Ein Beitrag von Angela Meyer-Barg
Das Meer ist weit, das Meer ist blau, manchmal ist das Meer in den Arbeiten der Anja Witt auch blutrot, maisgelb oder flaschengrün. Auf jeden Fall ist das Meer groß. Zwei Meter mal 1,30 sind gewöhnlich die Formate ihre Leinwände, darunter macht sie es selten. Ein Bilderrahmen sollte diagonal gehalten gerade noch durch die Ateliertür passen, das ist die einzige Grenze, die sie sich setzt. Ein Besuch im Spätsommer, das Sachsenwald-Städtchen Aumühle liegt sommerlich ruhig da, verdorrte Blätter fliegen auf Wegen und Straßen. Die Künstlerin steht vor ihrem Atelier, einen Besen in der Hand, und fegt in gemessenem Tempo den Fußweg frei. Anpacken, wo es nötig ist – auch das gehört zum Alltag. Ihr Atelier an der Hauptstraße war früher mal ein Lebensmittelladen, im ehemaligen Kühlraum lagern heute die Farben, entlang der Wände stehen ihre großformartigen Arbeiten mit den Motiven zur Wand. Eine Galerie des Meeres in all seinen Facetten. Während unseres Gesprächs wird sie einige dieser Bilder umdrehen, Bühnenbildern ähnlich, die ihr Leben beleuchten. Die Geschichten, die Anja Witt in ihren Bildern erzählt, ähneln sich und sind doch nie gleich. Alle handeln vom Meer. Oder besser: Von der Welt unter der Meeresoberfläche. Einer Undine gleich taucht sie in ihr künstlerisches Element, um danach wieder aufzutauchen und die profanen Anforderungen an eine Künstlerinnenexistenz zu erledigen. Fegen und aufräumen gehört dazu. Vermarktung. Transport und Finanzierung.
Anja Witt (55) ist diplomierte Ozeanografin. Eine Wissenschaftlerin, die sich an Fakten hält. Ganz anders ihre Kunst. Ihre Bilder entführen in eine Traumwelt: Es sind Stimmungen, Ahnungen, manche ziehen magisch an, andere verstören, wieder andere wirken auch wegen des riesigen Formats dekorativ. Mal tauchen dunkle Gebilde aus der Tiefe auf, Wrackteile vielleicht, mal winden sich filigrane Gräser durch die Strudel, mal bricht sich ein helles Gelb im Dunkel Bahn, mal verwirbeln sich die Farben und greifen eine Bewegung auf, mal dräut ein großes Dunkel und gibt eine Idee von unendlicher Tiefe. Vielleicht ist es auch nur ein Zeichen von Hilflosigkeit, dass ich als Betrachterin Konkretes zum Vergleich heranziehe, wo die Künstlerin doch in abstrakten Formen erzählt.
