Jens Mecklenburg

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Bettgeschichten – Vor 250 Jahren eröffnete das erste Grandhotel. Von der Demokratisierung des Reisens

22. Januar 2024

Ein warmer Ziegelstein im Daunenbett und eine Schüssel wohlriechenden Wassers auf dem Zimmer: Für Reisende ist das im ausgehenden 18. Jahrhundert in Europa purer Luxus. Mit erdacht hat dieses Wohlgefühl seinerzeit der Perückenmacher David Low, der am 25. Januar 1774 – vor 250 Jahren – in London ein «Grand Hotel» eröffnete. Das Haus in der King Street am Covent Garden gilt als die erste Luxusherberge unter diesem Namen.

Für seine Geschäftsidee lauscht Low der Legende nach beim Frisieren seiner vermögenden Kundschaft, die sich über Läuse, Bettwanzen und stinkende Aborte in Gasthöfen echauffierte. Low ist damals wohl das, was heute Trendsetter heißt: Um 1800 beginnt in Europa eine Ära, in der das Reisen langsam wieder zum Vergnügen wird – wenn auch noch lange nicht für jedermann.

„Alle Welt reist“

«Alle Welt reist», notiert der Schriftsteller Theodor Fontane ein Jahrhundert nach David Low. «So gewiss in alten Tagen eine Wetterunterhaltung, so gewiss ist jetzt eine Reiseunterhaltung.»

Es ist eine Passage, die den Soziologen und Historiker Hasse Spode zum Schmunzeln bringt. «“Alle Welt“ entsprach natürlich nur Fontanes eigenen gehobenen Kreisen», sagt der Leiter des Berliner Historischen Archivs zum Tourismus. Dennoch ist Fontanes Reiseplauderei ein Indiz dafür, in welchem Tempo sich Vergnügungsreisen nach der «Grand Tour» des Adels – einer Art standesgemäßer Bildungsverpflichtung – im 19. Jahrhundert auch im Bürgertum durchsetzen. Reisende, das waren bis in die Zeit der Weimarer Republik höchstens zehn Prozent der Bevölkerung, schätzt Spode.

Reisen war unbequem und gefährlich

So selbstverständlich wie heute ist Reisen lange Zeit nicht. «Wer nicht unterwegs sein musste, ließ das lieber», ergänzt Spode. Er geht davon aus, dass vor allem im Mittelalter weniger als ein Prozent der Bevölkerung freiwillig unterwegs war. Denn mit dem Untergang des Römischen Reichs bricht auch die einst vorzügliche Verkehrsinfrastruktur zusammen. «Es gab kaum befestigte Straßen, noch weniger Brücken und auch keine gefederten Kutschen mehr», ergänzt er.

Dazu ist Reisen damals gefährlich. Im Wald, da sind die Räuber – das ist bis ins späte 17. Jahrhundert weder ein Witz noch ein Märchen. «Erst um 1800 brachen in Europa friedlichere Zeiten an», berichtet Spode. Postkutschen fahren regelmäßig und bald gibt es wie zur Römerzeit alle 30 bis 50 Kilometer einen Gasthof für den Pferdewechsel mit einer Übernachtungsmöglichkeit.

Dem Geschmack der vermögenden Reisenden entsprechen die simplen Unterkünfte und gemeinsame Mahlzeiten mit dem einfachen Volk wenig. «Es gab den Ratschlag, sich zu bewaffnen und Vorhängeschlösser für die Zimmer mitzunehmen», sagt Spode. Er hält es für glaubwürdig, dass David Low in dieser Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts den Begriff Grandhotel erfunden hat. Denn in den Städten entstehen damals immer mehr unbefestigte Adelspalais mit großen Fenstern, die auf Französisch «hôtel» heißen. Low mietet solch ein Haus, lässt es umbauen und verschuldet sich dabei wohl zu hoch. Trotz seiner guten Geschäftsidee soll er in Armut gestorben sein.

Blütezeit ist die Belle Èpoque

Das Londoner Palais steht noch heute und beherbergt im Moment eine Luxus-Kosmetikmarke und sündhaft teure Apartments. Auch Lows Wortschöpfung für eine luxuriöse Unterkunft überlebt. Grandhotel – dieser Begriff steht schnell für Neubauten mit einer gewissen Großartigkeit. Als eines der ersten Häuser dieser Art in deutschen Landen eröffnet 1807 der Badische Hof in Baden-Baden. Die Belle Époque der deutschen Kaiserzeit gilt als Blütezeit der Grandhotels.

