Gabriele Haefs

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Story der Woche: Mythen und Wahrheit – Neuheiten aus der norwegischen Wichtelforschung

22. Dezember 2023

Wichtel gibt es überall, aber nur in Norwegen sind sie für Weihnachten zuständig. Und das gleich doppelt, denn der Nikolaus heißt dort „Julenisse“, also „Weihnachtswichtel“ und ist damit der Oberwichtel, obwohl er aussieht, wie der Nikolaus eben aussieht. Die Wichtel, die rein beruflich eher nichts mit ihm zu tun haben, heißen „Nisse“, Mehrzahl „Nisser“, und das ist abgeleitet vom Namen Nikolaus, also haben die Wichtel ihren Namen von dem gütigen Heiligen aus dem türkischen Myra, aber das erst seit einigen hundert Jahren. Vorher hießen sie „vetter“, das ist etymologisch dasselbe Wort wie „Wichtel“, und wie es zu dem Namenswechsel kam, ist ungeklärt. Die Gelehrten streiten sich zu dieser Frage nicht einmal, sie geben ganz offen zu, dass sie es nicht wissen. Abgesehen davon, dass die Bezeichnung „nisse“ aus dem Dänischen nach Norwegen gewandert ist, und zwar nach der Reformation. Die nunmehr reformierte Kirche hielt sich an Luthers Lehre, nach welcher der Wichtel „ein kleiner Geist ist, der bei der Kirche wohnet“, und wollte lieber, wenn sie die Geister schon nicht loswerden konnte, eine christliche Bezeichnung haben als das mit Heidentum und Aberglauben und schlimmer noch, Papismus verbundene „Wichtel“. Aber wie dieser Prozess vor sich ging – wir wissen es nicht.

Wichtelarten

In Norwegen sind die Wichtel jedenfalls weit verbreitet, eine Liste nennt diese Unterarten: Unterirdische, Weihnachtswichtel, Kirchenwichtel, Schiffswichtel, Hauswichtel, Stallwichtel, Hofwichtel, Gartenwichtel. Letzterer ist offenbar der perverse Vetter dieser reizenden Sippe, es handelt sich nämlich um das Wesen, das hierzulande „Gartenzwerg“ genannt wird, und durchaus nicht Gartenwichtel.

Heutzutage begegnen uns in Norwegen vor allem die Stallwichtel, bzw. sie begegnen uns nicht, sondern halten sich vornehm zurück und zeigen sich nur, wenn sie sauer sind und sich rächen wollen. Sind sie zufrieden mit ihren Menschen, helfen sie aber gern, wenn gerade niemand hinsieht, so wie ihre Verwandten aus Köln das ja auch getan haben. In norwegischen Kinos lief im Herbst 2023 der Hollywoodfilm „There’s something in the barn“, hierzulande wohl nur bei Streamingdiensten vorrätig.

Eine ziemlich unbedarfte Familie aus den USA erbt einen Bauernhof in Norwegen, und der Familienvater hat keinerlei Achtung vor dem Stallwichtel, sondern frisst ihm seinen Brei weg, worauf der Wichtel seine Wichtelbrüder holt und sie sich heftig rächen. Das mit den Brüdern ist wichtig, in Norwegen scheint es nur männliche Wichtel zu geben, aber bedeutet das, dass die vorhandenen Wichtel unsterblich sind? Sonst müssten sie ja bald ausgestorben sein. Abermals schweigen die befragten Gelehrten verlegen. Auch in Deutschland treten die Wichtel zwar heute vor allem in männlicher Gestalt auf, aber die Brüder Grimm weisen darauf hin, dass es neben der Bildung „der“ Wichtel auch das Femininum „die“ Wichtel gibt. Wir können also davon ausgehen, dass sich die Wichtelinnen irgendwohin zurückgezogen haben, sich ihren Geschäften widmen und das weihnachtliche Treiben den Männern überlassen.

Weihnachtliches Treiben

Das weihnachtliche Treiben ist eigentlich ganz einfach. Der Nisse bleibt im Stall oder wo auch immer, der Heilige Abend kommt, der Nikolaus bzw. Obernisse jagt auf seinem Schlitten durch die Lüfte und bringt den Menschen Geschenke. Aber vorher müssen die den Stallnisse versorgen. Er bekommt einen Teller Rahmgrütze mit einem dicken Klecks Butter in der Mitte. Serviert wird da, wo der Nisse eben haust, im Stall, auf dem Dachboden, in einem Schuppen. Es ist ungeklärt, wie das heutzutage in der Stadt ist: Sind die Wichtel mitgezogen, als auch in Norwegen die Landflucht einsetzte, oder gibt es nur noch eine Restpopulation auf den verbliebenen Höfen? Gerüchte besagen, dass die Wichtel auf dem Land sich gegenseitig von den immer weniger werdenden Höfen zu verdrängen versuchen und deshalb gar keine Zeit mehr haben, um den Menschen zu helfen. Man weiß das alles nicht genau, aber man sollte kein Risiko eingehen. Zu Weihnachten gehört es sich ganz einfach, dem Hauswichtel ein Schüsselchen mit Weihnachtsbrei hinzustellen, und selbst gestandene Naturwissenschaftler, die das ganze Jahr hindurch über jede Art von Aberglauben erhaben sind, folgen diesem Brauch. Denn das, so beteuern sie auf die Fragen der erstaunten Gäste aus dem Ausland, sei ja gar kein Aberglaube, sondern Tatsache. Der Wichtel wartet auf seinen Brei, und man weiß nicht, was passiert, wenn er ihn nicht bekommt.

