Käse aus Norddeutschland – Teil 2

Familie Koll, Ostenfelder Meierei und Inselkäserei Pellworm
10. Juli 2019

Ein Gastbeitrag von Ursula Heinzelmann

Tilsiter, dessen Geschichte sich rund um die Ostsee von Russland bis nach Südschweden und hinüber an die Nordsee zieht, war in der Jugend unserer Gastautorin das Synonym für Käse. Bei Familie Koll in ihrer Ostenfelder Meierei kurz vor der dänischen Grenze entdeckt sie den Käse ihrer Jugend wieder. 

Maike und Hause Koll. Foto: Ostenfelder Meierei

Meine Großmutter lebte, als ich Kind war, in einem Städtchen in der Lüneburger Heide. Damals war local shopping kein Trend, sondern Alltag: Eine Einkaufsrunde führte vom Bäcker(Butterkuchen) über den Schlachter (am Montag geschlossen, da Schlachttag, am Dienstag Blut- und Leberwurst) und Kaufmann (persönlich bekannt, erste Ansätze von Selbstbedienung) zum stets ein wenig dunklen, kühlen, duftenden Milchladen der Molkereigenossenschaft. Dort floss der frische flüssige Stoff aus der Pumpe direkt in die eigene Kanne, wurde Quark in einen mitgebrachten Becher gewogen, während Butter bereits in Stücke abgepackt war und Käse nach Bedarf geschnitten und in große Papierbögen gewickelt wurde.

Das Käse-Angebot bestand in meiner Erinnerung vor allem aus zwei Sorten: jung und alt. Dass beides Tilsiter war, verstand sich von selbst. Jung war er mild, milchig, frühstücks- und Stullen geeignet, während der alte selbstbewusste Aromen verbreitete, die Rinde schmierig unter der dünnen Folie, und nach Aufmerksamkeit beim Abendbrot verlangte, vielleicht auch nach Bier. Tilsiter, dieser halbfeste Schnittkäs ein Quaderform, dessen Geschichte sich rund um die Ostsee von Russland bis nach Südschweden und hinüber an die Nordsee zieht, war quasi Synonym für Käse in meiner damals sehr übersichtlichen Welt. Heute sind die Milchläden verschwunden, meine Großmutter lebt längst nicht mehr, und Tilsiter ist für mich gleichbedeutend mit Familie Koll und ihrer Ostenfelder Meierei.

Heimat für Tilsiter

Ostenfeld liegt bei Husum in Schleswig, kurz vor der dänischen Grenze – ziemlich weit ab, sagt Hauke Koll, Anfang 50, schlank, kurze Haar- und Bartstoppeln, arbeitsgewohnte Hände, weiße Latzhose und Gummistiefel. Mit mir spricht er nördlich eingefärbtes Hochdeutsch, ansonsten Platt. Tilsiter ist für ihn eine Selbstverständlichkeit, den macht er hier, seit er mit seiner Frau Maike im Herbst 1993 die ein Jahr zuvor stillgelegte Genossenschaftsmolkerei gekauft hat.

Das alte Gebäude musste renoviert und neu ausgestattet werden, für viel Spielereien und Kinkerlitzchen am Kessel gab und gibt es weder Zeit noch Kapital. Und aus kollscher Sicht auch keine Notwendigkeit, die Qualität muss passen, der Preis auch, fertig. Ich kenne kaum jemanden, der so pragmatisch ist und so wenig Aufhebens um so guten Käse macht. Gekäst wird in der hellgrün gefliesten Halle der Molkerei, in einem großen Kessel in Achterform mit zwei Schneidwerken und einer noch größeren rechteckigen Wanne. 76 Quaderformen passen dort nebeneinander, über die ein Schlitten fährt und den Bruch einfüllt. Mehrmaliges Wenden, dann das Salzbad am anderen Ende der Halle und schließlich rutschen die frischen weißen Käse auf einer Rinne in den feuchtkühlen Keller, wo sie mithilfe einer einfachen Maschine mit Bürsten regelmäßig geschmiert werden. In wechselnden Schattierungen von Gelb, Rot und Weiß liegen die Käse auf langen Holzbrettern, unregelmäßig genug, um die Handarbeit erkennen zu lassen, und in ihren langen, duftenden Reihen doch so stabil und solide, wie mir als Kind die Welt bei meiner Großmutter erschien.

Jung bedeutet im kleinen Laden der Ostenfelder Meierei sechs Wochen, und das Ergebnis schmeckt genauso leise rund-milchig-säuerlich wie damals im Milchladen, die Rinde noch leicht vom Ammoniak geprägt. Vier Wochen älter und mit Kümmel, dem klassischen Tilsitergewürz (»Kümmel geht immer«, sagt Hauke Koll), nähern wir uns der Tilsiter-Perfektion. Hier mischen sich erste, noch sehr verhaltene Reifearomen des Käses mit der intensiven, beinahe anisfruchtigen Süße der länglichen Samen. Die Intensiv-Version davon behandelt Hauke Koll wie Bückware, erst auf meine Frage holt er einen neun Monate alten Block aus dem Lagerraum hinter der Verkaufstheke – hier ist das Gewürz von der Käsereife längst überstimmt, die Rinde beginnt sich kremig zu zersetzen, und ich denke sofort über nichttrockenen Weißweinnach, der dazu passen würde.

