Sabrina Reuter und Michael Engelbrecht

Sabrina Reuter (Unternehmensberaterin) und Michael Engelbrecht (Historiker)

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104 Jahre Estland

Europäische Küche in einer Nussschale
28. Februar 2022

Estland ist geprägt durch 3.700 Kilometer Küstenlinie, 50% Wald und viele Moore, über 1000 kleine Seen und einer durch seine Geschichte geprägte Küche. Zu Estlands 100. Geburtstag schaute sich unser Autoren-Duo das Land im Baltikum genauer an. Der Artikel erschien erstmals im Februar 2018. 

Wenn man mit der deutschen Brille auf die östliche Küste der Ostsee schaut, sieht man das Baltikum. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich große Unterschiede zwischen den drei ansässigen Staaten. Das am südlichsten gelegene Litauen ist durch Geschichte, Kultur und Religion nach Polen orientiert. Lettland in der Mitte, mit seiner westlich anmutenden Hauptstadt Riga ist typisch mitteleuropäisch. Estland dagegen ist ein nordeuropäisch geprägter Staat. Vor wohl über 5.000 Jahren wanderten dort die finno-ugrischen Esten ein und besiedelten die Region zwischen Finnischem Meerbusen, Peipussee, den Ostseeinseln Dagö und Ösel und der Rigaer Bucht. Das Land ist geprägt durch 3.700 Kilometer Küstenlinie, 50% Wald und viele Moore und über 1000 kleine Seen.

Durch seine Schlüsselstellung für Handelswege nach Osten und nach Norden geriet es in den Fokus der verschiedensten Mächte. Im 12. und 13. Jahrhundert stand das Gebiet unter dänischem Einfluss, so bedeutet der Name der Hauptstadt Tallinn dänische Burg. Nach den Dänen kamen deutsche Ritter ins Land und blieben bis in die Neuzeit, damit war Estland ein Teil des Deutschen Ordenstaates. Tallinn hieß nun Reval und war eine bedeutende Hansestadt. In dieser Zeit bildete sich eine deutschgeprägte adlige Oberschicht, die bis ins 20.Jahrhundert hinein die mächtigste Bevölkerungsgruppe darstellte. Im 17. Jahrhundert war die gesamte Region Teil der schwedischen Großmacht und 100 Jahre später übernahm das Zarenreich das Baltikum und damit auch Estland.

Erst 1918, in Folge des Ersten Weltkrieges und der Russischen Revolution, konnten die Esten am 24. Februar eine eigene Republik ausrufen, die in der Folgezeit allerdings ständigen Konflikten mit dem östlichen Nachbarn Sowjetunion ausgesetzt war. Es folgte die deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg und schließlich die Okkupation als Teil der UdSSR bis 1991. Erst seitdem ist Estland wieder frei und unabhängig.

Die Esten stellen in diesem Land die größte Bevölkerungsgruppe mit fast 70%, ihre Sprache ist eng mit dem Finnischen verwandt und prägende Religion war und ist der Protestantismus. Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden durch die systematische Ansiedlungspolitik der Besatzer mit 25% die Russen. Die deutschgeprägte Adelsschicht, auch als Deutschbalten bezeichnet, verschwand endgültig mit dem Zweiten Weltkrieg.

© Sabrina Reuter & Michael Engelbrecht

Kartoffeln, Sauerkraut, Schweinefleisch

In der estnischen Nationalküche finden sich diese geschichtlichen und kulturellen Entwicklungen in vielen Gerichten wieder. Aus der deutschen Küche sind die Kartoffeln, Sauerkraut und Schweinefleisch hängengeblieben. Die Blutwürste, die zusammen mit dem Sauerkraut ein Teil des Weihnachtsgerichts sind, erinnern stark an die finnische Mustamakkara und werden auch teilweise wie diese mit Preiselbeeren gegessen. Dazu kommen zahlreiche Fischgerichte wie in der skandinavischen Küche.

Die russische Besetzung hat ihre Spuren zum Beispiel im Schaschlik als beliebtes Grillgut hinterlassen. Die estnische Küche selbst hat ihre eigene kulturelle Prägung, die die Esten erst spät im 19. Jahrhundert mit Sprache und Volkskunst entdeckten, durch die vielen Wälder und Moore bekommen. Pilze und Beeren sind ein wichtiger Bestandteil der Sommer- und Herbstgerichte und das agrarische Leben als Kleinbauern und Gesinde auf den deutschbaltischen Gütern wird durch die zahlreichen Milchprodukte deutlich. Auch bei den Getränken sind deutsche und russische Wurzeln zu erkennen. Im Land werden sehr guter Wodka und hervorragendes Bier produziert. Typisch estnisch sind die dafür kunstvoll verzierten Holzkrüge, die so genannten Ollekannut. Ein weiteres Merkmal der heimischen Küche ist übrigens der sparsame Umgang mit Gewürzen, der alle Speisen sehr mild erscheinen lässt.

Seit der erneuten Selbstständigkeit hat sich Estland auch dank der vielen zurückkehrenden Exulanten aus vielen Ländern zu einer modernen weltoffenen Nation entwickelt. Dies ist nicht nur auf dem herausragenden Gebiet der IT zu merken, sondern auch an zahlreichen hervorragenden Restaurants in der Hauptstadt Tallinn und in der Universitätsstadt Tartu mit Einflüssen aus ganz Europa. Besonders empfehlen sich für Estlandinteressierte aber Gerichte mit Produkten des Waldes, denn der ist für die Esten ihr ureigenstes Refugium. Schon im Nationalepos Kalevipoeg beginnt alles mit einem Birkhuhnei. Die Widerstandskämpfer während der Besatzung wurden Waldbrüder genannt. Und schließlich schrieb der weltberühmte estnische Komponist Arvo Pärt eine musikalische Lobpreisung für einen Baum auf den Text der ebenfalls estnischen Dichterin Viivi Luik.

© Sabrina Reuter & Michael Engelbrecht