Von wegen letzte Ruhe

Auf dem Riensberger Friedhof wird mit Christine Renken Geschichte lebendig
5. August 2023

Ein Beitrag von Imke Zimmermann

Ein verhangener Samstagnachmittag, eine kleine Gruppe steht vor dem stillgelegten Krematorium des Riensberger Friedhofs. Über dem Eingangstor des klassizistischen Baus, das längst als Kolumbarium genutzt wird, blickt ein Engel grimmig auf die Besucher. Der unter Denkmalschutz stehende Friedhof von 1875 zählt nicht nur zu den ältesten in Bremen, sondern auch zu den ersten Parkfriedhöfen in Deutschland. Er ist für viele Bremerinnen und Bremer der spannendste – wegen der vielen bekannten Persönlichkeiten, die hier bestattet sind. Schauspielerin Christine Renken vom Theater Interaktiwo kennt unzählige Geschichten über sie und ihre Gräber. Die 54-Jährige führt regelmäßig in der Rolle des „Hein Looper“ zu den Stätten der Erinnerung. So wie auch an diesem Tag. „Friedhöfe sind ja immer spannend“, sagt sie trocken.


„Mich interessieren die etwas anderen Themen“

„Looper“ – so heißen Bremer Fremdenführer auf Platt. Früher war Renken beim Niederdeutschen Ernst Waldau Theater in Bremen beschäftigt. Nach dessen Ende Mitte der 2000er-Jahre machte sie sich selbstständig. Seither bietet sie neben Stadtmusikanten-Theater, Vorträgen oder Talkshows auch ebenso kenntnisreiche wie launige Friedhofsführungen an. Damals die erste in der Hansestadt, hat sie heute einige Konkurrenz in dem Bereich. Renken begegnet dem mit Originalität: „Mich interessieren die etwas anderen Themen“, erklärt sie. Die erfordern natürlich allerhand Recherche. Dafür ist ihre Mitstreiterin, die Journalistin Karoline Lentz, zuständig.

BREMEN, 02.06.2022, Theater Interaktivo, Christine Renken fuehrt ueber den Riensberger Friedhof, Grabmal Lohmann © Joerg Sarbach

Zahlreiche Prominente haben hier ihre letzte Ruhestätte

So geht es nun auf den verschlungenen Pfaden und kleinen Brücken mit der Gruppe eben nicht zum Grab des ehemaligen Bundespräsidenten Karl Carstens. Und auch nicht zur Ruhestätte des ersten Direktors der Kunsthalle, Gustav Pauli. Nicht zu den Gräbern der vielen früheren Bürgermeister von Bremen, nicht zum Gedenkstein für den Kaffeekaufmann Johann Jacobs, nicht zu dem für den Flugpionier Henrich Focke, der den ersten Hubschrauber baute. Und nicht zu vielen anderen, die in die Geschichte eingingen. Allerdings: Ohne eine gewisse Prominenz kommt auch Christine Renken nicht aus. Doch dazu später. 

Zunächst einmal steuert sie auf ein recht unscheinbares Grabmal wenige Meter neben dem Kolumbarium zu, das am Ufer des großen Sees gelegen ist. Hier liegt Joseph Neumark, Besitzer eines Malerbetriebs, gestorben 1905. Auch sein Sohn ist hier beigesetzt, der Architekt Friedrich Neumark. Tochter Johanna wiederum sei an der Wende zum 20. Jahrhundert nicht nur eine der ersten Dentistinnen Deutschlands gewesen, sondern habe von ihrem Ehemann Franz Leuwer auch die Prokura für dessen Verlag und Buchhandel bekommen, sagt Renken und fügt hinzu: „Außergewöhnlich damals für eine Frau.“

Johanna Leuwer sei später von den Nationalsozialisten nach Theresienstadt deportiert worden und dort gestorben. Ihr Sohn, der wie sein Vater Franz hieß, sei rechtzeitig nach England emigriert und dort auf Ian Fleming getroffen, den späteren Schöpfer von James Bond und damals selbst Spion. „Man kann es kaum glauben“, sagt Renken dazu. Ob das nun der Grund war oder nicht: Franz sei unter dem Namen Frank Lynder zum britischen Geheimdienst gegangen und habe später die Schwester von Verleger Axel Springer geheiratet. 


