Jens Mecklenburg

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Bye-bye Beilage – Wie sich in Restaurants die Esskultur verändert

Ich bin, was ich esse
19. Oktober 2024

Es war einmal in Deutschland: Schnitzel, Spargel, Bratkartoffeln. Oder: Kasseler, Grünkohl, Salzkartoffeln. Soll heißen: Unter einer ordentlichen typisch deutschen warmen Mahlzeit wurde meist ein Drei-Komponenten-Gericht verstanden. Sprich: Fleisch/Fisch, Gemüsebeilage, (kohlenhydratreiche) Sättigungsbeilage. Stirbt die letztere jetzt langsam aus? Heißt es Abschied nehmen? Bye-bye, Beilage?

© Ingo Wandmacher

Sicher ist: Die Esskultur – und das Verhalten beim Essengehen – ist im Wandel. Und zwar gleich mehrfach. Eine repräsentative Civey-Umfrage offenbarte neulich, dass knapp die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland seltener auswärts isst – «seit der Rückerhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent in der Gastronomie».

Und wer 2024 in angesagten Lokalen die Speisekarte liest, sieht öfter, dass es normaler wird, wenn etwa zum Rinderfilet, wie in teureren Restaurants in Amerika, jede Beilage extra kostet – oft tituliert als «Sides», darunter dann oft die Kohlenhydrate wie Fritten oder getrüffeltes Kartoffelpüree (oder Gemüse wie gegrillter grüner Spargel). Was ist kulturell passiert, wenn die früher selbstverständliche Beilage nur noch Option und kein «Muss» ist?

Natürlich essen immer noch Millionen Menschen Gerichte wie Roulade mit Rotkohl und Kloß. Nach wie vor servieren viele Gaststätten und Wirtshäuser Haxen und Wiener Schnitzel im traditionellen Setting. In Kantinen, Mensen, Krankenhäusern sind oft sogar noch Abteilteller aus Porzellan mit 3-fach-Unterteilung im Einsatz. Doch Jüngere haben oft längst andere Vorlieben. Im modernen Ernährungsalltag sind All-in-one-Essen aus einem tiefen statt flachen Teller angesagt. Man denke an Trends wie Bowls, arabische Küche, Asia-Food. Und Pizza, Pasta, Burger, Döner sind eh schon anders als Eisbein mit Sauerkraut.

Klassisches Komponentengericht so out wie Karstadt?

«Das lange Zeit in Deutschland übliche Drei-Komponenten-Gericht wird heute als total altmodisch wahrgenommen und von vielen als Bevormundung verstanden», sagt der Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder von der Uni Regensburg. «Festgefügte Komponentengerichte sind ungefähr so out wie die kriselnden Warenhäuser à la Karstadt.» Menschen wollten heute stets eine große Auswahl haben und erleben. Und so, wie sie im Warenhaus enttäuscht seien, wenn es nur zwei Regale mit Jeans gebe, statt vieler Dutzend Modelle, so könne sich Enttäuschung breit machen, wenn die Speisekarte zu viel festlege.

«Die jüngere Generation findet es oft befremdlich, dass jeder am Tisch das Gleiche bekommen soll. Essen ist zum Ausdruck der eigenen Persönlichkeit geworden. Wir haben pseudo-individualisierte Ernährungsstile», sagt Hirschfelder. «Meist ist es eine Scheinwahl. Am Ende ist es völlig egal, ob ich Reis oder Nudeln nehme.» In den 80ern hätte eine Debatte über Beilagenvorlieben noch als bourgeois und versnobt gegolten, meint der Buch-Autor («Europäische Esskultur: Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute»).

«Wenn Sie in den 80ern in ein bürgerliches Lokal gegangen sind oder zum Griechen, dann haben Sie nicht die ganze Zeit gesagt, was Sie weglassen wollen oder extra haben wollen oder was Sie nicht vertragen. Außerdem gab es noch die gesellschaftliche Strömung, die Kindern und Jugendlichen beibrachte „Du isst, was auf den Tisch kommt“.» Ein Restaurantbesuch sei per se toll zu finden gewesen und Kinder hatten Schnitzel mit Pommes zu nehmen – und gut war. «Das würde ja heute als totale Zumutung verstanden werden.»

© Jagdhaus Eiden

Wenn schon nicht die Welt verändern, dann wenigstens mein Essen

Um Deutschlands frühere Esskultur zu erklären, holt Hirschfelder etwas aus. Nach dem beschämenden Weltkrieg habe es eine «nivellierte Mittelstandsgesellschaft» gegeben, wie es einst der Soziologe Helmut Schelsky charakterisierte. «Man saß gesellschaftlich in einem Boot, symbolisch auch an einem Tisch, man pflegte eine Ernährung unter den ökonomischen Möglichkeiten, fiel lieber nicht mit einem extravaganten Geschmack auf. Und gerade Kartoffeln als Sättigungsbeilage waren symbolisch aufgeladen.» 

Wichtiger als das, was auf den Tisch kam, seien alles in allem materielle Konsumgüter gewesen, aber auch Reisen und Wohnen waren bedeutungsvoller als die Nahrungsaufnahme. Das änderte sich erst nach dem Ende der DDR und der alten BRD, sagt Hirschfelder.

In den letzten rund 30 Jahren entfalteten sich in der Wohlstandsgesellschaft nach dem Kalten Krieg neue Weltanschauungen – oft entlang des Leitnarrativs «Ich bin, was ich esse». «In einer globalisierten Welt ist Ernährung eine Komplexitätsreduktion, deshalb nehmen viele sie so wichtig.»

Derzeit sei eine Rückkehr politischer Ideologien zu beobachten, im Alltag dauere aber noch die Überbewertung des Essens an, meint der Kulturwissenschaftler. Es sei nach wie vor wichtig, was man esse und was man nicht esse, es gehe etwa um veganen Lifestyle, Low Carb oder möglichst exotische Kost. «Das Motto scheint zu sein: Wenn ich schon die Welt nicht verändern kann, dann kann ich wenigstens verändern, was auf meinem Teller ist.»

© Freitag