Ein Problem, dem sich offenbar noch niemand so richtig gewidmet hatte, tauchte in Anfragen an die norwegische Botschaft in Berlin auf. Beim urbanen Lebensstil, wo alles so schnell gehen muss, haben da wirklich alle Familien Zeit, um für den Wichtel den vorschriftsgemäßen Brei zu kochen? Und wenn sie z.B. in einem Reihenhaus oder einem Wohnblock wohnen, wohin stellen sie den Brei, der ja in die Scheune gehört? Da diese Frage in Norwegen total unerforscht war, musste sich ein dazu abkommandierter Botschaftsrat eine Antwort ausdenken. Weihnachtsbrei, Weihnachtsbier, es geht um das Festmuster und ein Fall von Requisitenverschiebung macht sich in der Brauchtumsbeschreibung immer gut, muss er gedacht haben, und so lautete die Antwort: Nein, oft reicht die Zeit nicht zum Breikochen, so wenig, wie zum Brauen des althergebrachten Weihnachtsbieres. Deshalb wird der Familienvater ausgesandt, um für den Hauswichtel einen Sixpack Pils zu erstehen. Der Sixpack wird in die Garage gestellt und kann dort vom Wichtel abgeholt oder an Ort und Stelle konsumiert werden. Was der Wichtel übriglässt, darf der Hausvater dann am nächsten Morgen austrinken.

Brei, kein Bier

Ein schöner, zeitgemäßer Brauch, finden Sie nicht? Diese Beschreibung geistert seit einigen Jahren durch die deutschsprachige Presse und wird damit langsam zur modernen Wandersage, aber, leider, glauben Sie kein Wort, es ist alles erfunden. Der wahre norwegische Wichtel bekommt zu Weihnachten Brei oder gar nichts!

Denn wenn er etwas anderes bekommt, geht es immer schief. Das wissen sie in Hollywood, und schon viel länger erzählen das die norwegischen Märchen. Dieses zum Beispiel: Es war einmal ein Hofwichtel, mit dem die Bauersleute sehr zufrieden waren. Der Wichtel hütete die Tiere, vor allem die Pferde wurden vorbildlich versorgt. Wenn der Bauer mit der Arbeit fertig war, brauchte er sich nie mehr um die Pferde zu kümmern – das erledigte ja der Wichtel.

Der Bauer und die Bäuerin schätzten ihren hilfsbereiten Wichtel natürlich sehr und wollten ihm das auch zeigen. An Festtagen stellten sie ihm immer den feinsten Sahnebrei in die Scheune, und zu Heiligabend gab die Bäuerin einen ganz besonders dicken Klecks Butter hinein, so dass der Weihnachtsbrei richtig lecker und fett wurde. Doch als sich das Weihnachtsfest wieder näherte, kamen Bauer und Bäuerin auf die Idee, dem Wichtel ein ganz besonderes Geschenk zu machen, weil er immer so tüchtig und hilfsbereit war. Die Bäuerin nähte ihm deshalb eine Hose aus allerfeinstem Leder und legte sie abends in der Scheune neben die Breischale.

Am Weihnachtsmorgen wütete ein Schneesturm, aber die Bauersleute fuhren trotzdem zur Kirche, wie der Brauch es verlangte. Bei ihrer Rückkehr spannten sie die Pferde auf dem Hofplatz aus, liefen dann aber eilig ins Trockene – der Wichtel würde schließlich den Rest erledigen.

Als der Bauer nachmittags auf den Hofplatz trat, sah er zu seinem Schrecken, dass die Pferde noch immer nass und verfroren dort standen. Rasch brachte er sie in den Stall, nahm ihnen das Zaumzeug ab, rubbelte sie mit einem Heubündel trocken, gab ihnen Futter und Wasser. Danach kletterte er zu dem Wichtel auf den Heuboden und verfluchte ihn auf ganz unweihnachtliche Weise, weil der Wichtel seine Arbeit nicht getan hatte. „Aber das konnte ich doch nicht“, verteidigte sich der Wichtel, „bei dem schrecklichen Schneesturm konnte ich nicht rausgehen. Dann wäre doch die feine Lederhose nassgeworden!“

Rezept für die weihnachtliche Wichtelgrütze (Rømmegrøt)

Man nehme: ¼ Liter saure Sahne oder Schmand

100 Gramm Mehl (man kann auch Grieß nehmen, das geht schneller, und den Wichteln ist es offenbar egal)

½ Liter Milch

Eine Prise Salz

Zucker und Zimt nach Lust und Laune

Die saure Sahne in einen Topf geben und aufkochen lassen. Dann die Hälfte des Mehls einrühren, auf kleine Flamme drehten, immer weiter rühren, bis sich Fett absetzt. Das Fett abschöpfen, dann das restliche Mehl dazugeben und unter weiterem Rühren weiterköcheln lassen, bis ein dicker glatter Brei entstanden ist. Mit dem Salz würzen, dann nach Belieben Zucker und Zimmer dazugeben, schließlich das abgeschöpfte Fett wie ein dickes Auge in die Mitte setzen. Servieren.

In Schweden heißt der Nisse Tomte, was niedlich klingt. Man denkt an das schwedische Wort für Daumen und sieht so einen daumengroßen Wicht vor sich, einen Däumling eben. Aber ach, hier sind die Gelehrten einig: Damit hat das Wort nichts zu tun, es kommt vom tomt, Grundstück, bezeichnet also das Wesen, das dort auf diesem Grundstück haust. Was die Tomter zu Weihnachten treiben, müssen wir noch erforschen, das erzählen wir im nächsten Jahr.