»Bloß keine Wölkchen«
»Nicht zu erzählerisch werden« ist ihr künstlerisches Motto. Sie streicht über eine Oberfläche, in der winzige Papierschnipsel unter Acryl vergraben sind: »Bloß keine Wölkchen.« Überhaupt nichts Konkretes. Keine ihrer Arbeiten schwimmt mit im großen Strom der Seebilder, wie sie berühmte Maler wie Caspar David Friedrich, Emil Nolde oder Gustave Courbet vorgaben. Nirgendwo Segler, die sich gegen die Dünung stemmen, keine Netzflickerinnen, keine Reetdächer, die über Dünen lugen, oder wenigstens Strandgut, Muscheln oder spielende Kinder am Strand. »So was habe ich am Anfang gemalt, das mache ich heute noch als Auftragsarbeit.« Was Anja Witt fasziniert, ist etwas anderes. Es ist das, was sie als Wissenschaftlerin erforscht hat und was sie jetzt mit den Augen der Künstlerin durchdringt. Das Meer oder besser: das Paralleluniversum unter der Wasseroberfläche. Die Biografie der unprätentiös wirkenden Frau mit dem lässig zusammengebundenen Pferdeschwanz verzeichnet einen radikalen Bruch Anfang der 90er Jahre – weg von der Analyse, hin zur Intuition. Weg von der Wissenschaft, hin zur Kunst. Wobei sie sich aus beiden Welten das Beste bewahrt hat: Die Künstlerin in ihr ist frei, aber die Wissenschaftlerin forscht auf der Leinwand weiter, deutet mit Farben und Formen um, was Messgeräte in Zahlen und Tabellen erfassen würden. Eine ewige Wellenbewegung ist ihr Leben, auch wenn sie sich doch vor über 20 Jahren ganz radikal entschieden hat. Das Pendeln zwischen zwei Polen beginnt schon in der Kindheit in Bremen. Das kleine Mädchen malt, wann immer es einen Stift in die Finger bekommt. »Wenn einer Geburtstag hatte, habe ich gesagt, ich male ein Bild. Das war das Einfachste.« Einmal kritzelt sie den Gehsteig mit Kreidefarben voll und wird ermahnt – das mache man nicht. Jedenfalls nicht Ende der 60er Jahre. Andererseits ist da der Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen, vor allem Wasser interessiert sie. Der Vater ist Kapitän, gibt seinen Beruf aber auf, als 1965 die einzige Tochter geboren wird. Er mag seine Familie nicht monatelang allein lassen, an Land verkauft er fortan Radargeräte für Schiffe.
Ein Wasser-Leben
Die Welt des Wassers und die Welt der Forschung sind Anja Witt somit in die Wiege gelegt. Als Schülerin absolviert sie ein Praktikum beim Wasserwirtschaftsamt in Bremen. Mit der »MS Weserluchs« fährt sie während eines Praktikums die Weser hinunter, entnimmt und analysiert Wasserproben. Während ihre Freundinnen Pferdebücher lesen und Poesiesprüche tauschen, versinkt sie in ihrem Lieblingsbuch »Das Leben im Wassertropfen«, vergrößert Tropfen unter dem Mikroskop. Wasser, ihr Element. Die Eltern ticken ähnlich. Wenn andere Familien nach Österreich in die Berge fahren, zieht es die Familie an die Nordsee. Tauchen wird Anja später lernen, auch wenn es in den Ostseegewässern vor den Kieler Gestaden dunkel ist, kalt und trist: »Wenn man einen Knurrhahn traf, der am Boden lief, war das schon toll.« Auch Windsurfen probiert sie aus, gern vor Langeland, Hauptsache, die Nase im Wind und unter sich ein großes Rauschen. Nach dem Abitur muss sie sich entscheiden: Kunst oder Forschung? Sie hatte zwar immer weiter gemalt, einige ihrer Arbeiten sogar verkaufen können, aber würde das je für den Lebensunterhalt reichen? »Ich habe kein Vertrauen darin gehabt, dass die Kunst mein Beruf sein könnte.« Die Wissenschaft siegt. Anja Witt belegt Ozeanografie in Kiel, die Lehre von den physikalischen Bedingungen des Meeres. Ein Studium, das weit entfernt ist von der sinnlichen Erfahrung des Wassers, von Gezeiten, Wellen und Wind. Es geht ums Vermessen und Analysieren, um Salzgehalt, Strömungen, Verwirbelungen. Genaue Messungen gehören dazu, Tabellen, Auswertungen. Statt aufs Meer starren Ozeanografen auf den Computer. Nach dem Diplom wechselt sie als Doktorandin an das Hamburger Institut für Meereskunde, beginnt eine Doktorarbeit zum Thema »Die horizontale Zirkulation in der Grönlandsee 1986 bis 89«. Aber die finanziellen Bedingungen für ihre Arbeit sind nicht günstig, die Berufsaussichten auch nicht.
