Arbeitseinsatz auf Sylt: „Cranberry-Rausrupfen“ und essen

17. November 2024

Dumpf dringt die Stimme von Christine R. an einem trüben Novembertag durch das Dünental auf Sylt: «Ich fühle mich wie eine Forke», sagt die Sylt-Urlauberin. Ächzend zieht sie mit Handschuhen eine lange Cranberry-Ranke und verholzte Pflanzenstücke zwischen Heide und Krähenbeere aus dem feuchten Boden. 

Die 58-Jährige aus Heidelberg nimmt gemeinsam mit ihrem Mann an einer besonderen Naturschutz-Aktion in Hörnum teil. Beim Arbeitseinsatz «Cranberrys-Rausrupfen» wird ein kleiner Bereich im Inselsüden von der invasiven Cranberry befreit. 

«Wenn wir die Ranken nicht rupfen, würden die anderen Pflanzen darunter von der Cranberry überwuchert – wir können es so eindämmen», sagt Luca Zaruba der Deutschen Presse-Agentur. Die aus Nordamerika stammende Cranberry überwuchert seit Jahren die Dünentäler auf Sylt und verdrängt dabei heimische Pflanzenarten. 

Der 19-Jährige aus Ingolstadt absolviert ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) in der Naturschutzgesellschaft Schutzstation Wattenmeer auf Sylt. Zu seinen Aufgaben auf der Insel gehören Führungen durch Watt, Dünen und Salzwiesen, Vogelzählungen und auch die Cranberry-Aktion. 

Cranberry verdrängt Pflanzen auf Sylt

Sechs Mal pro Jahr findet die «Cranberrys-Rausrupfen»-Aktion im Oktober und November auf der Insel statt – immer dann, wenn die Beeren reif sind. Teilweise kommen bis zu 20 Helfer, die meisten von ihnen seien eher älter, erklärt Zaruba. Mit Beginn der Nebensaison jetzt im November nehme die Zahl der Teilnehmer ab. 

Zwischen den orangen und gelben Blättchen der Cranberry-Pflanzen leuchten die dunkelroten und knallroten Beeren. Nach ihrem Arbeitseinsatz dürfen die Helfer einige der Vitamin-C-haltigen Früchte pflücken und in mitgebrachten Gefäßen mit nach Hause nehmen – das ist im Schutzgebiet normalerweise verboten. 

Während Christine R. hockend Beeren erntet, schmatzt der sumpfige Boden bei jedem Schritt unter ihren Schuhen. Sie plane die Früchte zu trocknen und im Müsli zu essen, sagt die Urlauberin.

Erfolge auf Sylt sichtbar

«Das Hauptziel ist es, die Ranken reinzuholen, damit diese nicht von Dünental zu Dünental wandern – das geht händisch am besten», betont Angela Schmidt, Biologin und Stationsleitung der Schutzstation Wattenmeer auf Sylt.

Die Cranberry-Pflanze verbreitet sich der Biologin zufolge nicht nur über die Beeren, sondern vielmehr über die Ranken und diese wuchern inzwischen in fast jedem Dünental der größten deutschen Nordseeinsel. 

Die langen, dünnen Ausläufer der Moosbeeren müssen laut Schmidt mit der Hand aus dem Boden gezogen werden, um deren Ausbreitung einzudämmen und seltenen Pflanzen wieder Freiraum zu geben. Wegen der Naturschutzbestimmungen könnten nicht an allen Orten auf Sylt Cranberryranken mit Gästen und Syltern gerupft werden.

In dem Gebiet in Hörnum aber wird seit 2015 gearbeitet – mit Erfolg. «Heimische Pflanzen, die unter der invasiven Cranberry wachsen, bekommen wieder Platz, um sich auszubreiten», so die Biologin. «Der Sonnentau ist zurück und auch für Zwergbinse und Sumpfbärlapp ist wieder Platz.» Alles stark gefährdete Pflanzen, die nur hier in den feuchten Dünentälern wachsen und sonst an nur wenigen weiteren Orten in Norddeutschland. 

