Thieles Garten in Bremerhaven

Künstlerische Idylle mit märchenhaften Zügen
3. April 2021

Ein Beitrag von Wolfgang Holmer

Die Brüder Thiele stammten aus einer Schifferfamilie; doch von Kindesbeinen an schlug ihr Herz für Kunst und Musik. Mit der Fotografin Grete Itzen schufen sie in den 1920er Jahren in Bremerhaven „Thieles Garten“: ein künstlerisches Idyll mit märchenhaften Zügen – ein Rückzugsort, auch in Corona-Zeiten.

Eine Besonderheit, die man in einer Stadt so nicht erwartet: Thieles Garten in Bremerhaven verzaubert mit Natur, Kunst und Kultur seine Besucherinnen und Besucher. © WFB/Jens Lehmkühler

Der Gang durch das Gartentor ist wie der Schritt in eine andere Welt. Eben lärmten noch die Autos auf dem Mecklenburger Weg, der Erschließungsstraße für ein Wohngebiet im Norden Bremerhavens. Jetzt kehrt Ruhe ein, unterbrochen nur durch das Zwitschern einer Vielzahl von Vögeln in Frühlingsstimmung. Sie flattern zwischen Ästen und Zweigen, aus denen die ersten Blätter sprießen. Wer im Alltag auch oder vor allem in Corona-Zeiten für einen Augenblick Entspannung finden möchte, ist in „Thieles Garten“ bestens aufgehoben. „Diese Anlage ist schon eine Besonderheit, etwas das man hier in der Stadt nicht so erwartet“, sagt Doris Paula Baumgardt-Ackermann, Vorsitzende des Fördervereins Thieles Garten, „es ist auch nicht nur einfach eine Gartenanlage, sondern ein Kunstwerk.“


Ein Park voller Geschichten aus Kunst und Kultur

Angelegt wurde der beinahe zwei Hektar große Park von Gustav und Georg Thiele sowie Georgs Ehefrau Grete. Die 1877 und 1886 geborenen Brüder stammten aus einer Familie von Binnenschiffern mit musikalischen Ambitionen. Der Vater war Virtuose auf der Handharmonika, sein ältester Sohn Fritz strich die Geige und klapperte mit Kastagnetten; der acht Jahre jüngere Gustav spielte Flöte: Zusammen bildeten sie die „Friesenknabenkapelle“. Der jüngste Sohn Georg war noch zu klein fürs Musizieren. Noten kannte keiner von ihnen, genauso wenig wie die wahren Titel ihres Repertoires. 
Die Schifffahrt auf der Weser musste die Familie irgendwann im aussichtslosen Konkurrenzkampf mit der Eisenbahn nach Bremen aufgeben. Während Fritz dem Wasser als Schlepperkapitän im Hafen treu blieb, waren Gustav und Georg noch zu jung zum Arbeiten: „Aber sie wollten damals schon Künstler werden“, berichtet Baumgardt-Ackermann. Gustav träumte vom Dasein als Bildhauer, Georg hatte Ambitionen als Maler.


Ein gescheitertes landwirtschaftliches Experiment ebnet Weg zum Skulpturengarten

Auf Umwegen kamen beide zum Ziel. Gustav lernte zunächst das Schnitzen von Galionsfiguren. Weil statt der Segelschiffe aber immer mehr Dampfer fuhren und die Figuren am Bug aus der Mode kamen, sattelte er um und wurde Lehrling der „Bremerhavener-Theater-Capelle“. Dort lernte er Noten und das Geigenspiel. Georg absolvierte eine Fotografenlehre, Gustav interessierte sich ebenfalls für Fotografie. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eröffneten sie schließlich gemeinsam ein Fotogeschäft – mit handkolorierten Fotoabzügen verdienten sie gutes Geld. 

1923 kauften sie das erste Drittel des heutigen Skulpturengartens. „Da sprach der Familiensinn aus ihnen, denn das Grundstück sollte ihr Bruder Fritz als Ackerland bekommen“, erzählt die Vorsitzende des Fördervereins. Doch Schiffer Fritz war offenbar nicht zum Bauern geboren – das landwirtschaftliche Experiment sollte schief gehen. Der Erwerb des Grundstücks samt marodem Haus mitten in der damaligen Einöde der „Leher Haide“ – heute der dicht bebaute Bremerhavener Stadtteil Leherheide – erwies sich dennoch als Glücksgriff. Georg Thiele hatte begonnen, Skulpturen zu gestalten – zunächst klein und aus Gips und Draht, aus Mangel an Geld später aus Ziegelbrocken und Mörtel statt aus Bronze und Marmor. Eine Kunstschule hatte weder er noch sein inzwischen malender Bruder besucht. Aber der Wille beim künstlerischen Gestalten der Thieles war offenkundig ähnlich groß wie der beim Fotografieren.

