabe, die Deichverbände sind Körperschaften öffentlichen Rechts. Finanziert werden sie von den rund 90.000 Grundeigentümerinnen und -eigentümern in der Stadt, die derzeit 0,7 Promille des Grundsteuerbemessungsbetrages für den Unterhalt der Deiche aufbringen. Rund vier Millionen Euro kommen so jährlich zusammen. „Offensichtlich wissen die Bremerinnen und Bremer, dass dieses Geld gut angelegt ist“, meint Schirmer, „es hat sich schon lange niemand mehr über diese Abgabe beklagt.“ Schon vor langer Zeit hat der Bremer Senat den Deichunterhalt auch in Bremen-Nord und das Lesumsperrwerk dem Verband übertragen: „Nur die Investitionen in den Ausbau des Hochwasserschutzes werden vom Land und vom Bund bezahlt“, erläutert Schirmer.

Im Herbst begutachten Deichhauptmann Michael Schirmer und sein Team die Bremer Deiche auf Schäden. Diese könnten gefährlich werden für die Deichsicherheit. © Jörg Sarbach

Bis ins 19. Jahrhundert kam die Hochwassergefahr aus dem Binnenland

Die althergebrachte Amtsbezeichnung „Deichhauptmann“ entspricht der langen Geschichte, die Deichbau und Hochwasserschutz in Bremen haben. Bereits im Mittelalter suchten die Menschen in der Hansestadt hinter Wällen aus Sand und Klei Schutz vor den Fluten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kam die Gefahr aber nicht aus Richtung Nordsee, sondern aus dem Binnenland in Folge schwerer Regenfälle oder großer Schneeschmelzen. Seinerzeit waren die Deiche längst nicht so massiv wie heute – mit dramatischen Folgen: „Beim schweren Hochwasser 1880/81 standen weite Teile des heutigen Stadtgebiets monatelang unter Wasser“, weiß Schirmer. Seit der Weserkorrektion von 1887 bis 1895 – der ersten großen Fahrwasservertiefung zwischen Nordsee und Bremen –kommt die Gefahr aus der Gegenrichtung. Bei jedem Sturm aus nordwestlicher Richtung wird das Wasser vom Meer die Weser hochgedrückt. Nach zahlreichen weiteren Vertiefungen liegt der Unterschied zwischen Niedrig- und Hochwasser im Stadtgebiet Bremen heute bei 4,20 Meter. Bis ins 19. Jahrhundert waren es 20 bis 30 Zentimeter „Das ist der höchste Tidehub an der gesamten deutschen Küste“, betont Schirmer. Zum Vergleich: In Höhe Bremerhaven liegt der Wert noch bei 3,80 Meter. Zugleich hat sich die Strömungsgeschwindigkeit deutlich erhöht: „Das führt zu einer verstärkten Erosion am Deichfuß“, sagt Schirmer. Eindringlich warnt der Deichverband deswegen immer wieder vor weiteren Fahrwasservertiefungen.


Bisam und Nutria graben ofenrohrdicke Gänge in den Deich

Die Folgen binden mittlerweile erhebliche Kräfte des Deichverbandes. Ganzjährig sind 52 Beschäftigte mit einem großen Maschinenpark für den laufenden Unterhalt im Einsatz. Deiche bestehen im Kern aus einem großen Sandwall, der an der Oberfläche mit einer Kleischicht buchstäblich abgedichtet und zusätzlich mit einer Schutzschicht aus Gras und Kräutern befestigt ist. Doch immer wieder entstehen Löcher im System. Neben buddelnden Hunden verursachen Bisame und Nutrias, auch Biberraten genannt, die schwersten Schäden. „Sie graben ofenrohrdicke Gänge und große Höhlen“, berichtet der Deichhauptmann. Die Tiere erschweren zudem die Pflege der über mehr als 600 Kilometer Wasserläufe zwischen Stadt und Deich.


Klimawandel zwingt zu verstärktem Hochwasserschutz

Neben seinem Engagement bringt Schirmer auch fachlich die besten Voraussetzungen für seinen Job mit. Er ist promovierter Hydrobiologe, kennt sich mit dem Lebensraum Wasser bestens aus. 1976 übernahm er den Lehrstuhl für Gewässerökologie an der Universität Bremen. Nach 35 Jahren in Forschung und Lehre ging er in den Ruhestand. Bereits zu aktiven Zeiten arbeitete er als Wissenschaftler für den Deichschutz in Bremen. 1986 trat er dem Deichverband bei, wurde 2001 in den Vorstand gewählt und drei Jahre später Verbandsvorsteher und damit Deichhauptmann.

Schirmer ist im Ehrenamt Vorsteher des „Bremischen Deichverbandes am rechten Weserufer“. Angesichts seiner hohen Bedeutung ist der Hochwasserschutz für Bremen eine Gemeinschaftsaufgabe. © Jörg Sarbach

Als Wissenschaftler betrachtet er ein weiteres Hochwasserrisiko mit großer Sorge: „Der Klimawandel führt zu einem sehr viel schnelleren Ansteigen des Meeresspiegels als lange Zeit angenommen wurde.“ In der Folge müssen die Deiche immer weiter verstärkt werden; mittlerweile haben sie bereits eine durchschnittliche Höhe von sieben bis acht Metern und am Deichfuß eine Breite von bis zu 100 Metern. Sicherlich lassen sich die Schutzanlagen noch weiter erhöhen und verstärken, ist Schirmer überzeugt: „Aber weil wir immer nur im Sommer am Deich arbeiten können, braucht das seine Zeit.“ Mehr als 20 Jahre vergehen, bis ein solches Vorhaben komplett abgeschlossen ist.

Seine Arbeit betrachtet der Deichhauptmann vor diesem Hintergrund auch als eine Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit: „Die Deichverbände sind vielleicht die wichtigste Institution für Bremen überhaupt.“ Diese Überzeugung beruht auf eigenem Erleben. Schirmer ist gebürtiger Hamburger. Dass bei der schweren Sturmflut am 16. Februar 1962 an der Elbe die Deiche brachen und mehrere 100 Menschen ertranken, wird er nie vergessen. An dem Tag wollte er eigentlich seinen 18. Geburtstag feiern.

Deiche bestehen im Kern aus einem großen Sandwall, der an der Oberfläche mit einer Kleischicht abgedichtet und zusätzlich mit einer Schutzschicht aus Gras befestigt ist. Neben buddelnden Hunden verursachen Bisame und Nutrias die schwersten Schäden. © Jörg Sarbach