Wollte man in der Metapher des Wassers bleiben, dann treibt ihr Lebensschiff immer weiter ins Flachwasser, bis der Kiel knirschend auf Grund läuft und eine Entscheidung ansteht: »Willst du Malerin sein, willst du Wissenschaftlerin sein oder willst du Familie haben? Alles zusammen geht nicht.« Kurswechsel in das freie Künstlerinnenleben Ein Jahr lang lässt sie der innere Konflikt nicht los: »Ich hatte ja viel investiert. Mathe, Physik – das ist mir nicht einfach so zugefallen.« Dass die Berufsaussichten in ihrem Metier alles andere als glänzend sind, dass sie nach der Promotion eigentlich ins Ausland gehen müsste, ihr Mann aber als Werbetexter dem deutschen Sprachraum verhaftet ist, gibt 1993 den Ausschlag für eine radikale Entscheidung. Kunst also. Kunst und Familie. Kurz nacheinander kommen Charlotte (26) und Sebastian (25) zur Welt. Die Tochter arbeitet heute als Fernsehautorin, der Sohn in der IT-Branche. Am Anfang mischt die junge Mutter ihre Ölfarben noch neben dem Kinderzimmer an. Später stellt sie auf schnell trocknende Acrylfarben um: »Diese ewigen Terpentindünste im Haus schienen mir für Kleinkinder nicht so gut zu sein. Außerdem arbeite ich schnell, habe immer mehrere Bilder in Arbeit. Ölfarben aber brauchen ihre Zeit zum Trocknen.« Anja Witt setzt die Segel, hinein in ein freies Künstlerinnenleben, in dem nicht nur Talent zählt, sondern auch die Vermarktung des eigenen Talents. Sie bucht einige Kurse, unter anderem bei der Hamburger Künstlerin Karin Witte, die begeistert ist von ihren Arbeiten und sie auf ihrem Weg ermutigt. Eigentlich aber ist sie Autodidaktin, die ihr Lebensthema in unendlichen Variationen darstellt: Nur geht es jetzt nicht mehr ums wissenschaftliche Vermessen der Meere, sondern um das Durchdringen jener geheimnisvollen Welt unter Wasser. Wie viele Kreative hat sich auch die Malerin des Meeres ihre Rituale erschaffen. Wenn sie morgens gegen halb zehn Uhr ihr Atelier aufschließt, greift sie zum Overall, ordnet die Pinsel, die Spachtel, Läppchen und Schwämme, schließt die Fenster.
Stille braucht sie, wie ein Organismus unter Wasser: »Keine Musik, möglichst auch keine Laubbläser nebenan. Ich bin da wie ein Einsiedlerkrebs.« In einem begleitenden Katalog liest sich das so: »Stahltür zu, das Atelier ist mein Bunker. Hier gibt es kein Telefon, und keiner ruft Mami. Der Overall aus Farbkruste ist mein Raumanzug.« Wenn Anja Witt sich auf den Weg macht in die unerforschten Welten unter Wasser, holt sie sich Orientierung in ihrem Skizzenbuch oder malt erste Entwürfe auf Papier, manchmal mit dem Kohlestift. Jedes Bild folgt einer Entscheidung: »Ich werfe das nicht mal so einfach hin. Wenn ich keine Idee habe, ist das einfach nur Farbverbrauch.« Zusätzliche Inspiration holt sie sich aus ihrem »Moodboard«, ihrem Archiv, blättert in Zeitungsausschnitten, sucht nach einem Thema, das sie dann mit Schwung auf die Leinwand bringt und auch wieder zerstört, wenn es nicht gefällt. »Ein Bild ist nicht heilig, es muss frei sein.« Ihr Atelier ist seit über 20 Jahren ihre Welt. »Hier kann ich erfinden, hier kann ich Szenen entwickeln.