Jens Mecklenburg

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So schmeckt die Freiheit

Engländer stürmen Pubs
15. April 2021

Der erste Öffnungstag nach Monaten im Lockdown hat englischen Pubs und Gaststätten Rekordeinnahmen beschert. Getränke waren dabei am Montag besonders begehrt, wie der Branchenanalyst CGA ermittelte. Der Verkauf von Bier, Wein und Sekt in den Pubs sei 113 Prozent höher gewesen als am selben Tag 2019. Bemerkenswert ist dabei nach Ansicht der Experten, dass nur die Außengastronomie geöffnet hat und vor allem am Vormittag in London und weiten Teilen Englands winterliche Temperaturen herrschten. Die Bestellungen nahmen um 150 Prozent zu, zahlreiche Betriebe sind auf Wochen ausgebucht.

Schätzungsweise verfügen knapp 40 Prozent der Gaststätten im größten britischen Landesteil – insgesamt etwa 41 100 Kneipen und Restaurants – über ausreichend Plätze im Freien, um unter den geltenden Regeln zu öffnen. Alle anderen dürfen erst im nächsten Schritt öffnen, der für den 17. Mai geplant ist. Insgesamt lag das Plus im Jahresvergleich bei 58,6 Prozent, denn beim Essen lagen die Umsätze sogar um 11,7 Prozent niedriger als 2019.

Einbahnstraße in die Freiheit

Dutzende stehen für einen Haarschnitt an oder für Klamotten, andere genießen ein erstes Pint Bier im Regen: Nach Monaten im Corona-Lockdown haben in England wieder Geschäfte, Friseure und Biergärten geöffnet. Es ist der erste große Schritt auf der von Premierminister Boris Johnson angekündigten «Einbahnstraße in die Freiheit». Herrschte noch vor wenigen Monaten Corona-Chaos, hat sich Großbritannien mittlerweile zum Vorreiter im Kampf gegen die Pandemie gewandelt.

Möglich sind die Öffnungen wegen der deutlich niedrigeren Neuinfektionen, die vor allem dem raschen Fortschritt des Impfprogramms zu verdanken sind. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei knapp 30 Fällen pro 100 000 Einwohnern; mehr als 32 Millionen Menschen – weit mehr als die Hälfte der Erwachsenen – haben eine erste Impfung gegen das Coronavirus erhalten. Johnson rief seine Landsleute jedoch auf, vorsichtig zu bleiben und nicht über die Stränge zu schlagen. Kontaktbeschränkungen bleiben in Kraft, Auslandsurlaub sowie Treffen in geschlossenen Räumen verboten.

Ddie ersten Gaststätten hatten früh auf und meldeten Hochbetrieb. Freie Plätze waren rar – seitdem Johnsons Lockerungs-Fahrplan bekannt ist, meldeten landesweit Pubs ausgebucht. «Es schmeckt fantastisch – und wird nicht lange halten», sagte Pippa Ingram, als sie in Ramsgate am Ärmelkanal den ersten Schluck von ihrem Pint nahm.

Im südostenglischen Städtchen Cranleigh ließen sich zwei Männer auch vom strömenden Regen nicht abhalten, ihren Imbiss im Sitzen zu verzehren, wie ein Bild zeigt, das auf Twitter breite Beachtung fand. Die Nachfrage war überall groß. «Das Thermometer zeigt ein Grad, es schneit, und 100 Gäste wollen im Freien essen», twitterte der Chef des Londoner Nobel-Italieners «Il Portico», James Chiavarini. «Es macht einen stolz, Brite zu sein.»

Doch manche übertrieben es wohl ein wenig: In Coventry prüfen die Behörden, ob Abstandsregeln gebrochen wurden, als um Mitternacht gut 100 Menschen vor einem Biergarten warteten. Und in die Freude vieler Pub-Liebhaber und der Wirte mischt sich auch der Ärger anderer Kneipiers. Nur 40 Prozent der Gaststätten könnten öffnen, hat der Branchenverband British Beer and Pub Association errechnet – die übrigen bieten nicht ausreichend Platz im Außenbereich.

Dennoch: Die Wirtschaft zeigte sich erleichtert über den Öffnungsschritt. Das legen auch Zahlen des Daten-Dienstleisters Altus Group nahe: Mehr als 400 000 Geschäfte dürfen öffnen, außerdem 20 700 Friseure, 4162 Fitnessstudios, 65 Zoos und Safariparks sowie 75 Freizeitparks. Auch Urlaub im Inland ist wieder möglich, dafür stehen 63 500 Ferienwohnungen bereit. Seit Anfang Januar hatten wegen des bereits dritten Lockdowns weitreichende Kontakt- und Reisebeschränkungen gegolten. Mehr Arbeit kommt nun auch auf die Polizei zu. In London würden die Kräfte aufgestockt, kündigte Vize-Polizeichefin Jane Connors an.

Die Aufregung um Öffnungen hat auch Politiker erreicht. Premier Johnson wollte sich bereits am Montag seinen charakteristischen Wuschel-Haarschnitt trimmen lassen. Auf sein erstes Pint muss er aber noch warten. Zwar hatte er angekündigt, gleich am Montag «langsam, aber unwiderruflich» ein Pint an seine Lippen zu führen. Wegen der Staatstrauer nach dem Tod von Queen-Gatte Prinz Philip hat er den Pub-Besuch aber verschoben.

Auch in anderen Gebieten des Vereinigten Königreichs wurden manche Regeln gelockert. Wales gestattet nun wieder nicht notwendige Reisen in andere Landesteile und in Nordirland hoben die Behörden die «Stay at Home»-Anordnung auf – Schüler gehen wieder in die Schulen. In England ist der nächste Lockerungsschritt für den 17. Mai geplant. Dann sollen Restaurants und Pubs auch ihre Innenräume wieder öffnen dürfen. Auslandsurlaub könnte dann ebenfalls wieder erlaubt werden; derzeit drohen hohe Geldstrafen. Ganz aufgehoben werden sollen die Corona-Regeln dann am 21. Juni.

Doch Premier Johnson hat angekündigt, alle Lockerungen noch einmal zu überprüfen. Mindestens 127 000 Menschen sind im Zusammenhang mit dem Virus in Großbritannien bereits gestorben – die hohe Zahl lastet auf der Regierung. Einen neuen Lockdown will Johnson unbedingt vermeiden.