Wie kam die Cranberry von Nordamerika nach Sylt?

«Das ist nur die Spitze des Eisbergs, an der wir hier ziehen und rupfen», macht Schmidt deutlich. Aber aufzugeben sei keine Option für sie: «Wir sehen, dort wo wir aktiv sind, dass man erfolgreich etwas tun kann.» 

Wie und wann die Cranberry von Nordamerika nach Sylt kam, ist unklar. «Die Seefahrer wussten früher schon, dass die Cranberry ein Superfood ist und nahmen die Vitamin-C-reiche Beere gegen Skorbut mit auf ihre langen Reisen. Vielleicht ist davon ein Fass über Bord gegangen und wurde durch Vögel verbreitet», sagt Schmidt. 

Genaue Aufzeichnungen darüber, ob sie als Vitamin-C-Quelle auf Schiffen oder durch Vögel nach Sylt gekommen sind, seien bisher nicht gefunden worden. Um 1980 sei die Pflanze erstmals entdeckt worden – auf die Insel war sie laut der Expertin aber vermutlich schon früher gekommen. 

Sylter Koch bringt Cranberrys auf den Tisch

Ein Sylter Spitzenkoch verwendet die in Deutschland auch als Moosbeere bekannte Cranberry seit rund zehn Jahren in seiner Küche. «Es ist toll, dass die Insel uns so etwas schenkt. Wir setzen uns intensiv mit den Ressourcen der Inseln auseinander – was ist invasiv und wo kann man der Natur etwas Gutes tun», sagt Sternekoch Jan-Philipp Berner. 

Auf den Tisch kommen die roten Beeren bei ihm im Herbst im gesamten Menü. In Desserts wie Petit Four, eingelegt zu Wildgerichten, als Chutney zu Käse oder als mit Sauerteigkultur fermentierter Trunk in Aperitifs. Nächste Woche stehe eine Vorspeise mit einer Marinade aus Walnuss und Moosbeere auf der Karte, so der 36-Jährige. «Wir wollen die Insel schmeckbar machen, Moosbeeren gibt es auf dem Festland nicht.»

Dabei geht es ihm auch darum, den Gästen über seine Speisen ein Grundwissen über die Produkte der Insel zu vermitteln. «Denn nur, wenn ich dieses Wissen habe, kann ich auch darauf achtgeben – das Gleichgewicht muss stimmen», sagt Berner. Er leitet das Restaurant im luxuriösen «Söl‘ring Hof» in Rantum, mittlerweile als einziges Restaurant der Insel mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. 

Die Beeren pflückt er entweder per Hand mit seinem Team oder er wartet auf Regen: «Im optimalen Fall hat es stark geregnet, wenn die Moosbeeren reif sind, dann schwimmen sie oben und ich sammele sie mit dem Kescher meiner Tochter ein.»

Jan-Philipp Berner © Söl’ring Hof

Cranberrys in St. Peter-Ording werden mit Baggern gerupft

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts breitet sich die Cranberry laut Biologin Sabine Gettner auch in den Dünentälern von St. Peter-Ording (Kreis Nordfriesland) aus und bedeckt heute rund 90 bis 100 Prozent der Flächen. Als Naturschutzreferentin ist sie im Projekt «Sandküste St. Peter-Ording» aktiv. «Die seltenen Arten, die wir von Aufzeichnungen kennen, sind heute komplett verschwunden und seltener geworden», stellt die Expertin fest.

Im großen Stil werden in St. Peter-Ording daher seit einigen Monaten Cranberrys entfernt. Mit einem Bagger wird vorgearbeitet und dann per Hand gesammelt und gerupft. Die Bemühungen sind Gettner zufolge erfolgreich: «So langsam kommt es in Gang – wir haben jetzt wieder offene Dünentäler, in denen eine Vielfalt wächst und nicht nur eine Art.»