« Die Doktorarbeit liegt irgendwo in Kisten verstaut im Keller, sie wurde nie fertig. Stattdessen folgte Anja Witt ihrer Leidenschaft, dem Malen. Was sie mitnahm aus ihrer ersten Ausbildung? Sie lächelt. Das Thema Meer natürlich. Ein unendliches Thema … Wir gehen gemeinsam zu einem Bild, das noch unfertig an der Wand lehnt. Anja Witt hat ihren vollgeklecksten, ehemals olivgrünen Overall angezogen, ihre Arbeitskluft: »Der steht mittlerweile von selbst«, grinst sie. Dazu dünne Gummihandschuhe. Sie geht in die Knie, wischt mit einem Schwamm ein helles Gelb auf die Fläche, greift zum Fensterwischer, dann zum Spachtel, verwischt die Farbe, bricht ab: »Ich müsste mich konzentrieren, jedes Motiv ist eine Entscheidung, das funktioniert nicht einfach so.« Eine Erfahrung, die sie häufiger macht: Wer mit freiem Gestus über die Leinwand streicht, kein konkretes Motiv im Blick, wird von Laien oft nicht so richtig ernst genommen. Dabei braucht jedes ihrer abstrakten Bild viele Gedanken, viel Energie. Es dauert, bis alles fließt. Wann sie mit einem Bild zufrieden ist? »Wenn ich merke: Es hat Power. Es überrascht mich.« Auch mit dem etablierten Kunstbetrieb tut sie sich schwer. Galeristen möchten junge Künstler und Künstlerinnen entdecken, sie aber war schon um die 30, als sie sich für ihr zweites Leben entschied. Eine Quereinsteigerin. »Da heißt es dann oft, da kann man ja nichts mehr aufbauen.« Im Laufe der Jahre hat sie sich deshalb zwei weitere Standbeine geschaffen. 2005 gründete Anja Witt eine Malschule, gibt Laien Malunterricht und betreut Workshops. Außerdem vermietet sie ihre großformatigen Arbeiten an Hotels und Kanzleien. Wobei: »Man traut mir oft nicht zu, ein ganzes Hotel auszustatten, da wird dann eher ein Galerist gefragt.« Sie lächelt fein. Gar kein Problem hat sie nämlich damit, eine Ausstellung mit ihren Bildern zu kuratieren und ihre großformatigen Arbeiten auch gleich noch zu transportieren. Wer eine Anja-Witt-Werkschau in voller Größe erleben will, braucht nur das »Hotel Atlantic« in Lübeck zu besuchen. Dort hat sie etwa zehn ihrer Arbeiten eigenhändig platziert. Wirtschaftlich ist die Kunst ein Balanceakt. »Es ist schwankend, große Urlaube sind nicht drin.« Und doch: »Ich bin zutiefst zufrieden mit dem, was ich mache.«
Auf Forschungsreise
Witt schenkt Kaffee ein, stellt Kekse auf die improvisierten Arbeitsplatten mit den bunten Klecksen. Weit spannt sich der Bogen ihrer Erzählung. Von Aumühle im Sachsenwald bis nach Guadeloupe, der französisch geprägten Inselgruppe in der Karibik, der Startpunkt einer mehrwöchigen Forschungsreise, die sie begleitete. Von der Staffelei wechselte sie noch einmal an die Messgeräte, vom Atelier auf das schwankende Deck eines Schiffes. Noch einmal an Bord Mai 2015, das deutsche Forschungsschiff »Meteor« steht kurz vor dem Auslaufen. 