Ein Beitrag von Levi Henriksen
Übersetzt von Gabriele Haefs
Ich weine immer am 17. Mai. Ich weiß nicht so ganz, warum. Vielleicht hat es ein wenig mit den guten Anzügen, den endlosen Festprozessionen und den nassen Trachten zu tun. Dem Gefühl, zum Norwegischsein gezwungen zu werden. Der amerikanische Nationalfeiertag ist etwas ganz anderes. Ich bin unterwegs nach Coney Island und zur Weltmeisterschaft im Wurstessen.

New York City wurde an den letzten Tagen von einer Hitzewelle getroffen, und deshalb haben die Behörden der Bevölkerung (allen, die über sechzehn sind) erlaubt, die Hydranten aufzudrehen, um sich in den glühendheißen Straßen eine ersehnte Abkühlung zu verpassen. Wenn wir unseren Nationalfeiertag im Juli bei dreißig Grad über null begingen, hätte der Tag dann immer noch dieselbe Prägung von Feierlichkeit? Und muss die überhaupt sein? Plötzlich ist es befreiend, verschont zu sein von Fernsehreportern mit tränenfeuchten Augen, die von Kirkenær bis Kirkenes wiederholen, dass Norwegen seinen Nationalfeiertag immer schon mit einem Festzug für Kinder statt mit einer Militärparade gefeiert hat. Ich habe unseren Nationalfeiertag zweimal in Amerika begangen. Beide Male in Alaska, und beim zweiten Mal haben die Feiern vier Tage gedauert und der eigentliche 17. Mai fand am 16. Statt, aber egal. Jetzt geht es um Amerika, und nicht zuletzt um Americanus spielensis, den spielenden Amerikaner.
Wurstessen WM
Doch natürlich ist die WM im Würstchenessen kein Spiel, das ist immer so beim Spitzensport. Es geht darum, in Hochform zu sein, der Beste, wenn es darauf ankommt. Der Bürgermeister, Michael Blomberg, beschreibt die Bedeutung des Wettbewerbs so: „Egal, ob du Republikaner, Demokrat oder unabhängig bist wie ich, egal, ob du zu den New York Yankees oder den New York Mets hältst, auf eins können wir uns alle einigen: Es ist ein großes Privileg, amerikanisch zu sein! Das hier ist ein Land, das mich stolz macht!“ Der Bürgermeister erntet gewaltigen Applaus, der in der sengenden Sonne fast die vereinzelten Rufe übertönt, Bloomberg eine 17 ounce große Limo zu bringen. New Yorks starker Mann spricht sich nämlich für den Vorschlag aus, als erste Stadt im ganzen Land, zu verbieten, dass zum Beispiel in Kinos, bei Sportveranstaltungen, in Theatern Erfrischungsgetränke verkauft werden, die größer sind als 16 ounces (etwa ein halber Liter). Ein Vorschlag, der als Maßnahme gegen die Verfettungsepidemie gedacht war, die im Land wütet, der aber natürlich von vielen Amerikanern – Republikanern, Demokraten und Unabhängigen – als Angriff auf ihre verfassungsmäßige persönliche Freiheit aufgefasst wird. Aber an einem Tag wie heute können die meisten solche Meinungsverschiedenheiten ruhen lassen, frei nach John F. Kennedy: Ich bin ein Amerikaner. Ja, heute sind wir alle Amerikaner, oder genauer gesagt, Würstchenesser.
Die schwarze Witwe
Kritische Stimmen können es natürlich als leichten Widerspruch bezeichnen, dass der Bürgermeister den Verkauf von großen Erfrischungsgetränken untersagen will, während er zugleich ein begeisterter Verteidiger der WM im Würstchenessen ist. Aber hier ist eben die Rede von Sport, und alle Aktiven beiderlei Geschlechts sind dünn und athletisch. Die Favoritin bei den Frauen, Sonya Thomas, ist eine schmächtige, asiatisch aussehende Frau, die wie ihre Konkurrentinnen auch beim Hindernisrennen auflaufen könnte. Thomas hat den Spitznamen die schwarze Witwe, tritt hier als Titelverteidigerin an und hat vorher versprochen, so viele Würstchen zu essen, wie sie Jahre zählt, mit anderen Worten, fünfundvierzig. Was ihr ohne größere Probleme gelingt, und nachdem sie ihren Titel verteidigt und einen neuen Weltrekord aufgestellt hat, wird sie, in eine amerikanische Flagge gehüllt, in die jubelnde Menschenmenge hinausgetragen.