«Das waren Häuser, die mit einer Palastarchitektur den Luxus und Geschmack ihrer Zeit widerspiegelten», sagt Tobias Warnecke, Geschäftsführer des Hotelverbands Deutschland (IHA). Zu den Annehmlichkeiten gehören damals eine Gourmetküche, erstmalig fließend warmes und kaltes Wasser auf den Zimmern und bisweilen ein eigenes Bad und WC. Das ist mehr Komfort als in vielen Schlössern dieser Zeit. Kaiser Wilhelm II. soll von den Duschen im Berliner Luxushotel Adlon, das 1907 eröffnete, beeindruckt gewesen sein.

Für Warnecke sind Grandhotels auch Ort einer kleinen Revolution in der hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft. Denn dort öffneten sich die Klassenschranken, Adel und gut betuchtes Bürgertum logierten gemeinsam. Grandhotels mit ihren Ballsälen, Bädern und Gärten werden zu einem Zentrum des gehobenen gesellschaftlichen Lebens, zum Ort für Geschäfte, Sehen und Gesehenwerden, Klatsch und Tratsch und auch so manchen kriminellen Akt. Das Hotel als faszinierende Bühne hinterlässt bald auch Spuren in der Literatur – im Hotelroman. Im 20. Jahrhundert folgen Kinofilme und TV-Serien.

Reiseangebot hat sich wenig verändert

Tourismusforscher Spode kann gut beschreiben, wie Grandhotels bis heute einen gekonnten Spagat hinlegen: «Sie schaffen es, dem Gast auch bei Hunderten von Zimmern Individualität und Fürsorge vorzuspielen – in Wirklichkeit ist es ein industrialisierter Betrieb wie eine Fabrik.» Techniker, Köche oder Zimmermädchen bleiben oft im Verborgenen. Spode nennt die reichen Reisenden des 18. und 19. Jahrhunderts «Touristenklasse». Mit neuer Infrastruktur wie der Eisenbahn sei für sie ein anderer Lebensrhythmus entstanden – mit Sommerfrische und Winterquartier. Das Angebot habe sich bis heute weitgehend gehalten: Strand oder Berge, Abenteuer oder Entspannung, gern auch mal Kunst gucken. Wobei es dafür auch andere Quartiere gibt als ein Grandhotel.

Der Erste Weltkrieg ist ein jäher Einschnitt in dieser Erlebniswelt. Grandhotels scheinen damals aus der Zeit zu fallen. Die Idee von «Urlaub» setzt sich langsam in breiteren Gesellschaftsschichten durch, die Nationalsozialisten locken mit Massenquartieren wie in Prora auf Rügen. Nach dem Zweiten Weltkrieg reist bald schon die Hälfte der Deutschen, heute sind es nach Berechnungen des Statistikamtes der Europäischen Union knapp 80 Prozent.

Luxus hat sich gewandelt

Wofür stehen Grandhotels in der Gegenwart? Tobias Warnecke verbindet damit historische Architektur, individuellen Service und hochwertige Kulinarik. Geschützt sei der Begriff jedoch nicht, sagt er. In Deutschland gebe es heute 119 zertifizierte Luxushotels mit 5 Sternen, davon seien 78 in der gehobenen Liga 5 Sterne Superior. Doch nur wenige nennen sich noch Grandhotel. Für Karina Ansos, Direktorin des wiederaufgebauten Berliner Adlon Kempinski am Brandenburger Tor, gehört zu einem Grandhotel eine Vision, eine Geschichte, ein markanter Bau, eine exklusive Ausstattung und ein erstklassiger Service mit einem hohen Personalschlüssel.

Der Begriff von Luxus hat sich in Ansos Augen gewandelt. «Das definiert sich heute nicht allein über die Ausstattung, sondern über personalisierten Service», sagt sie. «Die große Kunst ist es, Wünsche zu erahnen, bevor der Gast sie überhaupt weiß.» Im Adlon gibt es noch Berufe, die immer seltener werden: Butler wie Ricardo Dürner, Wagenmeister wie Sebastian Großmann und Bellboys, die sich um die Koffer kümmern. Die Chefin wohnt in der sechsten Etage.

Staatsgäste und Prominente hätten zwar andere Sicherheitskriterien und Abläufe – aber sonst sei jeder Gast König, versichert Ansos. Eine Nacht im Adlon gönnten sich heute nicht allein vermögende Menschen. Es gebe auch Gäste, die sich zum Beispiel zum Hochzeitstag etwas Besonderes leisten wollten. Wissenschaftler Hasso Spode sieht das ganz ähnlich: 250 Jahre Grandhotel – das erzähle auch die Geschichte der Demokratisierung des Reisens, sagt er.