60 Frauen und Männer sind an Bord, davon 30 Mann Besatzung und 30 Wissenschaftler des GEOMAR Helmholtz Zentrums für Ozeanforschung in Kiel. Eine der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen ist Anja Witt, die für dieses einmalige Experiment ihr ehemaliges Studienfach aufleben lässt. Wenn die Malerin des Meeres von der Forschungsreise der »Meteor« erzählt, von den Wochen auf See, fallen plötzlich wieder all die Vokabeln, die man von einer Künstlerin nie erwarten würde. Von einem »Tracer« berichtet sie, das ist eine Flüssigkeit, die ins Wasser gegeben wird, ähnlich einem Kontrastmittel beim Röntgen. Über Jahre hinweg kann man mithilfe dieser chemischen Markierung Strömungen verfolgen. Oder die »CTD«-Rosette, die tief ins Wasser gelassen wird und Salzgehalt, Druck und Dichte ermittelt. Für Meeresforscher wie ein Fingerabdruck, mit dem sie die Dynamik im Ozean erkennen. Klar ist sie nervös, als sie nach langem Flug auf der Hauptinsel landet. Aber was für eine Chance, mit den Augen der Malerin auf die Arbeit der Wissenschaftler zu sehen! Wird es Schnittstellen geben? Wird ihr Blick anders sein? »Ich spreche ja zwei Sprachen. Die der Wissenschaft und die der Kunst.« Als sie an Bord geht, löst sich die Anspannung in der karibischen Sonne auf. Zuerst einmal legt sie rein zum Vergnügen einen Tauchgang ein, der so ganz anders ausfällt als vor Kiel: »Das war sensationell, eine Fischdichte wie im Aquarium!« An Bord kommt das Erlernte schnell zurück, sie muss im Nachhinein direkt den Kopf schütteln, wie präsent alles noch ist: »Sogar das gute alte Salinometer mit den kleinen Glasröhrchen war noch da, mit dem der Salzgehalt des Wassers gemessen wird.« Fünf Wochen wird der Trip bis zu den Kapverden vor der Nordwestküste Afrikas dauern, lange Wochen, in denen ein Wissenschaftler an Bord besser keine Zahnschmerzen bekommen sollte und auch keine Seekrankheit. Der erste Wunsch wird erfüllt, der zweite nicht. »Ich habe furchtbar unter Übelkeit gelitten.« Die Einsamkeit auf See dagegen ist kein Thema. »Ich kann fünf Wochen lang aufs Meer gucken, damit habe ich überhaupt kein Problem.« Anja Witt ist Teil der Crew, die auf ihrem Törn vor allem Sauerstoff-Minimumzonen im tropischen Atlantik untersuchen soll. Sie ist dabei, wenn Wasserproben abgefüllt werden, sie sitzt vor dem Computer, um die Daten auszuwerten, sie verfolgt Forschungsergebnisse über die wasserstoffarmen Bereiche im Meer, und sie schiebt in zwei Schichten Wache wie die anderen Besatzungsmitglieder auch: täglich von 12 bis 16 Uhr und von Mitternacht bis vier Uhr morgens. Danach einige Stunden Schlaf, um den Tag nach dem Aufwachen gleich mit Lunch und gebratenem Hühnchen zu beginnen: »Die Essenzeiten waren völlig verdreht.« Ihre persönliche Zielsetzung: »Ich wollte diesmal mit anderen Augen schauen. Wollte wissen, wie man zwischen Kunst und Wissenschaft eine andere Verbindung schafft.« Manchmal greift sie zum Skizzenbuch, aber das Malen ist schwierig bei 35 Grad Außentemperatur, ständigem Motorenlärm, lautstarken Reparaturarbeiten. Fotografieren geht ihr leichter von der Hand. Anja Witt fotografiert Serien von Tauen, die in ihren Fotos eine eigenwillige Farbigkeit entfalten. Sie fotografiert Dübel, Ösen und Eisenteile. Eines Abends auf hoher See geht sie über das Deck und entdeckt an einigen Eisenteilen rostige Stellen.