Ein Sioux auf dem Riensberger Friedhof

Es ist dieses Erzählprinzip des „Vom Hölzchen aufs Stöckchen“, das die Führung so besonders macht und bei dem sich Bremer Geschichte in ungezählten feinen Verästelungen entfaltet. Und nicht nur die: „Unter vielen Grabsteinen liegt Weltgeschichte verborgen“, sagt die gebürtige Bremerin. Die ungewöhnlichste Bestattung auf dem Riensberger Friedhof sei wohl die eines Mannes namens Uses gewesen, eines Sioux-Indianers. „Wie der in die norddeutsche Tiefebene kam?“, fragt die Führerin und gibt gleich selbst die Antwort: „Er gehörte zur Wild-West-Show von Buffalo Bill, die Ende des 19. Jahrhunderts in Bremen gastierte, und war einer schweren Verletzung erlegen.“ 

Christine Renken kennt viele Geschichten über die Gräber des Riensberger Friedhofs. © WFB/Sarbach

Imposantes Mausoleum von Bremer Brauereibesitzer

Inzwischen steht das Grüppchen vor dem imposanten Mausoleum der Familie Rutenberg. Die Männerfigur auf dem Dach stelle Christian Rutenberg dar, berichtet Renken. Eine seiner Forschungsreisen habe den Arzt und Pflanzensammler nach Madagaskar geführt, wo er irgendwann von seinen Dienern erschlagen worden sei. Sein Vater Lüder Rutenberg, einer der ersten Bremer Bauunternehmer, habe nicht nur die Kunsthalle und diverse Straßenzüge errichtet, sondern sich auch als Brauereibesitzer betätigt. So war er Mitinhaber der Kaiserbrauerei, aus der später die Brauerei Beck hervorging. „Wäre Rutenberg nicht zur richtigen Zeit am richtigen Platz gewesen, wir hätten die grüne Flasche nicht“, kommentiert Christine Renken mit einem Lächeln. 


Anekdoten rund ums Lohmann-Familiengrab 

Weiter geht es zum Familiengrab des Kaufmanns Adolf Lohmann, vor dem eine Frauenfigur sitzt und auf den See schaut. Dieser war Renken zufolge angelegt worden, um mit dem Aushub das Bodenniveau anzuheben und die Toten tiefer bestatten zu können. „Zuvor konnte es passieren, dass bei starkem Regen nach und nach Gebeine freigewaschen wurden“, erzählt Renken und freut sich merklich an den erschrockenen Gesichtern ihrer Zuhörerinnen und Zuhörern. 

Adolf Lohmann habe sich im Ersten Weltkrieg für Handels-U-Boote stark gemacht, um die Seeblockade durch die Briten zu unterlaufen, berichtet sie auch und setzt lakonisch hinzu: „Er ertrank in der Ostsee – beim Baden.“ Beim Geschichtenerzählen ist sie kaum zu stoppen. „Ich muss Sie vor mir schützen“, sagt Christine Renken an diesem Nachmittag immer wieder einmal, denn sie könnte noch viel weiter ausholen.

Doch die Zeit schreitet voran und es soll noch zum Gedenkstein für Eduard Schopf gehen, dem Gründer der Kaffeefirma Eduscho, zum größten Mausoleum auf dem Gelände, aber auch zum bescheidenen Grab für Bremens erste Sportsenatorin Annemarie Mevissen und zu anderen Ruhestätten. Auch können die Zuhörerinnen und Zuhörer gern wiederkommen und sich mit „Hein Looper“ anderswo umschauen auf dem Riensberger Friedhof. Insgesamt hat Christine Renken fünf Touren entwickelt, die sie in unregelmäßigen Abständen anbietet. Wie wäre es vielleicht mit „Bekannte Bremer Frauen“? Auch dazu hat Renken zahlreiche Anekdoten parat.