Ich kann mich nicht erinnern, ob es etwas so Extremes damals im Milchladen gab, der »alte« damals glich eher Hauke Kolls Ole Pellwormer, mit drei Monaten ein erwachsener, komplexer Käse, zuverlässig und ohne Hang zu allzu lauter Randale. Aber in der kollschen Käsetheke liegen nicht nur lange Quader wie damals im Milchladen, sondern auch runde Käse. Als ich vor zehn Jahren zum ersten Mal hier in Ostenfeld war, hießen sie noch Treenetaler und Deichgraf, feste Schnittkäse, die durch Kulturen, wie sie traditionell eigentlich dem Alpenraum vorbehalten sind, das Lieblich-Fruchtige vom Typus Bergkäse mit der Säure des Nordens verbinden.

Familie Koll auf Pellworm. Foto: Ostenfelder Meierei

Inselkäserei

2016 haben sie nicht nur ihre Namen gewechselt, sondern auch die Herkunft: Ohne viel Aufsehens haben die bedächtigen, pragmatischen Kolls wieder einen großen Schritt gewagt und die 1905 erbaute Meierei auf der Hallig-Insel Pellworm gekauft, die unmittelbar südlich von Sylt und Föhr liegt. Inselkäse mild (zwei Monate jung) und Inselkäse würzig (sechs Monate gereift) heißen die Laibe nun, die aus der Milch der rund tausend, sicher glücklichen Pellwormer Kühe entstehen, die auf der deich-geschützten grünen Hallig weiden. Und ja, sie schmecken anders als die Käse aus Ostenfeld, haben mehr Eigencharakter. Die runden Laibe ließen sich durchaus als neu interpretierte Tilsiter-Tradition verstehen. Denn dieser Käse ist ja beileibe nicht für alle Turophilen dieser Welt ein Quader, und er war es auch nicht immer. Seine – runden! – Ursprünge führen zurück in die 1820er Jahre, in das ostpreußische Städtchen Tilsit, das heute Sowjetsk heißt und in der russischen Enklave Kaliningrad an dem kleinen Flüsschen Tilszele liegt, das hier nahe der litauischen Grenze in die Memel mündet.

Dort hielt eine junge Käserin namens Westphal, geborene Klunk aus Szillen in Ostpreußen, um 1840 eine Rezeptur in schriftlicher Form fest, die wohl bereits seit längerem in der Gegend genutzt wurde, und benannte sie nach dem Ort, an dem sie, gerade frisch verheiratet, eine neue Käserei eröffnet hatte: Tilsiter. Ihr »neuer« Käse hatte eine Reihe von Vorfahren, allen voran den Brioler, eine Art Limburger, und den wohl noch älteren Werderkäse, ein sehr weicher Tilsiter (so werden sie jedenfalls beschrieben, ich glaube nicht, dass sie noch erzeugt werden). Die wiederum gingen auf holländische Mennoniten zurück, die es im 16. Jahrhundert auf der Flucht vor religiöser Verfolgung nach Westpreußen verschlug.

Die Form der Käse in den vielen kleinen Molkereien und Meiereien Ostpreußens wurde aber sicher auch von den Schweizern beeinflusst. Die kamen als Wirtschaftsflüchtlinge im 18.Jahrhundert (und später auch aus religiösen Gründen) immer zahlreicher nach Ostpreußen und hielten die Milchwirtschaft in einem Landstrich am Laufen, der Anfang des Jahrhunderts von der Pest förmlich leergefegt worden war. Sie dominierten die Branche derart, dass sich für Hirten, Stallknechte, Melker und Senner mit der Zeit herkunftsunabhängig der Begriff Schweizer einbürgerte. Fotos zeigen, dass der Tilsiter aus Tilsit noch in den 1930er Jahren rund war und ähnlich einem Alpkäse mit Tüchern ausgezogen, gepresst und geschmiert wurde. Er hatte sich langsam nach Westen ausgebreitet: Ende der 1880er Jahre ist er für das mecklenburgische Gut Raden belegt, eine milchwirtschaftliche Lehr- und Untersuchungsanstalt mit internationaler Schülerschaft, nochmals zehn Jahre später hatte er es einerseits bis nach Schleswig-Holstein geschafft, andererseits durch in die alte Heimat zurück gezogene Schweizer aber auch bis zu den Alpen, wo er sich nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Allgäu schnell ausbreitete.

Wir wissen nicht genau, wann er im Norden und im Allgäu seine runde Form verlor, klar ist aber, dass Schweizer »Tilsit« heute weiterhin rund ist und dem Appenzeller ähnelt, mit elastischem glatten Teig und nur wenigen kleinen runden Löchern, der Bruch nach gewärmt, mit Tüchern ausgezogen und gepresst. Die bis zu fünf Kilo schweren rotbraunen Laibe werden geschmiert und kommen nach drei bis acht Monaten mit trockener Rinde auf den Markt. Wie der Pellwormer Inselkäse. Einerseits Leuchtturm und Windmühle, andererseits Alpenpanorama, und beides schmeckbare Landschaften in Tilsiterform.


(Auszug aus dem Buch von Ursula Heinzelmann „Vom Käsemachen. Tradition, Handwerk und Genuss“. Insel Verlag)

 

Ursula Heinzelmann

Vom Käsemachen. Tradition, Handwerk und Genuss

235 Seiten, HC, 20 Euro, Insel Verlag