Trotz des Jubels, wie bei Fußball, Boxen und Skilaufen, ist es auch beim Würstchenessen so, dass die Teilnehmer in der Männersparte einwandfrei die größere Aufmerksamkeit genießen, und der größte Star von allen ist Joey Chestnut aus San Jose, California.

Extrawürstchen
Zum ersten Mal bin ich 2007 auf seinen Namen gestoßen, als ich einige Monate in Amerika verbrachte, um das Buch „Der Mann aus Montana“ zu schreiben. Damals war Takeru Kobayashi der große Name im Würstchenessen, er hatte den Wettbewerb sechs Jahre hintereinander gewonnen. Vor der Meisterschaft 2007 behauptete der Japaner allerdings, sich beim Training eine schwerwiegende Kieferverletzung zugezogen zu haben und nur mit Mühe den Mund aufmachen zu können. Manche meinten, das sei alles nur vorgeschoben und ein Versuch, den Erwartungsdruck zu verringern. Egal wie, in diesem Jahr schaffte Kobayashi nur dreiundsechzig Würstchen. Das waren drei weniger als Chestnut, der seither seinen Titel jedes Jahr verteidigen konnte. Am spannendsten war es 2008, als eine zweite Runde geben musste. Kobayashi und Chestnut schafften im Laufe der Verlängerungszeit jeder neunundfünfzig Würstchen, doch beim Gegenstück zum golden goal oder sudden death war der Amerikaner schneller, als es darum ging, sich die fünf Extrawürstchen einzuverleiben. Kobayashi ist seit damals zu einer etwas umstrittenen Figur in der Würstchenszene geworden, und in diesem Jahr – wie in den beiden vorhergehenden – ist er aufgrund von Vertragsproblemen mit der Major Eating League vom Wettbewerb ausgeschlossen. Was übrigens den Gipfel erreichte, als er festgenommen wurde, bei dem Versuch, nach Chestnuts Sieg auf das Podium zu klettern. Seinem angeschlagenen Ruf zum Trotz kann niemand dem Bad Boy des Würstchenessens nehmen, dass er mit neunundsechzig innerhalb von zehn Minuten verzehrten Würstchen noch immer der Inhaber des Weltrekords ist.
Den Rhythmus finden
Als es losgeht, kann man einwenden, dass der Japaner fehlt, und dass seine Teilnahme zu einem spannenderen Wettbewerb führen würde (später erfahre ich, dass er am selben Tag bei einem Wettbewerb in Brooklyn neunundsechzig Würstchen geschafft hat). Solche Gedanken verschwinden aber sofort, denn Chestnut ist absolut kein Northug. Er klammert sich nicht an den Rücken seines Rivalen, startet kein arrogantes Katz-und-Mausspiel, sondern stürmt im wahrsten Sinne des Wortes schon beim ersten Würstchen los. Es ist nicht schön, es hat nichts mit Muhammed Alis Mantra zu tun. Nicht hier erinnert daran, wie ein Schmetterling zu schweben und wie eine Biene zu stechen. Chestnut schnappt so effektiv zu wie ein Hai und macht seinem Spitznamen Jaws alle Ehre. „Rhythmus“, hat Chestnut vorher gesagt, „es geht nur darum, den Rhythmus zu finden. Wenn der sitzt und du alles andere ausschalten kannst, geht der Rest ganz von selbst.“
Vorher habe ich gelesen, dass Kobayashi bei Wettbewerben zur sogenannten Solomon-Methode greift, also, dass er die Würstchen mitsamt dem Brot in zwei Teile bricht und dann beide in den Mund steckt. Der Japaner bereitet sich auf Wettbewerbe auch vor, indem er versucht, seinen Magen an so viel Nahrung wie möglich zu gewöhnen, während Chestnut sich an den Tagen vor der Meisterschaft vor allem flüssig ernährt. Ich weiß nicht, zu welchet Methode der Amerikaner dann beim Essen greift, aber seine Vorbereitungen scheinen sich bezahlt zu machen. Er führt überlegen, und nach zwei Minuten hat er bereits vierundzwanzig Würstchen erledigt, fünf oder sechs mehr als die nächsten Konkurrenten.
Chestnut und die anderen werfen Würstchen auf eine Weise ein, die mich an Schlittenhunde nach einem ganzen Tag ohne Futter erinnert. Dieser ganze Wettbewerb hat ganz einfach etwas wunderbar Amerikanisches. Etwas, das mich an Ignatius J. Reilly denken lässt, die Hauptperson in John Kennedy Tooles Roman „Die Verschwörung der Idioten“. Ein Roman, der erst zehn Jahre nach dem Tod des Autors erschien und im folgenden Jahr mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Ignatius J. Reilly ist ein Renaissancemensch, der auf seine Weise versucht, den amerikanischen Traum in Erfüllung gehen zu lassen, und zwar durch eine Reihe von mehr oder weniger glücklichen Ideen, und der in einer besonders unvergesslichen Szene aus seinem Job als Würstchenverkäufer in New Orleans gefeuert wird, nachdem er sich an seinen eigenen Verkaufswaren überfressen hat.
