Jens Mecklenburg

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Darf man nachts in die Ostsee pinkeln? 

Ja, sagt ein poetischer Richter: „Wie ein Reh im Wald“.
20. Oktober 2023

In Lübeck hat das Amtsgericht einen Mann freigesprochen, der nach Angaben des Ordnungsamtes im Juli 2022 bei Nacht in die Ostsee uriniert hatte. In der Urteilsbegründung heißt es u.a.: Menschen haben in der freien Natur nicht weniger Rechte als Tiere.

© Ingo Wandmacher

Wie ein Reh im Wald oder eine Robbe im Spülsaum der Ostsee 

Darf man als Mensch nachts ins Meer pinkeln? Ja, hat das Amtsgericht Lübeck entschieden und danach ein schriftliches Urteil in hoher lyrischer Qualität verfasst. Den Freispruch des Wildpinklers begründet der zuständige Richter Felix Spangenberg mit Paragrafen und mit Poesie:  

„Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.“ 

Was war passiert? Während der Travemünder Woche im Juli 2022 hatten gleich drei Ordnungsamtsmitarbeiter der Stadt Lübeck einen Mann erwischt, als er sich nachts am Strand in die Ostsee erleichterte. Mit Taschenlampen sollen sie die Szene ausgeleuchtet haben. Auf der Segelveranstaltung wird gerne feuchtfröhlich gefeiert. 

Die Behördenmitarbeiter notierten als Tatzeit 0.36 Uhr, der Mann habe „im Schutze der Dunkelheit am Spülsaum des Meeres und mit dem Rücken zum Strand“ ins Wasser uriniert. 60 Euro Bußgeld sollte er zahlen „wegen Belästigung der Allgemeinheit durch eine grob ungehörige Handlung“. Juristisch wäre das eine Ordnungswidrigkeit. Der Mann weigerte sich zu zahlen, und da er weder Reh noch Hase oder Robbe und damit nicht per se strafbefreit ist, kam es im vergangenen Juni zu einer etwa einstündigen Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Lübeck. 

Dort traf der Beschuldigte auf Amtsrichter Felix Spangenberg. Den muss man sich als sprachgewaltigen wie auch lebensnahen Juristen vorstellen. Er zeigte Verständnis für „das natürliche Bedürfnis“, der Mann sei in der Nacht „allenfalls schemenhaft zu erkennen gewesen“. Dadurch könne sich niemand belästigt gefühlt haben. Unklar sei zudem, ob ihn außer den drei Ordnungsamtsmitarbeitern noch andere gesehen hätten. Und selbst wenn, so schreibt Spangenberg in seinem Urteil: Auch auf öffentlichen Herrentoiletten finde „an durchgehenden Pissoirs, an Rinnen oder sonstigen offenen Abtritten das gesellige Wasserlassen statt“.

© Ingo Wandmacher

„So ist es halt an der Küste“ 

Selbst das Schamgefühl von Frauen sei durch das Strandpinkeln nicht verletzt worden, findet der Richter, ein Wasserlassen in der Natur sei „bei Wanderungen, bei Arbeiten in Feld und Flur, bei Jägern und Pilzesammlern, bei Radsportlern und Radtourlern, bei Badenden an Seen und Flüssen und bei sonstigen naturnahen Beschäftigungen gesellschaftlich akzeptiert“. Weil es am Strand keine andere Möglichkeit gebe, als sich umzudrehen, könne sich auch das nicht zum Nachteil des Mannes auswirken. Denn, so schreibt Spangenberg: „So ist es halt an der Küste.“ 

Auch Sorgen um die Wasserqualität müsse sich niemand machen, rechnet der Amtsrichter am Ende vor; die Ostsee enthalte 21 631 Kubikkilometer Brackwasser: „Der Verdünnungsgrad wäre selbst im Wiederholungs- oder Nachahmungsfall so hoch, dass eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ausgeschlossen ist.“