Der Wissenschaftler würde darüber hinwegsehen, weil es unwichtig ist für die Messungen, die Künstlerin in ihr ist von den morbiden Farben begeistert. Schade, dass sie an Deck nicht malen kann, zu viel Seegang, zu viel Krach, aber in ihren täglichen Blog kann sie diese Beobachtung doch aufnehmen? Von wegen. Die Gastwissenschaftlerin läuft am Kapitän auf, der jeden ihrer Blogeinträge kontrolliert. »Wir müssen reden«, sagt der streng. Ihrem geänderten Blick auf die Arbeit auf einem Forschungsschiff wollte sie nachspüren, hier nun ist die Situation gekommen: Das Auge einer Malerin mag sich an den Variationen der Farbe Braun erfreuen, der Leiter eines Schiffs muss jeden Anflug von Rost als Makel sehen. Anja Witt lächelt. Wie gut, dass die Kunst so frei ist. Die vielen Tönungen von Rost werden später in ihre Bilder einfließen, rostbraun, goldgelb, mit Tupfen von türkis. »Captain’s nightmare« wird sie die Bilderfolge ironisch nennen. »Albtraum des Kapitäns«. Auch das große Bild mit den vielen Farben Schwarz und den gelben Signalpunkten, das jetzt vor uns steht, entstand nach der Forschungsfahrt mit der »Meteor«. Eine Idee von Tiefe soll es wiedergeben und von wenig Sauerstoff. »Ich habe versucht, Fehlstellen zu zeigen.«
Eine Künstlerin darf alles, eine Künstlerin ist frei in ihren malerischen Möglichkeiten. Frei auch während einer Pandemie? Anfang 2020 nimmt Corona das Land in den Klammergriff, besonders die Kreativen sind ausgebremst. Ausstellungen werden abgesagt, Malschüler dürfen nicht kommen. Aber immerhin: Die Kulturbehörde zahlt eine kleine Unterstützung mit der Vorgabe, die Pandemie als künstlerisches Projekt zu erfassen. Das letzte Bild wird umgedreht: Es zeigt eine schwebende Form im hellblauen Wasser. Eine Qualle womöglich, ein Fetzen treibende Plastikfolie? Anja Witt lächelt – dieses Bild ist ihr persönlicher Kommentar zum Lockdown. »Ich komme mir in diesen Wochen wie ein Schwebeteilchen vor, losgelöst, ohne Halt und Erdung.« Mögen andere die verordnete Isolation als Einengung betrachten. Sie nicht. Auch während des Ausnahmezustandes, der alles Leben über Wochen hinweg erstarren lässt, taucht diese Frau ein in ihre Kunst – weil alles darin frei ist und fließt und keine Grenzen kennt.
Über das Buch
Was sind wir, und was können wir sein? Wie beginnt die Veränderung? Routinen ändern. Alte Pläne verwerfen. Sich auf einen neuen Weg machen, der vielleicht schon lange in einem schlummert, von dem man nur einst abgekommen ist. Zwölf Begegnungen erzählen von Neuanfängen.
Wie ergibt sich der SWITCH in ein neues Leben? Angela Meyer-Barg hat eine inspirierende Sammlung von Biographien geschrieben, von Begegnungen mit Menschen, die ihrem Leben eine neue Richtung gegeben haben. Manche haben die Herausforderung angenommen, die ihnen das Leben zuspielte – andere ihren Kurs ganz bewusst geändert. Die Autorin fragt nach den Wegen, die sie gegangen sind, nach dem Moment, der zum Umlegen des Schalters geführt hat. Es ist ein Buch über Lebenswenden, ein Mutmachbuch, das anregt, seinen Wünschen und seiner inneren Stimme zu folgen. Ein Lesebuch über Menschen mit Kurs Neuland!
Über die Autorin
Angela Meyer-Barg reiste 25 Jahre lang als Chefreporterin eines großen Hamburger Zeitungsverlages durch Die Welt, interviewte und porträtierte Schauspieler*innen, Politiker*innen und Künstler*innen. Seit einigen Jahren arbeitet sie als freie Journalistin und genießt, dass sie ihre Gesprächspartner nicht mehr nur nach Prominenz aussuchen muss. Sie lebt in Hamburg.