Es ist übrigens nicht ganz richtig zu behaupten, alle Teilnehmer in der Herrensparte seien athletisch. Die Ausnahme ist der Rapper Eric „Badlands“ Booker, aber der liegt weit zurück hinter Chestnut und dessen beiden heftigsten Konkurrenten, Tim Janes und Patrick Bertoletti. Badlands Booker ist übrigens der einzige Farbige hier bei diesem Wettbewerb, was mit aller Deutlichkeit beweist, dass in diesem Sport die Weißen dominieren.

Blitzkrieg bop
Vier Minuten. „Blitzkrieg bop“ mit den Ramones donnert aus den Lautsprechern, und mehreren der Mitwirkenden ist jetzt die Anstrengung anzumerken. Es sind über fünfunddreißig Grad, und der Schweiß strömt über die Gesichter der Athleten wie Tränen. Ich denke an alle Vorbereitungen, die hinter diesen Leistungen liegen, und kann plötzlich George Washington vor mir sehen, wie er im Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten den Potomac überquert, Davy Crockett, der, nachdem ihm die Kugeln ausgegangen sind, bei der Verteidigung von Alamo das Gewehr wie eine Keule über seinem Kopf schwenkt, oder Abraham Lincoln, der vor Gettysburg seine Rede hält. Chestnut isst, als gälte es sein Leben. Vierzig Würstchen. Der Schweiß fließt in Strömen, und auf dem Großbildschirm kann ich deutlich sehen, dass die Adern an seiner Stirn hervortreten wie die von Usain Bolt auf dem Startblock. Ich kann Leiden sehen, ich kann Schmerz sehen, ich kann Konzentration sehen, aber ich kann auch Überlegenheit sehen. Dieselben spielerischen Meisterfähigkeiten wie bei Jesse Owens, als er bei den Olympischen Spielen 1935 den arischen Athleten davonrannte. Fünfzig Würstchen. Fünfundfünfzig. Sechzig. Um mich herum wird rückwärts gezählt, wie jeden Silvesterabend auf dem Times Square. Einundsechzig Würstchen. Zweiundsechzig. Dreiundsechzig. Es bleibt weniger als eine Minute. Man kann Chestnut deutlich ansehen, dass Milchsäure und Magensäure sich jetzt mehr als nur ein wenig geltend machen. 3-2-1. Siebenundsechzig Würstchen. Achtundsechzig! Joey Chestnut schafft achtundsechzig Würstchen, und ich habe einen neuen Lieblingssport, neben Fußball und Skispringen. Als Chestnut die Faust auf eine Weise hebt, die mich an Tommy Carlos erinnert, als der bei den Olympischen Spielen 1969 in Mexiko den Sieg über zweihundert Meter davongetragen hatte, muss ich, wie am 17. Mai, ein Tränchen zerdrücken.
Als wahrer Sportsmann spendet Chestnut den senfgelben Siegergürtel für einen guten Zweck, und als ich Coney Island verlasse, hat auf der großen Meisterschaftstafel vor Nathan’s Hot Dogs bereits der Countdown zur nächsten Weltmeisterschaft eingesetzt, noch 364 Tage, 22 Stunden, 12 Minuten und 57 Sekunden. Ich freue mich schon jetzt.

Über Levi Henriksen
Levi Henriksen, geboren 1964, ist Autor, Journalist und Musiker. Sein Debütroman ›Bleich wie der Schnee‹ (Droemer Knaur 2005) wurde von Norwegens Buchhändler:innen zum Lieblingsbuch des Jahres gewählt. Mit seinen schrägen Kurzgeschichten zur Weihnachtszeit feiert er seit Jahren Triumphe. ›Home for Christmas‹ (btb 2011) wurde vom norwegischen Kult-Regisseur Bent Hamer verfilmt. Zuletzt erschienen ›Astrids Plan vom großen Glück‹ (dtv 2014) und ›Wer die Goldkehlchen stört‹ (btb 2018).
Der neuste Roman von Levi Henriksen erschien im Kröner Verlag: Zwölf Wörter von Oskar Maier. Übersetzt von Gabriele Haefs. Zum Buch.