Ein Kleinod: Doris Paula Baumgardt-Ackermann, Vorsitzende des Fördervereins Thieles Garten, widmet im Ehrenamt unter der Woche täglich ihre Zeit dem Park. © WFB/Jens Lehmkühler


Die Brüder lernten ihre Mitstreiterin Grete Itzen auf ihren Fototouren kennen

Mühsam buckelten die beiden mit der schweren Plattenkamera durch Heide und Stadt. Zumindest Georg verlieh die Liebe dabei offenbar Kräfte: Die beiden Brüder lernten bei ihren Fototouren Grete Itzen kennen. Die junge Frau war ebenfalls autodidaktische Fotografin, sie erlernte weitere Bildtechniken von den Brüdern, dabei verliebte sie sich in den Jüngeren. Grete und Georg heirateten – und gingen mit Gustav an ihr künstlerisches Schaffen. „In der Zeit sind ganz viele der bis heute erhaltenen Werke entstanden“, weiß Baumgardt-Ackermann. Nach und nach erweiterten sie den Garten neben ihrem Wohnhaus auf die heutigen 19 000 Quadratmeter und gestalteten ihn mit exotischen Bäumen, verspielten Skulpturen, verschlungenen Pfaden und schilfbewachsenen Teichen. 


„Grete Thiele war eine wunderhübsche Frau“

Rund 50 Einzelwerke und Gruppen sind bis heute in Thieles Garten zu sehen. Beim Rundgang tauchen zwischen Bäumen und Büschen immer wieder die von Gustav geschaffenen Skulpturen auf: Zwei Jungen spielen Fußball, Elfen tanzen an einem Brunnen, an einem anderen werden drei junge Menschen von einer Kobra beobachtet. Auf einem Findling hockt derweil ein Waldgeist, der das ganze Geschehen mit einer gewissen Heiterkeit beäugt, als habe er das in Stein geformte Werk selbst inszeniert. 
Die Werke scheinen teils einer Traumwelt zu entspringen und teils einer Unbeschwertheit zu folgen, die vielleicht kennzeichnend für die späteren 1920er und die frühen 1930er Jahre war. Eins ist in dem märchenhaften Getümmel nicht zu übersehen: Grete hat offenbar ihrem Schwager immer wieder und gerne Modell gestanden. „Sie war eine wunderhübsche Frau“, betont die Vorsitzende des Fördervereins. Für die Skulpturen spielender Kinder standen Bewohner der wachsenden Nachbarschaft in Leherheide Modell. „Einige dieser Modelle leben heute noch.“

Traumwelt aus vergangenen Zeiten: Steingewordene Elfen und Waldgeister bevölkern Thieles Garten in Bremerhaven. © WFB/Jens Lehmkühler


„Es ist eben ein Kleinod“

Auch wenn der Garten nach dem Tod der Thieles der Stadt Bremerhaven gehört und vom Gartenbauamt gepflegt wird, ist sein Erhalt in erster Linie dem Förderverein zu verdanken. Seit Jahrzehnten kümmert er sich um das Erbe der Thieles, hat die Kunstwerke behutsam aus dem Dornröschenschlaf zwischen wuchernden Pflanzen hervorgeholt und vom Moos der Jahrzehnte befreit. Doris Paula Baumgardt-Ackermann ist seit rund zehn Jahren die Vorsitzende; der Zufall hat sie in den Garten und in den Verein geführt. Was fasziniert sie im Detail an Thieles Garten so, dass sie im Ehrenamt unter der Woche täglich ihre Zeit dem Park widmet? Wie jedem Besucher fällt es ihr schwer, das konkret auszudrücken: „Es ist eben ein Kleinod.“


Förderverein betreibt den Garten ohne öffentliche Zuschüsse

Das Interesse an dem Idyll mit märchenhaften Zügen hat dabei auch wirtschaftliche Aspekte. Der Pavillon im Garten mit der angrenzenden Pergola kann gemietet werden – für Tagungen genauso wie für Familienfeiern. Brautpaare können sich hier trauen lassen. Der Förderverein veranstaltet regelmäßig Jazz-, Swing- und Soul-Konzerte. Unterm Strich führt das dazu, dass der Parkbetrieb ohne öffentliche Zuschüsse auskommt, sagt die Vorsitzende. Zurzeit ist es allerdings ruhig geworden. Wegen der Corona-Pandemie musste der Verein Veranstaltungen absagen. Aber die Stille stört die Park-Besucherinnen und Besucher nicht, im Gegenteil. Gleich hinter dem Gartentor macht sich das wohltuende Gefühl breit, dass die Zeit wenigstens für einen Moment still zu stehen scheint.